Schlagwort-Archive: Folk Rock

Song des Tages: Dan Mangan – „In Your Corner (for Scott Hutchison)“


Nach etwa zwei Jahren Funkstille meldet sich der kanadische Folk-Rock-Singer/Songwriter Dan Mangan mit der neuen Single „In Your Corner (for Scott Hutchison)“ zurück. Und dieser Song ist nicht irgendeiner, sondern – wie der Titel es bereits vermuten lässt – eine Hommage an den 2018 zu früh verstorbenen Frightened Rabbit-Frontmann Scott Hutchison.

Mehr dazu verrät der Musiker aus Vancouver in einem Statement: „Zwar sind wir uns nur einmal begegnet, aber Scotts Tod hat mich tief getroffen. Er war in meinem Alter und sehr eng mit einigen lieben Freunden von mir befreundet. Entweder konnte er nicht sehen, wie sehr er von der Welt geliebt wurde, oder er fühlte sich dieser Liebe nicht würdig. Wie kam es, dass er so vielen Menschen Freude bereiten konnte, aber sich selbst nicht? Ich erinnere mich, dass ich weinte, als ich an jenem Morgen Müsli für meine Jungs machte… Dieser Song entstand sehr schnell in den darauffolgenden Tagen.“

Die zarte Akustikballade wurde von Drew Brown (Radiohead, Beck, Blonde Redhead) produziert und ist, mehr oder minder, als Antwort auf den Frightened Rabbit-Song „The Woodpile„, Dan Mangans erklärtes Lieblingsstück der schottischen Indie Rock-Band, zu verstehen, welcher die Textzeile „Will you come back to my corner? / Spent too long alone tonight“ enthält. Zudem soll er auf das Thema Depressionen aufmerksam machen.

Obwohl Mangans jüngstes Album mit neuem Material – „More Or Less“ von 2018 – bereits etwas länger zurückliegt, war der Kanadier in den letzten Jahren nicht komplett untätig, veröffentlichte seitdem Zehn-Jahres-Jubiläumsausgaben seiner Alben „Nice, Nice, Very Nice“ und „Oh Fortune„, das Coveralbum „Thief“ sowie den Anti-Trump-Protestsong „There’s A Tumor In The White House„.

„Why
Why can’t the seer see a way out?
When they drown in information
When they’re stranded at the station
When they’re filmed against a fadeout

Now we’re crying in the shower
Crying in the carpark
Crying in the office towers
They were trying not to get dark
Trying hard to fight that darkness
Trying not to count the hours

So come find us if you can
We’ll be unified and sad
We’ll be in your corner
Leave a light on when it’s bad
We will congregate and make a plan
And we’ll be in your corner
We’ll all be in your corner

What
What leads the best of us to suffer?
Do they know their pain and write it down
To help the rest of us recover?

We’re crying in the shower
Crying in the carpark
Crying in the office towers
Yeah, we were trying not to get dark
Trying hard to fight that darkness
Trying not to count the hours

So come find us if you can
We’ll be unified and sad
We’ll be in your corner
Leave a light on when it’s bad
We will congregate and make a plan
And we’ll be in your corner
We’ll all be in your corner

Leave a light on if you can
Till it’s crystal-clear
And do you understand?
We’ll all be in your corner

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Frank Turner – FTHC (2022)

-erschienen bei Polydor/Universal-

War es eine Prophezeiung? „Hey-ho, hey-ho, hey-ho / We’re heading out for the punk rock show!“ rief Frank Turner einem vor knapp zehn Jahren freudig auf „Four Simple Words“ entgegen, auf der bis dahin potentiell schnellsten und lautstärksten Nummer in seinem bisherigen Solo-Katalog. Und höre da – nach Jahren der Verdichtung der Formel des akustischen Folk-Punks – mal lauter, mal introvertierter – nimmt er einen auf Album Nummer neun nun tatsächlich zur waschechten Punk-Rock-Show mit…

Eines wird beim Hören von „FTHC„, welches als Akronym für „Frank Turner Hardcore“ bereits die ein oder andere musikalische Assoziationskette auslöst, schnell klar: Die Spielfreude des 40-jährigen britischen Musikers bricht nach der langen, Lockdown-bedingten Tourpause aus nahezu allen Albumecken hervor. Denn gerade einer wie Turner lebte – über 2.500 Shows in weniger als zwei Jahrzehnten sprechen da eine deutliche Sprache – bis zur jähen Corona-Zäsur bekanntlich vor allem on the road, wohl auch daher musste er die zuhause aufgestaute Energie also im Studio kanalisieren – und das bis zum Schluss, denn „FTHC“ vermeidet weise den damals nicht durchweg überzeugenden „Be More Kind„-Weg, im letzten Drittel nur mehr Balladen zu offerieren. Wer also hier den schmachtenden Lagerfeuer-Punk ähm… -Frank sucht, ist falsch abgebogen, denn der neue Langspieler hält – zumindest in der Standard-Version – kaum Balladeskes parat. Natürlich darf die Akustikgitarre auch 2022 recht wenig Staub ansetzen und mal hier, mal da aus dem Koffer kommen, ansonsten dominieren hier jedoch ordentlich hochgedrehte Regler und Stromgitarren-Musik, in einer für 14 Songs (in der Deluxe-Variante sind’s sogar noch sechs Stücke mehr) überraschend gelungenen Abwechslung aus krediblem Punk, herzerfrischendem Hardcore und – ja klar – eingängigem, schwitzigem Alternative Rock. Und wie sollte es anders sein, wird diese Melange natürlich stets angetrieben von Turners typisch authentisch-bodenständiger, Pub-folk’esker Erzählweise.

