Schlagwort-Archive: Faber

Der Jahresrückblick – Teil 1


„High Fidelity“ lässt lieb grüßen, denn der Pop ist bekanntlich seit jeher besessen von Listen. Ob Verkaufscharts, Streamingzahlen oder höchst subjektive Kritiker*innen-Rankings – ständig weder Plattenregale uns -sammlungen, wird die Veröffentlichungsflut in Listenform gebracht, wird Altes in Listenform neu gewichtet. Zum Jahresende ist es besonders heftig, denn natürlich dürfen, sollen, müssen überall die besten Alben und Songs der vergangenen zwölf Monate gekürt werden. 

Vor dem Blick auf die Deutschen Charts scheue (nicht nur) ich auch sonst schon zurück, da sich dieses Land seit jeher durch (s)einen notorisch schlechten Geschmack auszeichnet und Fremdscham-Alarm jedes Mal aufs Neue garantiert ist. Und leider bilden die erfolgreichsten Titel des Jahres 2022 da – Bestätigung, hier kommt sie – keine Ausnahme: Das nervtötend ohrwurmige Vollpfosten-Lied „Layla“ von DJ Robin & Schürze belegt den ersten Platz der Single-Charts – neun Wochen hielt sich der dumpftumbe Ballermann-Hit, der ein Skandälchen auslöste, jedoch besser keinerlei Erwähnung verdient gehabt hätte, an der Chartspitze, mehr als 143 Millionen Mal wurde er gestreamt. Bei den Alben dann ebenfalls keine Überraschung: Mit „Zeit“ führen die Teutonen-Böller-und-Ballermänner von Rammstein erwartungsgemäß die Liste an – und zwar mit deutlichem Abstand. 340.000 Mal hat sich das elfte Nummer-Eins-Album der Berliner Band um das personifizierte rrrrrrrrollende „R“, Till Lindemann, insgesamt verkauft. Wie erwartbar, wie öde. Und irgendwie ja auch ein Spiegelbild der aktuellen Gesellschaft…

———————————

Christian Lee Hutson – Quitters

In den zurückliegenden Monaten durfte man ein ums andere Mal kopfschüttelnd seinen Glauben an die Menschheit verlieren: Kriege, Krisen, Klimawandel und damit einhergehende Umweltkatastrophen, Inflation, dazu die – hoffentlich – letzten Ausläufer einer weltweiten Pandemie, gesellschaftliche Spaltungen, politischer Stillstand (oder gar der ein oder andere Rechtsruck) wohin man schaute. Gesellschaftliche Unruhen im Iran, weil irgendwelche gottverdammten Männer unter religiösen Deckmänteln an ihrem formvollendet sinnfreien Regelwerk der Unterdrückung von Frauen und Andersdenkenden festhalten wollen? Eine aus so vielen, so falschen Gründen aus dem heißen Wüstenboden hochgezogene und mit unvorstellbar viel Blutgeld durchgeführte Winter-Fußball-WM in Katar? Ja, auch 2022 fanden Tagesschau und Co. meist statt, wenn der Sprecher (oder die Sprecherin) einem einen „Guten Abend“ wünschte und darauf mit vielerlei Schlagzeilen bewies, dass es eben kein guter war. Dass die Musikwelt in diesem Jahr Größen wie Mark Lanegan, Taylor Hawkins (Foo Fighters), Meat Loaf, Jerry Lee Lewis, Andy Fletcher (Depesche Mode), Christine McVie (Fleetwood Mac), Loretta Lynn, Betty Davis oder Mimi Parker (Low) verlor, macht das Ganze keineswegs besser. Dass 2022 Konzerte und Festivals endlich wieder in halbwegs „normalem“ Rahmen stattfinden konnten, jedoch schon – wenngleich es der Live-Branche jedoch alles andere als gut geht und vor allem kleinere, unbekanntere Künstler*innen und Bands sich in der Post-Corona-Zeit mit immer neuen Schwierigkeiten konfrontiert sehen (wen es interessiert, dem sei ein recht ausführlicher Artikel mit dem Titel „Kuh auf dem Eis“ hierüber in der aktuellen Ausgabe der „VISIONS“ – Nummer 358 von 01/2023 – ans Herz gelegt). Ja, das noch aktuelle Jahr war rückblickend sowohl gesellschaftlich als auch fürs menschliche wie planetare Zeugnis kein tolles – musikalisch darf zum Glück das komplette Gegenteil behauptet werden.

Wie also sieht und wertet die schreiberische Zunft als Albumjahr 2022? Nun, beim deutschen „Rolling Stone“ landen Tom Liwas „Eine andere Zeit“, „And In The Darkness, Hearts Aglow“ von Weyes Blood sowie „Ytilaer“ von Bill Callahan auf dem Treppchen, beim erfahrungsgemäß hype- und pop-affinen „Musikexpress“ sieht man Kendrick Lamars „Mr. Morale & The Big Steppers“, „DIE NERVEN“ von Die Nerven und „Motomami“ von Rosalía vorn, bei der „VISIONS“ wiederum „DIE NERVEN“ von Die Nerven, „Eyes Of Oblivion“ von den Hellacopters sowie „Wet Leg“ von Wet Leg. International führt „Renaissance“, das siebente Studioalbum von Beyoncé, das Kritiker-Ranking an. Und bei ANEWFRIEND? Ich greife mal vorweg und verrate, dass es zwar ein kleinwenig Konsens, jedoch recht wenig Überschneidungen mit alledem bei mir gibt und meine persönliche Bestenliste der Qualität wegen auf eine amtliche Top 25 erweitert wurde…

Foto: Promo / Michael Delaney

Dass die vergangenen Monate die notwendige Untermalung fanden, lag auch an „Quitters„, dem vierten Langspieler von Christian Lee Hutson. Was mich rückblickend etwas erstaunt, ist, dass der im April erschienene Nachfolger zum 2020er „Beginners“ zwar seinerzeit von den einschlägigen kritischen Stimmen wohlwollend goutiert, in den jeweiligen Jahresendabrechnungen jedoch kaum berücksichtigt wurde. An den durch und durch großartigen 13 Songs des Albums kann’s kaum gelegen haben, denn näher an das Schaffen eines Elliott Smith ist lange, lange Zeit niemand herangekommen – und das ist vor allem aus meiner digitalen Feder als recht großes Kompliment zu verstehen. Zudem mischen einmal mehr keine Geringeren als Phoebe Bridgers und Conor Oberst mit. Heraus kommt eine Dreiviertelstunde musikalischer Zerstreuung und Realitätsflucht, die auch bei der Vielzahl an Konkurrenz im Jahr 2022 völlig zurecht auf meiner Eins landet. A singular ode to melancholy.

