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Agnes und ihr Freund Amir – Eine ziemliche beste Wohngemeinschaft (und die wohl schönste Geschichte des Tages)


Agnes Jeschke wurde 1920 in Sachsen geboren. Das Jahr, in dem die Pandemie der Spanischen Grippe endete. Das Jahr, in dem der Friedensvertrag von Versailles den Ersten Weltkrieg offiziell beendete. Das Jahr, in dem in Deutschland die erste Jazz-Schallplatte verkauft wurde.

Amir Farahani wurde 1993 im Iran geboren. Das Jahr, in dem dort zwei Flugzeuge kollidierten und 132 Menschen starben. Das Jahr, in dem der Maastricht-Vertrag in Kraft trat und das World Wide Web freigegeben wurde.

Heute ist sie betagte 102 Jahre alt, er sportliche 28 Lenze jung – rein optisch sowie rechnerisch könnte Amir Agnes‘ Urenkel sein. Und obwohl die beiden – zumindest auf dem schnöden Papier – fast 74 Jahre gelebtes Leben und recht unterschiedliche Kulturen trennen mögen, sind diese alte Dame und ihr Betreuer, der sogar bei ihr wohnt, ein zwar ungewöhnliches, dafür jedoch umso unzertrennlicheres Paar. „Ziemlich beste Freunde“ quasi – nur eben nicht als rührselige französische Filmkomödie in Paris angesiedelt, sondern in einer kleinen Wohnung in Berlin-Mariendorf. „Wir verstehen uns“, sagt sie mit ihrem Berliner Charme, „wie zwei linke Latschen“.

Und natürlich mag die Geschichte von Amir und Agnes ungewöhnlich sein. Er studierte im Iran Sportmedizin, musste sein Land, in dem er wegen seiner Homosexualität um sein Leben fürchtete, jedoch ohne Familie verlassen – und kam nach Deutschland. Sie lebt seit fünf Jahrzehnten in ihrer bescheidenen Drei-Zimmer-Wohnung in Berlin. Wäre der junge Mann nicht bei ihr eingezogen, hätte Agnes wohl ins Pflegeheim gemusst – gegen ihren Willen. Also schaltete ein Freund eine Anzeige im Internet und suchte nach einer Betreuerin – das Motto: „Kostenloses Wohnen gegen Gesellschaft leisten“. Es meldeten sich 22 Frauen – und Amir. Und obwohl er der einzige männliche Bewerber war, war er nicht nur gleich hellauf begeistert von der Idee, bei der alten Frau einzuziehen, sondern wunderte sich auch: „Warum nur Frauen? Ich kann das auch.“ Agnes ging es ähnlich, die beiden waren sich – allen Unterschieden zum Trotz – auf Anhieb sympathisch. Er suchte eine Bleibe (was sich auf dem Berliner Wohnungsmarkt durchaus als Herausforderung gestalten kann), sie Gesellschaft und Hilfe im Alltag. Und fanden auf diesem Weg einander. Das Paradebeispiel einer Eine Win-win-Situation, sozusagen.

Das Bilderbuch zeigt, dass sich die gemeinsamen Tage des ungleichen Mitbewohnerpaares häufig bunt gestalten. „Manchmal gehen wir schaukeln, manchmal zusammen einkaufen, manchmal schwimmen oder ins Restaurant.“ Selbst in die Shisha-Bar oder zum Tanzen seien sie schon gemeinsam gegangen. Amir lebt kostenlos auf Agnes‘ Couch, besitzt in ihrer Wohnung lediglich einen kleinen Kleiderschrank, als Gegenleistung hilft er ihr im Alltag – vor allem morgens und abends. Tagsüber macht er eine Ausbildung zum Alten- und Krankenpfleger. Auch aus diesem Grund kann er ihren Pflegedienst wenngleich nicht gänzlich ersetzen, dafür jedoch zu großen Teilen unterstützen, während sie für ihn eine Art Familienersatz darstellt und dem Geflüchteten, der der deutschen Bürokratie wegen im vergangenen Jahr – entgegen aller Umstände und trotz Fachkräftemangels – beinahe wieder in seine alte Heimat (in welcher ihm zudem die Todesstrafe droht) abgeschoben worden wäre, die deutsche Sprache und den speziellen Berliner Humor näher bringt.

Doch so schön sich dieser Alltag auch lesen mag, so herausfordernd kann er oft genug sein. „Ich muss ihr viele grundlegende Dinge beibringen, die wir Jungen automatisch machen“, sagt Farahani. Dazu gehöre zum Beispiel das Essen oder Trinken, Anziehen oder Aufstehen. „Bei all diesen kleinen Dingen besteht die Gefahr, dass sie sich verletzt und da muss ich aufpassen.“ Anfangs habe sie in der Nacht auch öfters Panikattacken bekommen. Ihr anstehender Auszug, das drohende Pflegeheim habe sie damals sehr belastet. Mittlerweile schläft sie nicht nur ruhiger, sondern hat durch ihren beinahe ein Dreivieteljahrhundert jüngeren Begleiter sogar neue Lebensfreude gewonnen. „Ich bin ohne Familie hergekommen. Ich suchte damals eine Wohnung. Die habe ich jetzt und auch eine Aufgabe. Wenn Menschen wie Agnes Zuwendung bekommen, bleiben sie jung“, wie Amir es auf den Punkt bringt. Er passt auf sie auf, und sie irgendwie auch auf ihn.