Schon der riskante Brüll-Opener „Non Serviam“ zeigt als schöne Finte und mit ordentlich Gift und Galle an Bord innerhalb von knapp zwei Minuten, dass Turners Hardcore-Affinität keineswegs Schnee von gestern ist (und wer’s nicht glaubt, der darf gern mal bei seinem Hardcore-Punk-Nebenprojekt Möngöl Hörde ein Ohr riskieren). Dabei dient die Nummer wohlmöglich auch als Gradmesser: Wer nach dem Song noch da ist, wird an und mit „FTHC“ einen Riesenspaß haben. Aller Lautstärke zum Trotz – und auch, wenn ole Frank hier vernichtend jegliche Autorität ablehnen mag – kann er jedoch selbst hier seinem Good Guy-Image nicht gänzlich entkommen: „Help the ones in need / Do your best to leave the others be“ skandiert er im Refrain, der genauso schnell vorbei ist, wie er mit wenig Anlauf die Tür eintrat.

Danach wird’s etwas gewohnter, denn die bereits im Mai 2021 veröffentlichte Single „The Gathering“ ist der klassische, sehnsüchtige Nach-dem-Lockdown-wird-es-irgendwann-wieder-Konzerte-geben-Song, welcher mit fettem Queen-Chor die lang ersehnte Wiedervereinigung in verschwitzten Circle Pits bildlich in Szene setzt (und ganz nebenbei mit namenhafter musikalischer Unterstützung von Muse-Schlagzeuger Dominic Howard oder US-Southern-Rocker Jason Isbell, der hier ein Solo beisteuert, aufwartet). Bevor der Konzertbetrieb nun – hoffentlich – endlich, endlich wieder etwas an Fahrt aufnehmen kann, nutzte Turner die vergangenen zwei Jahre nicht nur für (s)einen Umzug von trubeligen London nach Mersea Island, Essex, an die deutlich ruhigere englische Küste, sondern auch dafür, die lyrische Lupe etwas mehr auf sich selbst zu richten. Nach „No Man’s Land„, dem 2019 veröffentlichten Vorgänger, welcher ausschließlich Songs über beeindruckende Frauen und deren Geschichte enthielt, betreibt er auf „FTHC“ dabei mentale Nabelschau erster Güte. Offen wie eh und je verpackt Turner Themen wie mentale Gesundheit („Haven’t Been Doing So Well“, „A Wave Across The Bay“), Substanzmissbrauch („Untainted Love“ mit der durchaus therapeutischen Zeile „I sure do miss cocaine„) und das Aufbegehren gegen gesellschaftliche Stereotypen („Perfect Score“) in seine Lieder.

Besonders persönlich wird es im Dreiergespann aus „Fatherless“, „My Bad“ und „Miranda“, welches sich als Mini-Rockoper rund um dasselbe Thema dreht: Turners komplizierte Beziehung zu seinem Vater. Von den schwierigen Jahren seiner Kindheit und der Abschiebung ins verhasste Internat erzählt er im hookigen Uptempo-Rocker „Fatherless“ und sehnt sich nach einem „caregiver who had care to give„. Die zügellose Hardcore-Attacke „My Bad“ beschäftigt sich mit den Erwartungen, die an jemanden aus seiner gesellschaftlichen Klasse gestellt werden, und wie sein recht konträrer Rock’n’Roll-Circus-Lebenslauf dazu (eben nicht) passt. Ein quietschendes Gitarren-Lick läutet dann den bislang größten Plot-Twist mit „Miranda“ ein: „My father is called Miranda these days / She’s a proud transgender woman / And my resentment has started to fade„. Tatsächlich wartet die Nummer mit so etwas wie einem späten Happy End in groovendem Midtempo auf: Die Versöhnung des Sohnes mit seinem Vater, der seit Jahren als Frau lebt, und wie beide seither wieder eine gemeinsame, durchaus freundschaftliche Gesprächsbasis gefunden haben – „Miranda, it’s lovely to meet you„.

Und obwohl es Turners Songs in der Vergangenheit nie an hartem, von Herzen kommendem und zu selbigem gehenden Tobak mangelte, hält das neue Werk doch ein besonderes Beispiel parat: „A Wave Across The Bay“, welches sich mit dem Freitod seines guten Freundes und Frightened Rabbit-Sängers Scott Hutchinson im Jahr 2018 beschäftigt. Ähnlich wie bei „Song For Josh“ (vom 2015er Album „Positive Songs For Negative People„) bedauert er, die Zeichen nicht erkannt zu haben, die auf den seelischen Zustand seines Freundes hindeuteten – und setzt dem zu früh verstorbenen Wegbegleiter nun ein gleichsam emotionales wie hymnisches Denkmal, das Frightened Rabbit’esk gemächlich beginnt, um dann wie eine erlösende Welle über einen hereinzubrechen: „Like a wave across a bay, never breaking / Ever falling, never landing / Rolling slowly out to sea and always smiling…“ Uff. Klare Sache: Nach all diesen emotional umklammernden Songs muss man erst einmal durchatmen…

Zum Glück erinnert einen der Punk-Rock-Barde in dem etwas luftigeren und tanzbaren „The Resurrectionists“ auch daran, dass nicht alles im Leben immer einen tieferen Sinn ergeben muss: „We’re all just kids someone let loose into the world / Waiting for someone to explain the rules / And that’s all„. Doch Halt! Wer schreit denn da über den Chorus? Tatsache, Biffy Clyro-Frontmann Simon Neil leiht dem Songfinale seine nahezu unverkennbaren Screams. Und auch eine weiteres Easter Egg für Langzeitfans hält die Nummer bereit, denn Frank Turner liefert hier nämlich in der zweiten Strophe ein Update, wo die ganzen Charaktere aus „I Know Prufrock Before He Was Famous“ vom 2009er Langspieler „Love Ire & Song“ geblieben sind.