mehr…

2.  Nullmillimeter – Wer die Wahrheit sagt, der braucht ein schnelles Pferd

Nullmillimeter sind eine von so einigen tollen musikalischen Neuentdeckungen des zurückliegenden Musikjahres. Und knallen dem geneigten Hörer (oder eben der geneigten Hörerin) mit „Wer die Wahrheit sagt, der braucht ein schnelles Pferd“ mal eben ein derart faszinierendes Debüt vor die Lauscher, dass man sich im Wirbel kaum entscheiden mag, was hier toller ist. Das großartige Coverartwork mit dem auf einem Poller festgerittenen Pony? Der Albumtitel, in welchem wortwörtlich ebensoviel Wahrheit steckt wie in all den klugen Textzeilen? Die Stimme von Sängerin Naëma Faika, die der bundesdeutschen Musiklandschaft – tatsächlich, tatsächlich – gerade noch gefehlt hat? Die bockstarke Band hinter ihr, die manch eine(r) in der Vergangenheit bereits als Teile der Begleitbands von Kid Kopphausen, Staring Girl, Jochen Distelmeyer, Tom Liwa, Olli Schulz oder Gisbert zu Knyphausen zu hören bekam? Dass letztgenannter hier bei einer Coverversion eines Songs aus dem Solo-Schaffen von Pearl Jam-Frontstimme Eddie Vedder mitmischt? Dass sich diese Nummer dann noch ganz organisch in den Albumfluss einfügt und man sich immer wieder kopfüber in die Platte schmeißen möchte, die so voller Schmerz, so voll herrlicher Melancholie, aber vor allem so voller Leben steckt? Ach, herrje – man weiß es nicht. Man will’s auch gar nicht wissen, denn im Zweifel aller Zweifel ist’s all das. Doppelt. Dreifach. Gleichzeitig. Und es ist einfach so toll, dass man lediglich kritisieren mag, dass dem Album kein Booklet beiliegt.

mehr…

3.  Pianos Become The Teeth – Drift

Es gibt Bands, Alben und Songs, die einen vom ersten Moment an mit ihrer Atmosphäre und ihrer wunderbaren Unmittelbarkeit einfangen und so schnell auch nicht mehr loslassen. Pianos Become The Teeth wurden für mich anno 2014 mit ihrem dritten Langspieler „Keep You“ zu einer solchen Band (und schafften es damals auch völlig zurecht aufs Treppchen der „Alben des Jahres„). Ihr vorheriges Post-Hardcore-Brülloutfit war (und ist) mir im Gros herzlich schnuppe, aber mit ihrem einschneidenden Wechsel hin zu melancholischem Emo-Indie und mit den ersten Tönen des „Keep You“-Openers „Ripple Water Shine“ war ich unwillkürlich schockverliebt. Nach dem auf hohem Niveau stagnierenden 2018er Album „Wait For Love“ besitzt „Drift“ nun wieder diesen „Ripple Water Shine“-Effekt, denn das Album ist schlichtweg schonungslos emotional – in Ton und Wort. Dicht gewebte, hallende Rhythmen, melancholische Melodien und wenige, gut dosierte laute Momente. Dazu singt Kyle Durfey seine persönlichen Texte, die vom Leben und oft von dessen Schwere handeln. In „Pair“ etwa davon, wie Durfeys Frau Lou (die in vier Stücken namentlich genannt wird) und er lange auf ihren Nachwuchs warten mussten. Wie es sich für richtig gute Alben gehört, wechselt die Lieblingssongs von Zeit zu Zeit, neben der Übernummer „Genevieve“ sticht etwa das repetitive, an Radiohead erinnerte „Easy“ hervor. So oder so liefert die Band aus Baltimore, Maryland einmal mehr zehn wundervolle Tearjerker, zu denen es sich vortrefflich die Fäuste gen Firmament ballen lässt.

mehr…

4.  Frank Turner – FTHC

Apropos „liefern“, apropos „Fäuste gen Firmament“: Beides trifft natürlich auch auf Frank Turner zu, denn der britische Punkrock-Barde scheint Schlaf so nötig zu haben wie ein Uhu eine Badekappe. Nicht nur hat der 41-jährige Musiker bereits über 2.700 Shows unter eigenem Namen gespielt (etwa 140 allein in diesem Jahr, zudem fand mit den „Lost Evenings“ gar ein eigenes Festival in Berlin statt), er trägt das Herz auch am richtigen Fleck und liefert im Zwei- bis Drei-Jahres-Turnus auch verlässlich Alben ab, zu deren Songs man nur allzu gern die geballte Patschehand gen Himmel strecken und ein bierseliges „Aye, mate!“ ausstoßen möchte. Daran ändern die 14 Nummern (beziehungsweise 20 in der Deluxe Edition) von „FTHC„, seinem nunmehr neunten Studioalbum, mal so rein gar nix. Und so vielseitig, so frisch klang der nimmermüde Turner schon lange nicht mehr. Frank und frei – Sie wissen schon… Und wem bei „A Wave Across A Bay“, seinem Tribute an den zu früh verstorbenen Frightened Rabbit-Buddy Scott Hutchison, nicht das Herz holterdipolter gen Schlüppi rutscht, der hat statt pochendem Muskel nur einen ollen Betonklotz in der Brust sitzen…