Und so aufs Filmreifste kitschig sich die Geschichte von Agnes und Amir auch lesen mag, so stellt sie doch umso mehr positive Dinge ins Licht: Etwa den Fakt, dass Integration durchaus gelingen kann, wenn beide Seiten offen für die Welt des anderen sind (und auch daher dürfen Beiträge über die beiden gern in Dauerschleife auf jeder Versammlung der blau-braunen Anti-Alternative laufen). Dass dieses im ersten Moment ungewöhnliche WG-Konzept aus Jung und Alt gerade in Großstädten wie Berlin, wo auf der einen Seite meist Wohnungsknappheit herrscht, während es gleichzeitig eine hohe Zahl an älteren Single-Haushalten gibt, eine nicht nur gute, sondern auch überaus beispielhafte Lösung darstellt – und somit ein stückweit den „Grauen Markt“ der 24-Stunden-Pflegekräfte in bundesdeutschen Privathaushalten ersetzen könnte. So schätzt die Schader-Stiftung, dass bis zu 400.000 Menschen – vor allem Osteuropäerinnen – in deutschen Haushalten ältere Menschen pflegen – und das, anders als bei Amir, eben oft illegal. Und zu guter Letzt natürlich, dass dieser Tage nicht jede Nachricht schlecht sein muss, um berichtenswert zu sein. ❤️️

Bei Arte sowie in der ZDF Mediathek findet man aktuell zudem auch einen ausführlicheren halbstündigen Beitrag über die beiden…

Rock and Roll.

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„Ellis“ – beeindruckender Flüchtlings-Kurzfilm von Nils Frahm, Woodkid und Robert De Niro


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Robert De Niro, Woodkid, Nils Frahm – wenn der Film- und Musikkenner diese Namen liest, dann denkt er wohlmöglich an cineastische Weiten, große Bilder und auf Zelluloid festgehaltene Momente, tolle, melancholische Melodien – in jedem Fall an gute, qualitativ hochwertige Unterhaltung. Nicht jedoch an einen Kurzfilm…

large_Ellis_-_the_movie_-_poster_-_lightGespür für Timing, Tempo und Stimmungen zeichnen herausragende Soundtracks aus, schränken den Musikproduzenten in seiner Arbeit jedoch oft auch ein, denn Film-Editor und Regisseur haben den Film meist schon geschnitten, bevor der Soundtrack den Film „ergänzen“ darf. Dass diese schwierige Aufgabe dennoch, sogar quasi spontan, zu lösen ist, zeigte zuletzt der dauerbeschäftigte deutsche Pianist und Komponist Nils Frahm, der den Soundtrack zum deutschen Indie-Filmhit des Vorjahres, „Victoria„, in einem einzigen Take live einspielte und sich somit in Echtzeit auf den Film einzustellen vermochte.

Für den viertelstündigen Kurzfilm „Ellis“ hat Nils Frahm sich nun um die Umsetzung des von Woodkid komponierten Tracks „Winter Morning I“ gekümmert. Der Film erzählt die Geschichte eines Flüchtlings auf dem Weg in eine angstfreie Zukunft, eine neue Heimat, vorgetragen von keinem Geringeren als Hollywood-Legende Robert De Niro. Regie führte der französische Künstler JR, der als Schauplatz für diesen 15-minütigen Film einen verlassenen Krankenhaus-Komplex auf Ellis Island (New York) wählte. Die Insel im Hafengebiet von New York City war im 19. Jahrhundert die Sammel- und Anlaufstelle für Immigranten in die USA und ist somit ein ebenso gespenstisch umwehter wie passender Schauplatz für den Kurzfilm, welcher – der historischen Patina zum Trotz – aktueller kaum sein könnte.

Nils Frahm, der sich erneut grandiose für die Hintergrunduntermalung verantwortlich zeichnet, hat übrigens Folgendes zu sagen:

„The opportunity to work on JR´s fantastic short film came through my good friend Yoann aka Woodkid. We agreed on recording the piano parts in my studio in Berlin and so it happened that JR and Woodkid were guests at Durton studio on a wonderful late summers day in 2015. We managed to record all the crucial elements that day. The music fell into our laps and melted with the images: a wonderful experience. The film has stuck in my head ever since; it moved my heart and changed my soul.“

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(oder via Vimeo)

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Rock and Roll.

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