Einmal in Fahrt gekommen, liefert der britische Musiker, der bei diesem Album am Schlagzeug Übersee-Unterstützung von Ilan Rubin (Nine Inch Nails, Angels & Aiwaves) erhielt, weiter ab, segelt in vollem Uptempo in ein live wohl äußerst unterhaltsames, zackiges „Punches“, inklusive heftigem Kopfnicker-Riff im Refrain. „Perfect Score“ wäre auf früheren Alben akustisch und etwas entspannter instrumentiert ein schöner, luftiger Folk-Song geworden. Hier schrammelt alles, was sechs Saiten hat, zu einer feinen, zweieinhalb Minuten langen Blaupause für einen 1A-Rocksong. Ähnlich verhält es sich mit „The Work“, einer herzerwärmenden, in Alltagstrott getauchten Liebeserklärung an seine Frau: „Because we’ve both been doing our best / Skirting round the edges of perfect / Darling I know this / It’s the work that makes it worth it“.

Etwas ruhiger gibt sich Turner eigentlich nur auf der ersten Hälfte von „Little Life“ – und auch diesem spendiert er schließlich ein fast schon epochales Finish. Nach seinem Wegzug aus der alten Londoner Heimat blickt er sowohl in diesem Song als auch im abschließenden „Farewell To My City“ noch einmal wehmütig und nicht ohne Reue zurück, unternimmt sprechsingend einen letzten Spaziergang vorbei an all den von Erinnerungen gesäumten Pubs und Clubs, die ihn – nebst seinem durchaus ungesunden Lebensstil früherer Tage – in „Untainted Love“ mit etwas weniger Fortüne fast umgebracht hätten, bevor er schließlich in den Umzugswagen steigt – ein würdiger, einmal mehr lautstarker Abschluss einer Platte, die sich somit auch wie der Abschluss einer Ära anfühlt. Alles in allem ist „FTHC“ – mit welchem dem Musiker nun auch seine erste Nummer-eins-Platte in der englischen Heimat gelang – musikalisch mit Abstand Frank Turners härtestes und kompromisslosestes Solowerk, lyrisch eine Therapiestunde, melodisch ein ordentliches Fass voller Ohrwürmer. Ein herzerwärmender Genuss und eine gelungene, zu gleichen Teilen hungrige wie smarte, angriffslustige und selbstreflexiv innehaltende Werkschau dessen, wofür der Vorzeige-Folkpunk inzwischen steht.

Hier gibt’s alle Song im Stream:

Rock and Roll.

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Song des Tages: The Delines – „Little Earl“


Gute Songwriter gibt es zuhauf, quasi wie den Sandstrand am weiten Meer. Die besten von ihnen schaffen es jedoch, eine ganze Kurzgeschichte innerhalb weniger Musikminuten zu verewigen und in Einklang mit den dazugehörigen Tönen ein wahres Roadmovie vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen. Der großer Bruce Springsteen etwa. Oder der ohnehin meisterliche Bob Dylan. Aimee Mann natürlich. Josh Ritter ebenso. Der seit Jahr und Tag sträflichst unter dem Radar des breiten Massengeschmacks musizierende Matthew Ryan. Neuerdings auch The Killers-Frontmann Brandon Flowers.

Oder Willy Vlautin. Eventuell dürfte der 55-Jährige vielen als Frontmann der US-Alternative-Rock-Band Richmond Fontaine ein Begriff sein. Diese lösten sich 2016 auf, nachdem ihnen in den immerhin zwanzig Jahren ihres Bestehens fortwährend der große Erfolg verwehrt blieb. Vlautin hatte sich da bereits zwei neue kreative Standbeine geschaffen. Einerseits hatte er bis dahin schon vier Romane veröffentlicht, in denen er das schriftstellerische Augenmerk auf die Loner und Loser, auf die von der Gesellschaft, Gott und Fortune Verlassenen richtete, andererseits bereits ein neues Band-Kollektiv am Start: The Delines. Für selbige rekrutierte er neben einigen ehemaligen Richmond Fontaine-Kollegen auch Sängerin Amy Boone, während Vlautin selbst sich nun fürs Gitarrenspielen und Texten verantwortlich zeichnete. Das 2014 erschiene Debütalbum „Colfax„, welches die neu formierte Band einspielte, nachdem sie gerade einmal eine Woche miteinander verbracht hatte, brachte der fünfköpfigen Truppe aus Portland, Oregon und ihrer Mischung aus Alt.Country, Americana und Soul einiges an Kritikerlob ein und bewies, dass Vlautins schreiberische Fähigkeiten nun noch mehr aufs musikalische Geschichtenerzählen abfärbten.