mehr…

5.  Dreamtigers – Ellapsis

Nerds wissen es freilich längst: Die meisten Fachsimpeleien über Musik stützen sich manches Mal schon sehr auf eine Art von Genre-Taxonomie, bei welcher sowohl Kritiker als auch Fans Songs und Alben in verschiedene Bestandteile zerlegen und die Anatomie der verwendeten Formen in erkennbare Strukturen unterteilen. Doch was für die einen nützlich erscheinen mag, um dem lesenden Gegenüber Empfehlungen zu geben, dürfte all jene, die sich eben nicht knietief im musikalen Nerdtum bewegen, schnell abschrecken. Ein recht gutes Beispiel, dass man bei Empfehlungen lange wie kurze Wege gehen kann, ist „Ellapsis“, das zweite Album von Dreamtigers, einem Bandprojekt, das sich aus Mitgliedern der Melodic-Hardcore-Helden Defeater und den Post-Rock-Größen Caspian zusammensetzt. Denn auf dem Langspieler, dessen Titel ein erfundener Begriff für eine Krankheit, die durch den Lauf der Zeit hervorgerufen wird, ist, passiert eine ganze Menge, und vieles davon scheint unvereinbar zu sein. Das erste, das Unmittelbarste, was man wahrnimmt, ist die beständig zwischen fragilem und mächtigem Momentum pendelnde Instrumentierung. Die Gitarren werden durch eine ganze Reihe von Effektpedalen gejagt, dazu kommen ein unscharf ins Rund tönender Bass und souveräne Drums. Einen Moment lang könnte man meinen, es handele sich um ein eher konventionelles Post-Rock-Album – bis der Jake Woodruffs Gesang einsetzt, der auch in einer Alt-Country-Band nicht fehl am Platz wäre. Überhaupt lassen sich die Stücke stilistisch nur schwerlich festlegen, denn während des gesamten Albums schimmern verschiedene Nuancen durch, die wie Lichtstrahlen durch einen Kristall fallen: Folk-Songs brechen in Post-Rock-Höhepunkte aus, Indie-Rock-Hooks huschen durch Shoegaze-Atmosphären, wobei Gesang und Songwriting stets unbehelligt von dem akustischen Wirbelsturm aus Effektpedalen und treibenden Schlagzeugmustern um sie herum bleiben. Fast könnte man meinen, dass die Songs so sehr auf akustische Soloauftritte zugeschnitten zu sein scheinen, dass die üppigen, hymnisch empor steigenden Arrangements, welche mit ihrer Dringlichkeit und latent aggressiven Energie ein ums andere Mal an Defekter erinnern, fast trotzig klingen. Dennoch kommt man der Sogwirkung dieses Albums als Ganzes (ganz ähnlich wie bereits beim kaum weniger tollen 2014er Vorgänger „Wishing Well„) nicht wirklich nahe. Denn wie auch immer man das Zusammenspiel zwischen Instrumentalem und Gesang beschreiben mag, was bei dieser Platte wirklich heraussticht, sind all die Meditationen über das Verfliegen der Zeit und wie die Band aus Massachusetts hier selbst die flüchtigsten Momente ewig erscheinen lässt. Selbst die längeren Songs von „Ellapsis“ fühlen so kurz an wie die kürzeren, während die kurzen den längsten ebenbürtig erscheinen, und das Album als Ganzes hallt weit über seine lediglich dreißig Minuten Laufzeit hinaus. Angefangen beim Opener „Six Rivers“ umspülen einen die Stücke wie ans Ufer schlagende Wellen, die mit den Gezeiten verebben und fließen. Wenn der Albumabschluss „Stolen Moments“ schließlich sein Ende findet, fühlt es sich beinahe so an, als ob der Schlusschor schon ewig hinter dem Universum her gesummt wäre.

mehr…

6.  Pale – The Night, The Dawn And What Remains

Pale melden sich ein allerletztes Mal zurück – einerseits ja wunderbar, wären die Gründe für das unerwartete Comeback keine so traurigen. Umso schöner, dass die Aachener Indie-Rock-Band mit „The Night, The Dawn And What Remains“ umso trotziger sowohl ihre Freundschaft und den gemeinsamen Weg als auch das Leben feiert. Macht’s gut, Jungs – und danke für diese wundervolle Ehrenrunde! #träneimknopfloch

mehr…

7.  Muff Potter – Bei aller Liebe

Und wo wir gerade bei Comebacks wären, sind Muff Potter in diesem Jahr freilich nicht allzu weit, denn: Alle kommen sie wieder, irgendwann und irgendwie. Das traf 2022 selbst auf ABBA zu, die 2021 mit „Voyage“ zunächst die ersten neuen Songs seit fast vierzig Jahren präsentierten, um im Jahr darauf ausverkaufte Hologramm-Konzerte in London zu „spielen“- getreu dem schwedischen Erfolgsmotto „Entdecke die Möglichkeiten“. Und auch in der Rockmusik konnte man zuletzt vermehrt das Gefühl bekommen, selbige bestehe nur noch aus Reunions einst erfolgreicher Bands, die in Ermangelung neuer Ideen versuchen, mit den alten noch einmal abzukassieren. Dann wiederum gibt es Truppen wie eben Muff Potter, denen es mit ihrem Albumcomeback nach schlappen 13 Jahren Pause gelingt, selbst eingefleischte Per-se-Skeptiker umzudrehen, weil man „Bei aller Liebe“ bei allem frischen Ideenreichtum die Zeit anhört, die seit dem Abschied mit „Gute Aussicht“ vergangen ist. Die Platte zeugt davon, dass das Leben eben auch ohne gemeinsame Band weitergeht, und es töricht wäre, all die Erfahrungen beiseite zu lassen, die man in der Zwischenzeit zwangsläufig macht. Und deshalb steht hier Blumfeld-artiges wie „Ein gestohlener Tag“ neben Instant-Hits wie „Flitter & Tand“ oder einem 72 Sekunden kurzen Punkausbruch wie „Privat“. Verschränken sich in Thorsten „Nagel“ Nagelschmidts Texten seine schriftstellerische Arbeit (sic!) mit dem Punk-Fan, den es auch mal einfach braucht. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass man Muff Potter – bei aller Liebe – keineswegs zugetraut hätte, noch einmal so viel zu sagen zu haben und sich musikalisch so offen zu zeigen – mit Kurzweil wie mit Tiefgang. Andererseits ist’s natürlich umso schöner, wenn die eigenen Erwartungen übertroffen werden und man eine lange Zeit auf kreativem Eis liegende Herzensband neu für sich entdeckt.

mehr…

8.  Cat Power – Covers

Dass Chan „Cat Power“ Marshall für ihre Coverversionen bekannt ist, dürfte sich mittlerweile auch bis zu den allerletzten Hütern des guten Musikgeschmacks herumgesprochen haben, immerhin hat die 50-jährige US-Musikerin im Laufe ihrer annähernd dreißigjährigen Kariere bislang zwei verdammt formidable Coversong-Alben veröffentlicht, auf denen sie von unbekannteren Bob Dylan-Nummern über Blues’n’Soul-Stücken bis hin zu abgeschmackten Evergreens wie „(I Can’t Getroffen No) Satisfaction“ jedem Song derart ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Stempel aufdrücken konnte, dass es eine wahre Schau war. Nach „The Covers Record“ (2000) und „Jukebox“ (2008) macht Cat Power nun mit „Covers“ das Trio voll und liefert erneut formvollendet-exquisites Coverhandwerk – ganz egal, ob die Originale von von Nick Cave and the Bad Seeds („I Had A Dream, Joe“), Lana Del Rey („White Mustang“), den Replacements („Here Comes A Regular“) oder Billie Holiday („I’ll Be Seeing You“) stammen. Ja, die Frau kann mit ihrer so wunderbar rauen, so unendlich tiefen Stimme kaum etwas falsch und sich so ziemlich jede Fremdkomposition zueigen machen.

