
Karo Lynn hätte es sich einfach machen können. Die 25-jährige Musikerin aus Leipzig präsentierte sich auf ihren bisherigen, 2016 beziehungsweise 2020 erschienenen Alben „Frames“ und „Outgrow“ als talentierte Singer/Songwriterin mit sympathischem Indie-Touch, heimste kleinere Preise ein und hätte mit einer Fortsetzung des Ganzen wahrlich keinen Irrweg beschritten. Glücklicherweise lebt die Musikwelt jedoch nicht immer im Konjunktiv der verpassten Möglichkeiten. Daher wagte sich Karo Lynn für den Nachfolger „A Line In My Skin“ entschlossen heraus aus einer Ecke, in der es zwar gemütlich, aber vielleicht auch irgendwann verdammt langweilig geworden wäre. Viel mehr noch als auf den ersten Werken steht dabei ihre Stimme im Vordergrund – mit Blick auf die elf neuen Songs und deren Charakter scheint das eine fast zwangsläufige Entscheidung. Denn wenn es hier ein faszinierendes Alleinstellungsmerkmal gibt, dann ist es ihre Darbietung am Mikrofon, dieses dunkle Timbre, schwärzer, tiefer und geheimnisvoller als der Störmthaler See bei Nacht.
Eventuell mag es ja auch an der Entstehung während Pandemie, Lockdowns und Co. liegen, dass sich nun eine fast beklemmende, in jedem Moment vollumfänglich majestätische Düsternis über die Musik von Karo Lynn legt, beinahe so als würde k.d. langs kleine Nichte Hope Sandovals Platz bei Mazzy Star einnehmen – selbstbewusster Dream Pop statt schüchterner Indie Folk, anschmiegsamer Dark Pop, der den feinmaschigen Strickpullover dem Karohemd vorzieht. „When All Is Still The Same“, dieser starke Opener des Ganzen, bringt die nachdenkliche Stimmung denn auch direkt auf den Punkt: „I can’t complain / I’m used to it being dark / It refracts the rays / I got caught in circles“. Dieses Kreisen um sich, diese innerlich reflektierende Einkehr trägt sie mit großer Intensität vor, und man hört – trotz der fühlbaren Schwere – gerne zu. „Elephant“, das sie gemeinsam mit Johanna Amelie im Duett singt, paart die Probleme der Zweisamkeit mit der Erzählung großer Zusammenhänge: „I don’t know why you say that / You’re not even close to me / Do I seem indifferent?“, heißt es dort zunächst, und später: „How come you don’t see it? / It’s not a lie, it’s all getting worse / In truth we’re ruining the earth / You know an elephant died for your new table?“.
Freilich hat Karo Lynn, die Mathematik und Physik auf Lehramt studierte und derzeit an einem Gymnasium unterrichtet, mit dem Entwurf eines neuen Soundoutfits, bei dem ihr ihr Schlagzeuger und Produzent Cornelius Miller mit Rat und Tat zur Seite stand, einen großen, durchaus mutigen Schritt gewagt. Dennoch bekommt die Hinzunahme elektronischer Elemente dem Gesamtklang den neuen Stücken überaus gut, und ihre Qualitäten als Songwriterin dürften Eingeweihten spätestens seit „Outgrow“ bekannt sein. Daher weiß sie eben auch, wie sie mögliche Eintönigkeit clever umgehen muss. Das gilt für die Platte als Ganzes, der man Karo Lynns Vorbilder wie Ben Howard, Daughter, Bon Iver oder The War On Drugs durchaus anhört, aber auch innerhalb einzelner Titel – die Mischung aus ruhigen Passagen und kleineren Ausbrüchen wie in „You Inside Me“ sei als ein Beispiel genannt. „It’s Breaking The Ice“ zeigt ihre Stimme anschließend wieder in ihrer ganzen Schönheit, „The City Soaked In Gray“ greift zum monumentalen Ansatz. Im letzten Drittel überzeugt eine weitere Kollaboration, wenn sich Michael Benjamin dazugesellt und in „When I Think I’m Close“ einen überzeugenden Gesangspartner darstellt. „Right Words“ schließt kurz vor Schluss mit angenehmem Schwung wieder mehr an ihre ursprüngliche musikalische Ausrichtung an, bevor „Sun Hues On Water“ Karo Lynns insgesamt durchaus geheimnisvollen dritten Langspieler zu einem stimmigen Ende bringt.
Alles in allem ist „A Line In My Skin“ eine feine Angelegenheit geworden, welche man am besten unter gedimmten, warmweißen Deckenflutern und mit der selten schöner gefühlten Gewissheit, dass sich das kleine Glück auch auf einer Couch und unter einer Decke finden lässt, genießt. Zudem beweist das Album, dass nicht alle Künstler*innen dem oft genug beschworenen Berlin-Hype folgen müssen und ihre kreative DIY-Erfüllung ebenso gut in einer anderen Stadt im Osten der Bundesrepublik finden können.
Rock and Roll.