Noch besser wurde es auf dem 2019 erschienenen Nachfolger „The Imperial“ – obwohl es diesen beinahe nicht gegeben hätte. Drei Jahre zuvor hatte Amy Boone einen schlimmen Unfall, war über Wochen und Monate ans Krankenbett gefesselt, sodass Willy Vlautin mittlerweile ernsthafte Zweifel daran hegte, dass seine Frontstimme jemals wieder ans Mikro würde treten können. Doch Boone kämpfte sich ins Leben zurück – und klang auf den folgenden Stücken wohl auch deshalb kraft- und seelenvoller als je zuvor.

Böse Zungen mögen übrigens behaupten, dass es nicht schadet, für den Genuss der Songs von The Delines bereits das dreißigste, besser noch das vierzigste Lebensjahr vollendet zu haben (Don’t call it „Dad Rock“!), sprechen die Stücke doch vornehmlich all jene an, die auf die Wankelmütigkeit des Lebens nur noch mit einem routinierten Schulterzucken reagieren. Bestes Beispiel ist dieser „Charlie“ aus dem eröffnenden Stück von „The Imperial“: Die Frau ist weg, der Job bald auch, aber irgendein gutmütiger Freund wird sich finden, der ihm den nächsten Drink spendiert. In diesem Fall ist das Amy Boone, die, unterstützt von ihrer potenten Backing-Band, jenem „Charlie“ gleich noch ein paar nützliche Weisheiten in den biergetränkten Vollbart countryrockt. Dazu braucht es eine samtige Orgel und glitzerndes Fingerpicking auf der Vintage-Gitarre und ganz viel Balsam aus Boones Stimme. Wenn dann noch die gesamte Band zu einem leutseligen Chor anstimmt, scheint der gute, von allen verlassene „Charlie“ fürs Erste wohl gerettet.

Mit festem Blick und gewappneter Stimme berichtet Boone (beziehungsweise Vlautin, der ja die textliche Grundlage liefert) von den „ordinary people“, auch auf „The Imperial“ von ganz alltäglichen Zeitgenossen. Das vom Schicksal hart rangenommene Menschenkind „Holly The Hustle“ etwa weiß selbst nicht, was genau sie falsch macht. Dass sie bei einem angezählten Trunkenbold landet, scheint in der Erzählweise der Delines genauso tragisch wie unausweichlich. Im Titelsong wiederrum nimmt Boone die Rolle der erzwungenermaßen starken Frau ein, der Liebste sitzt im Knast, ausgestattet nur mit den Erinnerungen an diese magischen, gemeinsam verbrachten Nächte im namensgebenden Motel „The Imperial“. Die nüchternen Geschichten dieser Band sind das eine, was sie jedoch an anrührender Musik drumherum zaubern, scheint einfach unerhört. Besagter Titelsong schwebt erst arglos dahin, doch dann schält sich ein Über-Refrain in Technicolor heraus, der einen unumwunden ins Mark trifft. Selten wurde man derart durchgeschüttelt und gleichzeitig sanft gestreichelt. Oder wie sich in „Where Are You Sonny“ zunächst die sinistre Orgel voran tastet, im bluesigen Interieur dann jedoch Platz für herrschaftliche Bläser freigeräumt wird… Ein ganz zarter Erweckungsmoment, bei dem man nie genau weiß, ob es sich nun um einen Triumph oder einen finalen Abgesang handelt.

Schaut man sich Bilder dieser Band an, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass hier das Leben ebenfalls bereits deutliche Spuren hinterlassen hat: Falten rahmen die wachen Augen, im männlichen Haupthaar dominiert – so denn noch vorhanden – sattes Grau. Dies scheint den Delines jedoch genau die Autorität zu verleihen, über die Eitelkeit in einer knospenden Teenagerliebe wie in „Eddie & Polly“ zu berichten. Die leidenschaftlichen Irrfahrten dieser Jungspunde werden mit Gelassenheit, jedoch ebenso viel Mitgefühl aufgezeichnet, ohne Hast, aber mit Herz. Überhaupt: das Herz. Was „The Imperial“ vor gut zwei Jahren einmal mehr zu einem allzeit wundervollen Begleiter machte, ist der Mut der Delines, ihr ganzen Vertrauen auf die Wirkmacht dieser Alltagsgeschichten und wundervollen Melodien zu legen. Man muss nicht zwanghaft modische Brüche oder Kanten einbauen, wenn das Erzählerische sowie das Grundgerüst mit seinem Schönklang so weit tragen. The Delines liefern in aller Abgeklärtheit Geschichten aus der Mitte, ohne diese Mitte betonen zu müssen. You may call it Folk Rock, Alt.Country or Americana, may even call it Dad Rock – in jedem Fall besitzen die Stücke ein unerschütterliches Fundament und geraten in ihren besten Momenten unheimlich anrührend. Es braucht keine kompositorischen Tricks – eine Band erzählt ihre Geschichten und spielt ihre Lieder, ganz einfach.