mehr…

9.  Tristan Brusch – Am Rest

Wie bereits in der dazugehörigen Rezension erwähnt, bin ich bei Tristan Bruschs dritten Album „Am Rest“ etwas late to the party, immerhin erschien die Platte bereits im Oktober 2021. Dennoch verpassen alle jene, die diese Musik gewordene Trübsalsfeierlichkeit ganz außen vor lassen, so einiges bei diesen Oden an das Ende der Dinge und an die Akzeptanz des Verlusts. Ja, im Grunde könnte es kaum bessere Stücke geben, um jenen so intensiv graumeliert schimmernden Tagen einen passenden Soundtrack zu liefern. Sucht wer die passenden Gegenstücke zu Max Raabes „Wer hat hier schlechte Laune“ (welches, wenn ihr mich fragt, übrigens als weltbeste Warteschleifenmusik für alle Kundendiesnthotlines taugen würde)? Nun, hier habt ihr sie – dargeboten von einem begnadeten Liedermacher, der alle nach billigem Tetrapack-Weißwein und zu vielen Marlboro-Kippen müffelnden, mieslaunigen Chansoniers ins piefige Bundesdeutsche überträgt.

mehr…

10. Betterov – Olympia

Freilich war die Vielzahl an Erwartungen, die an den Debüt-Langspieler von Manuel „Betterov“ Bittorf geknüpft waren, ebenso groß wie die Vorfreude auf neue Songs des gebürtigen Thüringers und Wahl-Berliners. Umso schöner, dass „Olympia“ diese Hürde beinahe mühelos nimmt und elf Songs präsentiert, denen man den Produzenten ebenso anhört wie die Platten, die beim Schreiben wohlmöglich im Hintergrund liefen. So mausert sich Betterov vom Newcomer-Geheimtipp zum amtlichen Senkrechtstarter, der völlig zurecht einen Platz in meinen persönlichen-Jahres-Top-Ten einfährt. Olympia-Norm? Vollends erfüllt.

mehr…

…auf den weiteren Plätzen:

Husten – Aus allen Nähten mehr…

Casper – Alles war schön und nichts tat weh

Death Cab For Cutie – Asphalt Meadows mehr…

William Fitzsimmons – Covers, Vol. 1

Caracara – New Preoccupations mehr…

Eddie Vedder – Earthling mehr…

Black Country, New Road – Ants From Up There

Gang Of Youths – Angel In Realtime.

Spanish Love Songs – Brave Faces Etc. mehr…

Faber – Orpheum (Live)

Die Nerven – DIE NERVEN

Ghost – Impera

Proper. – The Great American Novel mehr…

Rocky Votolato – Wild Roots mehr…

The Afghan Whigs – How Do You Burn?

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Das Album der Woche


Steiner & Madlaina – Wünsch mir Glück (2021)

-erschienen bei Glitterhouse/Indigo-

Knapp 150 Konzerte in den letzten Jahren, auf Bühnen vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das ist eine ganze Menge. Denn: Diese Zahl bedeutet noch viel mehr Tage auf Tour als „nur“ jene 150. Etliche Tage und Nächte in Tourbussen auf Autobahnen, von Show zu Show zu Show – mal als Vorband (etwa von Element Of Crime), mal als Headliner, mal auf Festivals. Zeit zum Schreiben von neuen Songs? Lediglich immer mal so zwischendurch, irgendwo in den Leerzeiten zwischen Soundcheck, Auftritt und Abfahrt. Das Aufnehmen der Songs aber, das erfordert bekanntlich etwas mehr Zeit. Dafür konnten die beiden Schweizerinnen Nora Steiner und Madlaina Pollina dann das ungeplant konzertfreie Jahr 2020 nutzen. Und brachten aus dem Studio „Wünsch mir Glück“ mit, ihr zweites Album und den Nachfolger zum viel beachteten 2018er Debütlangspieler „Cheers„.

Und wem vor knapp drei Jahren bereits ebenjenes gefiel, der wird auch mit den elf neuen Songs schnell warm werden. Denn im Gros bleibt das Duo, welches sich schon seit der Schulzeit kennt und seitdem gemeinsam auf der Bühne steht, seiner Linie treu. Auch in diesen vor allem für alle Kulturschaffenden nicht eben einfachen Zeiten thematisieren Steiner & Madlaina einige der großen Probleme unserer Gesellschaft, wie den Sexismus und das formvollendete Versagen der Menschheit, vor allem in ihrer Schweizer Heimat durch das Nichtstun, das Zusehen bei Menschenrechtsverletzungen und das Schulterzucken bei Dingen, die außerhalb der eigenen Staatsgrenze passieren, weil es das eigene Land, in seiner überheblichen Neutralität, vermeintlich nicht betrifft. Und sie behandeln auch die vergleichsweise kleinen, privaten Themen, die eigene Trennung oder das eigene Verlangen. Im Gegensatz zum Debüt, welches englische, deutsche und schweizerdeutsche Songtexte vereinte, sind Steiner & Madlaina auf ihrem Zweitling komplett deutschsprachig unterwegs. Nach wie vor schreiben die beiden unabhängig voneinander an den Texten – und diese Aufteilung fällt nun vor allem auf „Wünsch mir Glück“ deutlich ins Gewicht, da Madlaina Pollina, von der man ohne große Übertreibung behaupten kann, dass sie aus einer bekannten Musikerfamilie stammt (ihr Vater ist der italienischstämmige Schweizer Cantautore Pippo Pollina, ihr Bruder Julian Pollina ist auch hierzulande als Faber eine recht große Nummer), zum Beziehungslied neigt und Nora Steiner eher zur Rolle der Frau in der Gesellschaft. Auf jene, die Gesellschaft, werfen die beiden bereits im Opener einen ersten Blick. Dabei scheint „Es geht mir gut“ musikalisch erst einmal ein fluffiger Gute-Laune-Song zu sein. „Zu faul für jegliche Debatten / Bleib ich bei 40 Grad im Schatten“ regt jedoch vielmehr das süffisant brodelnde schlechte Gewissen des Hörers an, während dem nämlich eigentlich bewusst ist, „was rundherum der Mensch so tut“. Noch ein Knüppelschlag in die gemütliche Magengrube gefällig? Ja, gern doch! So wird etwa in „Heile Welt“ die bereits oben angesprochene Schweizer Gesellschaft, in ihrer Isolation, kritisiert: „Damit unsere heile Welt / Noch eine Weile hält / Halten wir uns raus / Nur so fühl’n wir uns zu Haus…“ Ein Klang gewordener Mittelfinger par excellence.

„Wenn ich ein Junge wäre (Ich will nicht lächeln)“ erinnert klanglich – und das bis hin zur typischen Gesangsphrasierung – ohne jeglichen Zweifel an Bands wie Ideal sowie die Neue Deutsche Welle und zerlegt wütend die teils immer noch bestehende gesellschaftliche Sicht auf die Frau, welche einfach nur noch nervt: „Wenn ich ein Junge wäre / Würde man mir mehr zutrau’n / Und wer bestimmt das Rollenbild der Frau“. Insgesamt überwiegen jedoch auf dem zweiten Album die Stücke, in denen beide teils wahnsinnig nah und unmittelbar wirken, so wie etwa bei „Prost mein Schatz“, in welchem Madlaina boshaft und larmoyant, jedoch jederzeit packend eine bevorstehende Trennung andeutet. Das Spannungsfeld zwischen dem polierten Song und dessen Botschaft mag an Größen wie Lana Del Rey erinnern, und in diesem grellen Zwielicht, wenn sie mit Witz von Alltagsabsurditäten erzählen und gekonnt zwischen politisch Heiklem und nahbar Privatem switchen, agieren die beiden Schweizerinnen einmal mehr mit beeindruckender Souveränität.

„So schön wie heute“ ist dem gegenüber ein recht fad geratener, fast schon gemütlicher Song über das Erwachsenwerden und juvenile Vergänglichkeit, während „Denk was du willst“ Zwischenmenschlichkeiten und Selbstzerstörung aushandelt. „Ciao Bella“ schlägt in eine ähnliche Kerbe wie schon „Wenn ich ein Junge wäre“ und mit sarkastisch spitzer Zunge tief ins Unrecht gegenüber Frauen. Hier versetzen die beiden sich in einen sexistischen Mann: „Oh Bella, ciao Bella / Komm und mach‘ mein Leben schöner“ wird der Anspruch dieses Machos an das weibliche Gegenüber im Refrain deutlich. Der Dummdreist-gestrige regt sich gleichzeitig auf über Frauen in Führungspositionen, erklärt Rechtfertigungen für niedrigere Bezahlung des weiblichen Geschlechts und das vermeintliche „Risiko“ bei der Einstellung aufgrund einer möglichen Schwangerschaft. Noch famoser geraten das sich in einen Furor steigernde „Klischee“ sowie der Titelsong, eine von einer einsamen Gitarre begleitete Geschichte zweier Menschen, die Zuneigung fürs Gegenüber spüren, bei denen es trotzdem nicht für mehr reicht – der kleine Tod der verflogenen Chance.

(Fotos: Promo / Tim Wettstein)

Obwohl die beiden in Zürich aufgewachsenen Schweizerinnen auf ihrem neuen Album nur auf Deutsch singen und englische Stücke dieses Mal fehlen, bewegen sich Steiner & Madlaina musikalisch auf ähnlichen Pfaden. Die Musik ist nach wie vor verspielt und ihre angenehmen Stimmen spielen da gern mit. Die Songs mögen im Vintage-Gewand schimmern, mögen mit ordentlich Sixties-Twang an Chanson, Jazz, Rock’n’Roll, Americana oder New Wave andocken – doch jeglicher Retro-Verdacht schwindet, sobald man eben die Texte hört. Das Schlagzeug von Leonardo Guadarrama sowie die dominanten Saiteninstrumente von Max Kämmerling (E-Gitarre) und Nico Sörensen (Bass) erzeugen mit unterschiedlichen weiteren Begleitern, wie etwa Synthies oder einem Chor im Hintergrund, eine durchaus abwechslungsreiche, live im Studio eingespielte Soundkulisse, die man gern irgendwo in der Umgebung des Indie-Folk-Pops einordnen darf. Und die oft genug überzeugt. Das fehlende Quäntchen mag man gern darauf schieben, dass diesmal an der ein oder anderen Stelle einfach der Aha-Neu-Effekt des Debüts ausbleibt. Nichtsdestotrotz haben die beiden charismatischen jungen Frauen mit „Wünsch mir Glück“ – der zugegebenermaßen etwas eigenartigen Optik des Albumcovers zum Trotz (die Dame auf dem Cover ist übrigens Anne, eine Freundin und Live-Fotografin von Nora und Madlaina, die sich bei einem Sturz vom Fahrrad einen Zahn ausgeschlagen hat)- elf neue Songs fürs kommende Konzert-Repertoire geschaffen, die mit Kritik, auch an sich selbst, keineswegs geizen und einem Sound, der dies im ersten Moment nicht immer vermuten lässt. File under: raffinierte Ambivalenz. Bleibt ihnen im Grunde nur zu wünschen, dass sie – um den Titel beim Wort zu nehmen – bald wieder das Glück haben auf der Bühne zu stehen…

— Steiner & Madlaina live 2021 —

  • 02.11.21 Stuttgart – Im Wizemann Club
  • 03.11.21 München – Ampere
  • 05.11.21 Magdeburg – Moritzhof
  • 06.11.21 Dresden – Beatpol
  • 08.11.21 Hamburg – Knust
  • 09.11.21 Bremen – Tower
  • 10.11.21 Münster – Gleis 22
  • 11.11.21 Essen – Zeche Carl
  • 12.11.21 Köln – Gebäude 9
  • 17.11.21 Freiburg – Jazzhaus
  • 19.11.21 AT-Wien – Chelsea
  • 20.11.21 Nürnberg – Korns
  • 22.11.21 Wiesbaden – Schlachthof
  • 23.11.21 Hannover – Musikzentrum
  • 25.11.21 Leipzig – Täubchenthal
  • 26.11.21 Erfurt – HsD
  • 27.11.21 Berlin – Hole44

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Der Jahresrückblick – Teil 1


npr-2019-music_albums_bkou-16x9_wide-ae30622e2f47c53ff50c84eed7e940400eda6e60-s800-c85

Was für Musik braucht man in einem Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf die Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie Schlechte – für Momente vergessen lässt. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2019 einmal mehr wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

 

sam fender1.  Sam Fender – Hypersonic Missiles

Knapp zwei Jahre lang hätte Sam Fender auch gut als Spiegel für das musikalische Konsumverhalten der ADHS-geschädigten breiten Masse herhalten können. Wer braucht schon noch Alben, wenn der Künstler des Vertrauens reihenweise Songs raushaut, die sich via Spotify und Co. doch allzu hervorragend in die persönliche Playlist integrieren lassen? Anders hier: Die elf zwischen 2017 und dem Erscheinungstag von „Hypersonic Missiles“ im September diesen Jahres veröffentlichten Stücke (von denen sich schlussendlich nicht einmal alle auf dem Album wiederfinden) waren vielmehr ein wahres Appetizer-Festival und so etwas wie die Deluxe Edition eines erwartungsfreudigen Spannungsbogens. Parallel zur Release-Strategie ließ sich eine immens wachsende Fanschar ausmachen, die den Newcomer im Londoner Hyde Park auf dieselbe Bühne mit Größen wie Bob Dylan oder Neil Young spülte. Was summa summarum nach Hype müffelt, mag wohlmöglich auch einer sein. Aber wenn, dann ist es im doch recht schnelllebigen Pop-Rock-Bizz einer berechtigtsten der vergangenen Jahre. Potential? En masse vorhanden.