Und es muss schon mit dem Teufel zugehen, sollte das sich auf dem dritten, im Februar erscheinenden Album „The Sea Drift“ ändern. Nach „Past The Shadows“ haben The Delines mit „Little Earl“ bereits einen zweiten Vorboten daraus hören lassen. Und der wirft alle Zuhörer in medias res für gut vier Minuten hinein ein eine neue Roadmovie-Kopfkino-Kurzgeschichte zweier Brüder auf der Flucht. Little Earl sitzt am Steuer des Autos ihres Onkels auf einem Kissen, damit er die Straße sehen kann, auf dem Sitz neben ihm Bier und Pizza, auf dem Rücksitz der Bruder, weinend, blutend. Ohne Klimaanlage macht die Hitze den beiden schwer zu schaffen, kein Krankenhaus weit und breit, es wird bereits dunkel. Was passiert ist kann man ebenso erahnen wie all jene, die ihnen bereits auf den Fersen zu sein scheinen… The Delines befinden sich in dem neuen Stück einmal mehr ganz in ihrem cinematografischen Element, Amy Boone besingt die aussichtslose Lage ohne Pathos, und obwohl das Ende offen bleibt, ist an ein Happy End bei bestem Willen nicht zu denken.

“’Little Earl‘ war einer der ersten Songs, die ich zu den Proben für das neue Album mitbrachte, und wie sich herausstellte, derjenige, der dazu beitrug, den Sound und das Gefühl des gesamten Albums zu schaffen. Es ist ein von Soul und Tony Joe White inspirierter Groove, und Cory Grays Bläser- und Streicherarrangements geben den filmischen Ton für zwei Brüder vor, die in einem Mini-Mart außerhalb von Port Arthur, Texas, in einen missglückten Ladendiebstahl verwickelt werden. Ich liebe Songs, die einen einfach mitten in eine Szene versetzen, und genau das haben wir hier versucht zu erreichen.” (Willy Vlautin)

„Little Earl is driving down the Gulf Coast
Sitting on a pillow so he can see the road
Next to him is a twelve pack of beer 
Three frozen pizzas and two lighters as souvenirs

Little Earl’s brother is bleeding in the backseat 
It’s been twenty miles and he can’t stop crying
Passing the houses on stilts on Holly Beach 
The AC don’t work and Earl’s sick in the Gulf Coast heat

Little Earl’s uncle is gonna go through the roof
But he’s working out of town until the end of June
They ain’t supposed to use his car  
Or do anything that lets people know he’s gone

Little Earl don’t know what to do
He’s looking for a hospital even though his brother don’t want him to
He’s starting to panic he’s too scared to stop
He’s never driven at night and he keeps getting lost“

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


The Killers – Pressure Machine (2021)

-erschienen bei Island/Universal-

Die Geschichte des knappe zwei Jahrzehnte jungen The Killers-Welthits „Mr. Brightside“ beweist unfreiwillig gleich zwei Dinge: die Überlebenskunst guter Musik und die absolute Vergänglichkeit der Zeit. Jene wurde unlängst auch durch die vermaledeite Corona-Pandemie deutlich: Stillstand auf Bühnen, in den Clubs, Theatern. Und Schockstarre in den Köpfen, die bisher vernehmlich das immer schneller und hektischer werdende Leben im Überholspurrausch kannten. Dennoch oder gerade deswegen brachte Corona unverhoffte kreative Impulse. Abseits des Tournee-Trotts entstanden Pandemie-Alben, trauten sich Künstler*innen Wege einzuschlagen, für die vorher wenig Raum war. Und Brandon Flowers? Anstatt mit seiner Band nach der letztjährigen Veröffentlichung von Album Nummer sechs, „Imploding The Mirage„, auf ausgedehnte Tournee zu gehen, holten den The Killers-Bandkopf die Jahre in Nephi ein, einem 5.000-Seelen-Örtchen im Nirgendwo von Utah, Vereinigte Staaten, wo er als zehn- bis 17-Jähriger lebte, bevor es ihn in seine Geburtsstadt Las Vegas zurück verschlug – das eine als Antithese zu der schrillen, hell erleuchtenden Glitzerscheinwelt des anderen. Erinnerungen überkamen ihn in der Stille, in den Momenten der Ruhe, ließen ihn nicht mehr los.

„Es war für mich das erste Mal seit langer Zeit, dass ich mit Stille konfrontiert wurde. Aus dieser Stille heraus begann diese Platte zu erblühen, voll von Songs, die sonst zu leise gewesen wären und vom Lärm typischer Killers-Platten übertönt worden wären.“ (Brandon Flowers)

Fotos: Promo / Danny Clinch

Erinnerungen und Beobachtungen von Menschen aus einer prägenden Zeit, die er erst jetzt, Jahre später, halbwegs einordnen konnte. Klar, als weltumreisender Rockstar muss das einstige Leben in solch einem verlassenen Kleinstadtkaff natürlich absolut surreal erscheinen, doch Überheblichkeit und Lästerei sind nicht Flowers‘ Antrieb für „Pressure Machine„, dem siebten Album seiner Band und – wenn man so will – dem „Nebraska“ oder „The Suburbs“ der Killers. Vielmehr ist dieses sehr persönliche Werk eine respektvolle und dennoch kritische Auseinandersetzung mit dem American Dream und dem Antrieb der Menschen auf dem weiten Land, ihrer schier unendliche Motivation, nach jenem Ideal zu leben – koste es, was es wolle und leider nicht ohne die bekannten Nebenwirkungen: Kummer, Enttäuschung und Schmerz, blinde Religiösität, gestrige Homophobie und platter Rassismus. Gut, dass Flowers seine nostalgische Rückschau trotz einer ordentlichen Menge an Düsternis stets auch in Hoffnung und flüchtige Momente des Glücks tränkt.