Oder reiten Sam Fender und seine Band doch vielmehr auf der Retro-Welle? Schließlich reichen schon ein paar Töne zu Beginn des Albums, um Fenders Vorliebe für Bruce Springsteen als fast schon schamlos direkte, ehrwürdig inszenierte Verbeugung im Soundbild zu identifizieren. Die Saxophon-Soli im eröffnenden Titelstück und in „You’re Not The Only One“ fungieren als unverhüllte Hommage an den großen Clarence „Big Man“ Clemons – bis zu seinem Tod 2011 jahrzehntelang Springsteens wohl wichtigstes Puzzle-Stück in der berühmt-berüchtigten E Street Band – und sind gerade im Dialog mit dem Glockenspiel und der leicht zeternden E-Gitarre ein untrügliches Zeichen für expliziten Boss-Content. Der straighte Beat mit Achtziger-Touch in „The Borders“ und die Geschichte über unglückliche, zerrüttete und zerrissene Familien lassen sich als eine klangliche Addition zu Evergreens wie „Dancing In The Dark“, „Bobby Jean“ oder „No Surrender“ hören, während die Gedanken spätestens im ausgedehnten Outro (und vor allem der stellenweise doch recht flächigen Produktion wegen) zu The War On Drugs‘ „A Deeper Understanding“ wandern. Der feine, dezent hibbelige Unter-drei-Minuten-Ohrwurm “Will We Talk?“ hingegen könnte auch unter den Bannern New Jersey meets Newcastle oder Springsteen meets The Strokes‘ „Last Nite“ stehen – eine Wiederaufführung des altbekannten Dramas der verlorenen Jugend, jedoch eine mit neuer Dringlichkeit.

Geheimtipp-Sam-Fender-1024x700

Fest steht, erfreulicherweise: Samuel Thomas Fender hält dem Erwartungsdruck über den ersten (Ohren-)Eindruck hinaus problemlos Stand. Er ist nicht nur ein (weiterer) bleichgesichtiger Justin-Bieber-Lookalike-Hansel mit Gitarre, dem von irgendwelchen findigen PR-Managern ein leidlich interessanter Lebenslauf samt veritablen Referenzpunkten angedichtet wurde. Live ohnehin nicht. Wie er mit seinen Band-Lads agiert, unachtsam-juvenil die eigenen Stimmbänder strapaziert und sich am Ende verdutzt fragt, warum sich plötzlich so viele Menschen für einen 25-Jährigen aus North Shields im Nordosten Englands interessieren, der sich – ganz englisches Klischee – bis vor Kurzem noch mit dem Zapfen von Pints hinter dem lokalen Pub-Tresen über Wasser hielt, das besitzt schon ein gewisses Maß an unaufgesetztem Charme. Die Live-Version von „Use“ (oder eben zig im reduzierten Ambiente aufgenommene Live Sessions bei YouTube und Co.) dient insofern als Beleg, dass Sam Fender, lediglich vom Keyboard oder seiner E-Gitarre begleitet, durchaus in der Lage ist, dem Hörer auf beeindruckende Weise Volumen und Bandbreite seiner Stimmbänder um die Ohren zu pfeffern.

Ebenso erfreulich: Bei genauerem Hinhören überzeugt der junge Brite auch textlich. So hält er schlagenden Vätern und tablettenabhängigen Müttern ebenso den trüben Alltagsgrau-Spiegel vor wie der Masse von traditionell zum nächstbesten Absturz wankenden Binge-Trinkern („Saturday“). Das sinistre „Play God“ zeichnet autokratische Allmachtsfantasien, und seine ungefilterten Wahrnehmungen im beatlosen „White Privilege“ reichen von einer zur Kleingeistigkeit verdammten Generation über digitales Meinungszerfleischen bis hin zu den “old cunts“, die gemeinsam mit ihrer Upper-Class-Mischpoke und einer Horde aus tumben „Yes!“-Brüllern den Brexit (und dessen Chaos) verbockt haben: „The patriarchy is real, the proof is here in my song / I’ll sit and mansplain every detail of the things it does wrong / ‚Cause I’m a white male, full of shame / My ancestry is evil and their evil is still not gone“. Als zackiger Hit verpackt, thematisiert Fender zu treibenden Gitarren in „Dead Boys“ (welches bereits der 2018er Debüt-EP ihren Titel gab) die Ignoranz gegenüber der hohen Selbstmordrate junger Männer in seiner Heimat. Er, der selbst Freunde durch Suizid verlor, führt in der Herleitung mit „toxic masculinity“ einen Begriff aus der Soziologie an, dem er bereits im vergangenen Jahr auf „Friday Fighting“ Beachtung schenkte: „We close our eyes, learn our pain / Nobody ever could explain / All the dead boys in our hometown“. Fazit? In Indierock eingelegte Gänsehaut.

Sam Fender ist weder Problemlöser noch Analytiker, sondern aufgewühlter Beobachter und Zeichner von Verzweiflung. Irgendwo zwischen Herz, Hirn, Seele und Arschtritt treffen zwischenmenschliche Geflechte und Pub-Talk auf geo-, sozio- und gesellschaftspolitische Themenkomplexe. So wohnt dem Namenspatron der Platte, „Hypersonic Missiles“, ein morbider Zauber inne. Während die Welt unter Raketenbeschuss zugrunde geht, blüht die Beziehung zweier Liebender auf. Fender selbst bezeichnet das Stück als eine verkappte Liebesgeschichte: „This world is gonna end but ‚til then I give you everything I have“ – ein Boss-Move galore (ebenso übrigens wie die augenzwinkernde Behauptung des 2019er Senkrechtstarters, mit seinem Langspiel-Debüt so etwas wie „eine Emo-Version von ‚Darkness On The Edge Of Town‘“ im Sinn gehabt zu haben). Nach den rauschhaften Rocknummern und einem dicken Paket an Hits versteckt der Mittzwanziger zum Ende des Debüts in „Leave Fast“ einmal mehr eine seiner springsteen’schen Fluchtpunktperspektiven. Hieß es anno dazumal beim US-Vorbild noch „We gotta get out while we’re young“ oder „It’s a death trap, it’s a suicide rap“, singt Sam Fender nun mit Blick auf seine politisch vernachlässigte Kleinstadt und Heimat „Leave fast or stay forever“. Entkontextualisiert bitte letzteres. Denn obgleich Sam Fender – zum Glück – kein Kaschemmen bespielender Geheimtipp mehr sein mag, so ist der Brite doch ein gern angenommenes Geschenk. File under: Die Frontmänner von The Gaslight Anthem und The Killers treffen sich im englischen Pub zum schwarzhumorigen Springsteen-Tribute-Abend. Rein zufällig würde man Sam Fender denn noch genau zwischen ebenjene Brian Fallon und Brandon Flowers ins Albumregal einsortieren… Aber an Zufälle glaube ich sowieso nicht. Von daher: (m)ein verdientes Album des Jahres.

 

 

thees uhlmann2.  Thees Uhlmann – Junkies und Scientologen

Die Schönheit der Chance: Thees Uhlmann musste erst seine Begleitband neu durchmischen, musste erst ein missglücktes Album in die Studiotonne werfen, damit ihm „Junkies und Scientologen“ gelingen konnte – und das ist mit seinem Töne gewordenen Lebenshunger und Optimismus, mit seinem Füllhorn an verschmitzten popkulturellen Anspielungen eine der zweifellos wichtigsten (deutschsprachigen) Platten des Jahres. Klingt 2019 sonst – und selbst beim Radiopop von Abwegig-Popsternchen Billie Eilish („bad guy“) – allzu oft hülsenreich bedeutungsgeschwängert, ernst und schwer, so geht „Uhlo“ auf seinem dritten Solo-Album, auf das seine Fans geschlagene sechs Jahre warten mussten, viele Dinge wieder etwas anders an, bringt – nach dem tollen Einstieg „Fünf Jahre nicht gesungen“ – schon in den ersten vier Stücken drei popkulturell gefärbte Liebeserklärungen – und sprechsingt in bekannt-unnachahmlicher Manier in „Danke für die Angst“, „Avicii“ und „Was wird aus Hannover“ nicht nur über den (ohnehin gerade oft Tribut gezollten) Horror-Kultautor Stephen King, den im vergangenen Jahr jung verstorbenen schwedischen Pop-DJ und die niedersächsische Landeshauptstadt (als Metapher für bundesdeutsche Verdienstrocker wie die Scorpions), sondern das Leben an sich als stetig buntes Wunder (der kaum weniger tolle, gleichsam sympathische Gisbert zu Knyphausen brachte es vor ein paar Monden mit der Zeile „Die Welt ist grässlich und wunderschön“ auf ebenso treffliche Weise auf den Punkt) Ob in Dur oder in Moll, in melancholischen Balladen oder enthusiastischem Indierock, ob in der Spingsteen’esken Musik-Lobpreisung „100.000 Songs“ oder dem stillen Nachruf „Menschen ohne Angst wissen nicht, wie man singt“: Überall blickt Uhlmann mit so viel Wärme und Mitgefühl auf das Leben, schüttelt locker, beschwingt, federleicht und selbstsicher die Hits und Punchlines aus den Ärmeln seines GHvC-Longsleeves, dass sich am Ende jede noch so gedehnte Silbe und jeder hemdsärmelig-ehrlich zurechtgebogene Reim absolut richtig, absolut gelungen anfühlt. Zumal „Junkies und Scientologen“ zwar von der erhabenen Alltagsphilosophie des Musikers, der 2015 mit „Sophia, der Tod und ich“ auch unter die Romanautoren ging, lebt, dazwischen aber immer wieder klare Haltung aufblitzt: die Leadsingle, das sechsminütige Titelstück oder das im Grunde doch recht alberne „Katy Grayson Perry“ lassen in nur wenigen Worten durchblicken, was von Nationalismus und Misogynie zu halten ist – ein Mittelfinger mit Herz(chen). So ist „Junkies und Scientologen“ nicht nur Uhlmanns bisher gelungenster Alleingang (der obendrein in der erweiterten Version noch mit feinen Coverversionen von Künstlerinnen wie Sophie Hunger oder Judith Holofernes punktet), sondern irgendwie auch wie ein Kneipenabend mit einem alten Freund: Danach mag zwar noch immer derselbe nasskalte Herbstregen auf einen hinab prasseln, aber die Welt, sie fühlt sich ein kitzekleines Stückchen sonniger und heiler an.

mehr…

 

 

better oblivion community center3.  Better Oblivion Community Center – Better Oblivion Community Center

Sollte heutzutage noch jemand Liebeskummer haben oder an gepflegten Selbstzweifeln laborieren, so sind Conor Obersts Bright-Eyes-Veröffentlichungen von „Letting off the Happiness“ bis mindestens „Cassadaga“ nach wie vor eine gute Soundtrack-Adresse. Doch die Zeiten sind komplizierter geworden, und auch Oberst selbst, mittlerweile eigentlich teenage angst-ferne 39 Lenze alt, strauchelte in den letzten Jahren mit mal feinen, mal jedoch auch mittelmäßigen Soloalben oder recht altbacken dadrockenden Americana-Projekten – auch wenn jüngst mit der zusammenhängenden Doppel-Veröffentlichung von „Ruminations“ und „Salutations“ die Alt.Country-meets-Indiefolk-Formkurve wieder nach oben zeigte (ersteres war anno 2016 gar ANEWFRIENDs „Album des Jahres“). 

Nun hat das „Wunderkind mit Reifegrad“ ausgerechnet in der 25-jährigen Songwriterin Phoebe Bridgers (s)eine gleichgesinnte Seele und Duettpartnerin gefunden – ebenjene Phoebe Bridgers, auf deren herausragendem Debüt-Longplayer „Stranger In The Alps“ er bereits bei der einsamen Nummer „Would You Rather“ zu hören war und die zuletzt mit dem boygenius-Projekt an der Seite von Lucy Dacus und Julien Baker überzeugen konnte. Gemeinsam stecken die beiden unter dem nebulös-vielsagenden Banner Better Oblivion Community Center das Feld zwischen Emo-Folk und Indierock neu ab, und anstatt wieder einmal die Mundharmonika hervor zu kramen, setzen sie bei „Exception To The Rule“ auch mal Synthies ein oder verschleppen bei „Sleepwalkin’“ die Gitarrenakkorde. Während Oberst hier an alte Glanzleistungen anknüpfen kann, ist es Bridgers, die mit einer ganz neuen Wandelbarkeit begeistert. In „Big Black Heart“ schreit sie sich das titelgebende schwarze Herz aus dem Leib. Im Kontrast dazu steht der Opener „Didn‘t Know What I Was In For“, in dem sie so einsam und verlassen wie der letzte Mensch auf der Welt klingt. Bei der durchaus fuzzig-hittigen Single „Dylan Thomas“ ist dann auch noch Yeah Yeah Yeahs-Saitenmann Nick Zinner an der Gitarre dabei, und selbst wenn die Ballade „Chesapeake“, welche Phoebe Bridgers als zarte Duett-Partnerin zeigt, die sich mit ätherischen Harmonien wie eine beruhigende Warmfläsche an Conor Obersts nervöse Stimme anschmiegt, nach dem ein oder anderen Tränchen verlangt und sich die Texte immer wieder in der Beschissenheit der Gegenwart verfangen, haben die beiden doch auch kleine Auszeiten eingebaut. Ganz zum Schluss heißt es in „Dominos“ sogar „If you’re not feeling ready, there’s always tomorrow“. Ergibt schon Sinn, dass Oberst und Bridgers ihr Bandprojekt Better Oblivion Community Center nennen und es zur Hauruck-Veröffentlichung im Januar gar mit mit einer fingierten Infobroschüre samt Hotlinenummer bewarben. Dieses Update schadet der alten Bright-Eyes-Sammlung auf keinen Fall, und der (beileibe nicht unkritische) olle Conor-Oberst-Ultra in mir jubiliert ohnehin einmal mehr.