Schnell wird beim Hören der elf Stücke zudem klar, dass man es hier fraglos mit dem bisher ungewöhnlichsten Werk der vornehmlich schillernden Bandgeschichte, die 2001 bezeichnenderweise in Las Vegas begann, zu tun hat. Es handelt sich um ein Konzeptalbum, das selbstbewusst mit den Einflüssen von Bruce Springsteens reduziertem „Nebraska“ kokettiert, welches Flowers neben John Steinbecks tragischer Kurzgeschichtensammlung „Das Tal des Himmels“ als wichtigen Einfluss für die neuen Stücke erwähnt. Daher ist es nur konsequent, dass die US-Band diesmal keine Vorab-Single voraus schickte, sondern eine Reihe cineastischer Trailer ins weltweite Netz stellte. Darin kommen Protagonisten des öden Mormonen-Städtchens zu Wort, dem das Album gewidmet ist, erzählen mal von Pferden, die erschossen werden müssen, weil sie sich bei der Stampede ein Bein gebrochen haben, mal von den Opioden, die so viele nehmen. Diese Spoken-Word-Passagen bilden auch die verbindenden Zwischenteile der einzelnen Stücke. Auch deshalb bildet die Song gewordene melancholische Western-Novelle einen starken Kontrast zu den leider oft zwischen egal und platitüd daher rockenden, herzlos-euphorischen Album-Vorgängern.

Überhaupt atmet „Pressure Machine“ musikalisches Wild-West-Feeling, kommt oft mit Pedal-Steel-Gitarre, Fiddle, Mundharmonika und typischem Country-Western-Twang à la Hank Williams daher. Gesanglich präsentiert sich Brandon Flowers einmal mehr in Bestform. Gleich zum Auftakt setzt „West Hills“ ein ebenso berührendes wie majestätisches Ausrufezeichen. Der flirrende Sound steigt, getragen von Streichern, langsam an und baut sich zu epischer Größe auf, ohne dabei zu überdrehen. Nicht von ungefähr kommen Flowers, Ronnie Vannucci Jr. und Dave Keuning, der seine Leadgitarre auf dem vorhergehenden Album noch ruhen ließ und nun wieder zur Band stößt, mit diesem Stück dem Songwriting eines David Bowie näher, als sie es vermutlich je planten, während sie die tragische Geschichte eines drogensüchtigen Mannes erzählen, der dem Hillbilly-Heroin verfallen ist und nun in der Gefängniszelle sitzt. Was man eben so tut, um der inneren Einsamkeit Herr zu werden…

Zudem scheinen auch Scheuklappen und Geduld wichtige Überlebenseigenschaften zu sein, wie man in „Cody“, einem tollen Song über einen Jungen, der gerne mit Feuer spielte und wegen eines schlimmen Brandes im Ort einst geächtet wurde, erfährt. Jener Cody steht zudem stellvertretend für das Weitermachen, aber auch für die Sehnsucht nach einem anderen Leben: „So who’s gonna carry us away? / Eagles with glory-painted wings? / We keep on waiting for the miracle to come.“ Flowers beschreibt den Glauben an Gott und Gerechtigkeit, das Leben mit dem sozialen Druck einer zutiefst konservativen Gesellschaft, die bereits in den Neunzigern in (pseudo-)moralischen Werten ihres Glaubens versunken schien. „And Cody says / He didn’t raise the dead / Says ‚religion’s just a trick to keep hard-working folks in line‘.“ „Terrible Thing“ behandelt Homophobie in der religiösen Kleinstadt, erzählt aus der Perspektive eines schwulen Teenagers. „Runaway Horses“ – noch so ein feines Highlight – bildet im Duett mit Indie-Darling Phoebe Bridgers die Chronik einer Romanze nach. Einzig „Desperate Things“ ist eine rein fiktive Geschichte, eine Mörder-Ballade, die sich anhört wie ein vergessener, großartiger Song aus der Boss’schen „Nebraska“-Zeit. Er handelt von einem Polizisten, der sich in ein Opfer häuslicher Gewalt verliebt und schließlich den Täter umbringt. Erstaunlich, aber tatsächlich wahr – vermutlich machte es bislang selten solche Freude, Flowers‘ Texten zu lauschen, auch im Titelsong wird er deutlich: „But the Kingdom of God, it’s a pressure machine / Every step, gotta keep it clean.“

Bemerkenswert und zugleich logisch erscheint der Umstand, dass zunächst sämtliche Texte dieses Albums standen, bevor die Band überhaupt einen Takt der Musik komponierte. Daher trägt „Pressure Machine“ den fluffigen, Eighties-infizierten The Killers-Sound der jüngeren Vergangenheit nur in Nuancen in sich. Mit Fokus auf akustische Gitarre, Streicher-Arrangements und dezente Country- und Blues-Elemente verortet sich das Werk musikalisch ein ums andere Mal bewusst nah bei Springsteens süffisant-erdigem Heartland-Rock, an der ungeschönten Umweltschau eines Johnny Cash und ebenso oft bei klassischen Singer/Songwriter-Platten – manch eine(r) wird sich gar an die letztjährige Bright Eyes’sche Album-Großtat Down in the Weeds, Where the World Once Was“ erinnert fühlen. Etwas flotter lassen es eigentlich nur das gelungene „Sleepwalker“, „In The Car Outside“ mit seinen Synthie-Wänden sowie dem stoischen und doch beinah hymnischen Gitarrenfinale sowie das schwelgerische, von zarten Synthies und vom Akkordeon geküsste „Quiet Town“ angehen. „When that jukebox in the corner stops playing country songs that sound like mine / I spent my best years laying rubber on a factory line“, zwinkert Flowers selbstironisch in „In Another Life“, um sich dennoch der Frage zu widmen, die sich wohl nicht wenige irgendwann einmal stellen: „I wonder what I would’ve been in another life…“

Gegen Ende singt Flowers „People do desperate things“. Man glaubt es, man weiß es. Denn die bittersüße Melancholie des tristen Alltags im von aller Aufregung verlassenen Nirgendwo ist an allen Ecken und Enden greifbar. „Nephi in the nineties could’ve been Nephi in the fifties“, gibt der mittlerweile 40-Jährige zum Release zu Protokoll und macht deutlich, wie sehr manche Landstriche und deren Einwohner vom Fortschritt und Wohlstand übersehen und längst vergessen wurden. Dennoch weiß er auch um die Vorzüge: „Part of me is still that stainless kid / Lucky in this quiet town: salt of the land, hard-working people / If you’re in trouble, they’ll lend you a hand.“

„In der Pandemie fühlte es sich plötzlich für alle so an, als säße man mitten im Nirgendwo. Ich spürte plötzlich, dass es aus der Zeit dort viele negative Gefühle gab, die ich wohl verdrängt hatte, weil ein Großteil meiner Erinnerungen an Nephi sehr schön ist. Aber die, die mit Angst oder Traurigkeit verbunden waren, hallten sehr stark in mir nach. Ich verstehe sie nun besser als zu Anfangszeiten der Band und hoffe, ich konnte mit meinen Liedern den Geschichten und den Menschen dieser kleinen Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gerecht werden.“ (Brandon Flowers)

In Gänze gerät „Pressure Machine“ zur ebenso unverhofften wie beeindruckend-ungewohnten, vom Corona-Stillstand beeinflussten Momentaufnahme im Killers-Albumkanon, der schon bald wieder in Richtung Stadionrock abbiegen könnte. Ein Album wie das Musik gewordene Äquivalent zum kaum weniger zu empfehlenden Oscar-Gewinner „Nomadland„. Die Geschichte des Welthits „Mr. Brightside“ mag die Killers bis in die großen Arenen und in die Herzen irischer Pubs geführt haben, ist jedoch ebenso unmittelbar mit diesem kleinen Ort im US-amerikanischen Niemandsland verbunden.

Rock and Roll.

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Monday Listen: Washington Irving – „August 1914“


„Washington Irving are a chaotic indie rock band from Scotland.“ – So beschreibt sich die fünfköpfige Band selbst auf ihrem Bandcamp-Profil – und diese erste, eigene Standortmarkierung trifft den klingenden Nagel bereits recht gut auf den tönenden Kopf, denn irgendwo zwischen zerbrechlichen Folktönen und ausufernden Lärmwänden zelebrieren Washington Irving ihre Musik. Ich meine: Wer dem schottischen, ohnehin meist verdammt nah am melancholischen Ufer geparkten Gemüt auch sonst nahe steht und Bands wie Frightened Rabbit, We Were Promised Jetpacks oder There Will Be Fireworks im Hörerherzen mit sich spazieren trägt, dürfte sich hier sehr gut aufgehoben fühlen.

Zudem scheinen die Lads von Washington Irving ein ausgesprochenes Faible fürs Geschichtliche zu haben, immerhin benannte sich die Band nach einem amerikanischen Schriftsteller. Und auch ihr 2017 nach einer Handvoll EPs erschienenes Debütalbum „August 1914“ backt nicht eben kleine Musikbrötchen, immerhin befasst sich dieses als Konzeptalbum mit „den Kriegen des 20. Jahrhunderts“, wie Leadsänger und Gitarrist Joseph Black selbst meint. Umso erstaunlicher, dass das gut dreiviertelstündige Endergebnis nicht düster, trist und verkopft, sondern durchaus formidabel nach vorn indierockend gerät und mit seinen einerseits laut tönenden, andererseits fragil am Herz packenden Emotionen und seiner süchtig machenden Intensität ein ums andere Mal wie die besten Monate der oben genannten Bands klingt (mit Frightened Rabbit waren Washington Irving bis zum Tod von FR-Frontmann Scott Hutchison auch gut befreundet und teilten nicht selten Backstageräume und Konzertbühnen). Bei all der Qualität, die die zehn Songs von „August 1914“ auf den Plattenteller legen, verwundert es durchaus, dass seinerzeit scheinbar kaum jemand Wind von diesem Indie Rock-Kleinod bekommen hat und das Quintett aus Glasgow seit gut drei Jahren leider auf kreativem Eis liegt… Nichtsdestotrotz: ein echter Geheimtipp!

Rock and Roll.

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Song des Tages: We Bless This Mess – „Still Water“


Punkrock, der das Leben feiert: Das 2014 ins Leben gerufene Ein-Mann-Folk-Punk-Projekt des Portugiesen Nelson Graf Reis entwickelt sich auf dem dritten Album von We Bless This Mess zu vollem Bandsound. Karohemd und gereckte Faust inklusive.

Wer sich direkt im ersten Track (welcher passenderweise „Before You Play This Record, Listen To This“ tituliert ist) so aufrichtig für die Aufmerksamkeit bedankt und proklamiert, dass das Album als „an ode to life“ begriffen werden soll, der meint das wohl auch so. Der Tattookünstler Nelson Graf Reis hat seine Wurzeln in der DIY-Punkszene Portos und hat dort neben seinem eigenen Projekt auch noch das Label „Oh Lee Music“ gegründet. Man muss keine hellseherische Begabung besitzen um zu merken, dass der Mann offenbar ein außerordentlich hohes Level an Leidenschaft und Kreativität besitzt, woran auch ein zwischenzeitiger Umzug nach Großbritannien nichts geändert hat. Denn „Enlightened Fool“ ist der musikalische Sprung in die vorderen Reihen des melodischen Punk Rock.

Folgten die zwei Vorgängeralben „Volume 1“ und „Awareness Songs And Side Stories“ noch dem Anspruch, Punk in alter Frank-Turner-Manier möglichst reduziert und folkig zu halten, ist der Sound von We Bless This Mess nun voll elektrifiziert. Der zumeist stampfende Rhythmus und die sich immer wieder einschleichende Akustikgitarre halten die Verbindung zum troubadourenden Folk aber noch genügend aufrecht, um – neben dem Turner-Frank, freilich – an Kaliber wie (frühe) The Gaslight Anthem oder Cold Years zu erinnern. Beachtlich ist dabei der Umstand, dass Reis bis auf das Schlagzeug sämtliche Instrumente selbst eingespielt hat (kreativ, ich schrob’s ja).

Mit ihrem Anliegen halten Nelson Graf Reis und seine Band-Buddies keineswegs hinterm portugiesischen Berg: Bewusstsein schaffen sowie Licht und Liebe an die Mitmenschen verteilen. Was im ersten Moment hippiesk anmutet, ist tatsächlich das Konzept hinter „Enlightened Fool“. Menschen müssen viele Phasen durchleben, bis sie zu einem höheren Bewusstsein gelangen und verstehen, was es bedeutet, ein erleuchteter Dummkopf zu sein. Sokrates lässt grüßen. „Niemand hat die richtigen Antworten oder einen Zaubertrank, um dabei erfolgreich zu sein“, kommentiert die Band. „Aber glücklicherweise könnten diese Songs jemandem helfen, das Leben anders zu betrachten – sich friedlich zu fühlen und wahrzunehmen, dass wir am Leben sind.“

Zwei Dinge fallen außerdem direkt auf: Zum einen zeigt schon der Beginn von „Good That You’re Letting It Go“, dass Reis eine nicht nur für Genreverhältnisse grandiose Stimme sein Eigen nennt. Zum anderen strahlt einem die schon angesprochene Positivität so sehr aus sämtlichen Texten – und der eingangs erwähnten akustischen Dankesnote – entgegen, dass man entwaffnet allen Widerstand fallen lässt und mitgerissen wird. In Verbindung mit den hochmelodischen Gitarrenleads mögen gewieften Genre-Kennern hier etwa die Get Up Kids, Promise Ring oder die US-Punkrocker von Latterman in den Sinn kommen – Vergleiche, die durchaus funktionieren, wenn man beispielsweise das (fast) rein instrumentale „Humanity.Wake.Up“ hört. Apropos sehr gut funktionieren: das lässt sich ebenfalls über das fröhliche „Messy Hair: Red Lipstick”, welches wie Robert Smith mit selten-schöner Frühlingseuphorie tönt, oder den gnadenlosen Ohrwurm „Happy Monsters In My Closet“ behaupten. Der Großteil der mit acht „echten“ Songs recht kurzen Platte bewegt sich im beschwingten Midtempo, nur das augenzwinkernd betitelte „Almost Straight Edge“ drückt ziemlich aufs Gas und geht dank der Stop&Go-Parts und der Crewshouts gar als ziemlich gelungener Melodic Hardcore durch. „Still Water“ ist introspektiver 2000er-Emo par excellence, wie ihn etwa die Münsteraner Pop-Punks Idle Class früher zelebrierten. Weitere Highlights stellen der Mini-Hit „Solitude“ und „Find.Unfold.Accept“ dar, dessen Gänsehautklimax auch ein Chris Carrabba zu Dashboard Confessional-Hochzeiten nicht umwerfender hätte schreiben können. Mit dem stimmungsvollen Klavieroutro „Now And Today“ läuft „Enlightened Fool” nach einer guten halben Stunde im Ziel ein, ohne sich dabei einen wirklich schwachen Moment geleistet zu haben. Das Album nahm die in Norwich und Porto beheimate Band bereits 2019 im sonnigen Kalifornien auf, nur um im Anschluss, wie so viele aufstrebende Bands, von der Pandemie ausgebremst zu werden. Ohne Frage – We Bless This Mess sind spätestens jetzt Pflicht für alle Freunde von melodischem Karohemden-Punk Rock sowie mehrspurigem Heartland Rock mit dem unbeugsamen Willen zum himmelsstürmenden Refrainmelodie-Bogen und einer ausreichenden Menge an Melancholie im Tank. 

Klar mag man das ein oder andere schon tausendundein Mal gehört haben, aber wer diese abgrundtiefe Liebe zum Leben so gebündelt, so herzlich nicht ertragen mag, der muss hier – wie durch das Leben selbst – trotzdem durch. Das hier ist einfach zu gut, zu sympathisch, um es an die Zyniker und miesepetrigen Stinkstiefel zu verlieren. Danach überlegt man sich wohlmöglich Wörter mit vier Buchstaben, die man sich die Fingerknöchel tätowieren lassen könnte – eventuell ja von Nelson Graf Reis höchstselbst.

Rock and Roll.

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