 

 

steiner & madlaina4.  Steiner & Madlaina – Cheers

Schon bemerkenswert, was Nora Steiner und Madlaina Pollina, jüngere Schwester von Julian „Faber“ Pollina, da auf ihrem gemeinsamen Album „Cheers“ auf die Schweizer Beine stellen. Und selbst, wenn der scheinbar mühelos zwischen Stimmungen und Genres changierende Zehnerpack an Songs bereits 2018 erschien, so bleibt unterm Strich eines meiner liebsten (Herbst)Alben des Musikjahres. Hört, hört!

mehr…

 

 

greet death5.  Greet Death – New Hell

Wie ich vor einigen Wochen schrob: „Obwohl ‚New Hell‘, Great Deaths so unerwartet wie unverhofft grandios mit schwerem Herzen daher rockender zweiter Albumstreich, stellenweise recht introspektiv und keineswegs leichter Tobak ist, wurde schöner länger nicht mehr in aschfahl schimmernden Herbstdepressionsgewässern gebadet. Sollte man gehört haben!“

Stimmt natürlich immer noch. Dieses Ungeheuer von Album kam krachend durch die Tür, hat mich in seine Krallen genommen und bis jetzt nicht wirklich losgelassen. Greet Death, die Band dahinter, rückt aber auch jeden Knopf, der mich potentiell anmachen könnte: Emo, Indie Rock, Shoegaze, Post Rock – und dann alles einfach mal in einen Topf voll mit tiefstem Schwarz getaucht. Denn viel Sonne? Kommt hier nicht durch. Am meisten beeindruckt dabei die Wandlungsfähigkeit: Vom schweren Opener „Circles Of Hell“ (puh) zur leisen Folk-Ballade „Let It Die“ (uff) bis hin zum Fast-Popsong „Do You Feel Nothing?“ (verdammt) und dem übergroßen „You’re Gonna Hate What You’ve Done“ (jeez). Dauerschleife seit Release, mit Tendenz zum Grower über alle Maßen. Und belegt daher, als Album, in das man sich Hals über Kopfhörer fallen lassen kann, als überraschender Späteinsteiger einen verdienten vorderen Platz in den Langspieler-Bestenliste. Geheimtipp des Jahres.

mehr…

 

 

tool6.  Tool – Fear Inoculum

Die unmögliche Platte. Der BER würde früher fertiggestellt sein als dieses eine Album, hieß es. Axl Rose wäre bereits neidisch, hieß es. Dreizehn Jahre nach „10,000 Days“, als wirklich niemand mehr tatsächlich daran glaubte, gaben uns Tool: den Rest, das Maximum, die neuste, die eventuell endgültige Selbstverortung. Und das Album, das sich langfristig vielleicht nicht als ihr bestes, dafür jedoch als jenes mit dem größten Tool-Trademark-Faktor erweisen wird – ihre Visitenkarte ab sofort, wenn man so mag. 

Nach allem, was zum fünften Album der zweifellos wichtigsten Band des Alternative Metal geschrieben wurde – nicht zuletzt in all den Jahren bevor „Fear Inoculum“ tatsächlich erschien -, sucht man instinktiv nach einem der weniger ausgelatschten Pfade, um sich den fast 90 Minuten zu nähern. Zum einen holt einen das Album genau da ab, wo Tool 2006 den letzten Ton auf Band gespielt hatten. Ein klares Soundkonzept, so archaisch und selbstbestimmt wie in den ersten Momenten von „Sober“ oder den letzten von „Rosetta Stoned“, ohne aufgeblasene Production Values und übermäßige technische Kosmetik. Alles, wirklich alles auf „Fear Inoculum“ ist Handwerk, so bestechend, dass einem die kleinen Ungenauigkeiten, die diese Band nie durch Quantisierung glattbügeln würde, die Haare zu Berge stehen lassen. Das vielschichtige Schlagzeugspiel, die mittenlastige Gitarre, der wuchtige Bass: Das, was den Sound von Tool so ikonisch, so unverwechselbar macht, ist seine Konsequenz. Leicht haben es sich Danny Carey, Adam Jones und Justin Chancellor dabei nicht gemacht. Die sorgfältig gebauten Prog-Spannungsbögen, die sie ihrem Sänger zu Füßen legen, nimmt Maynard James Keenan mit bis dato ungehörter Disziplin und Eleganz auf (wenngleich sich der oberflächlich kreative Anteil des seit eh und je enigmatischen Frontmanns auf den neusten Stücken etwas geringer als noch auf früheren Werken gestaltet). 

Klar: Eine Band, die in 29 Jahren gerade einmal fünf Alben veröffentlicht, aber trotz alledem als eine der relevantesten Metal-Bands des Universums und als lebendes Gesamtkunstwerk gefeiert wird, sklavisch verehrt wird von (s)einer Heerschar von Die-Hard-Fans, die sich auch exorbitante Preise für die audiovisuellen Leckerbissen eines Tool-Artworks vom Munde absparen, konnte mit „Fear Inoculum“ musikalisch nicht wirklich etwas falsch machen. Allen Unkenrufen zum Trotz ist das Album trotzdem genau das monströse Meisterwerk geworden, das man sich gewünscht hat. Und ebenjenes wird wohl mindestens 10.000 Durchgänge benötigen, um es im Ansatz zu begreifen…

 

 

amanda palmer7.  Amanda Palmer – There Will Be No Intermission

Um gar nicht erst den Anschein von Mansplaining zu erwecken – niemand mit Y-Chromosom kann einschätzen, was sich wie für eine Frau ändert, wenn sie Mutter wird. Im Falle von Amanda Palmer ermöglicht ihr drittes Soloalbum (das erste seit 2012, obwohl die Ex-Dresden-Dolls-Frontfrau andererseits keine wirkliche Kreativpause kennt) aber zumindest eine vage Vermutung.

Dass Palmer auf „There Will Be No Intermission“ über Themen wie Fehlgeburten, Abtreibungen und den Verlust von Freunden an das alte Arschloch Krebs auch aus eigenen Erfahrungen berichtet, sollte die wenigsten Fans und treuen Patreon-Unterstützer schockieren. Schließlich gehört sie zu jenen Künstlerinnen, die aus ihrem Privatleben und ihren innersten Gedanken nie einen Hehl machten, wie Unmengen von Tweets, Blog-Einträgen und Video-Tagebüchern ebenso zeigen wie das reine Ausmaß der oft autobiographischen Geschichten, die auf diesem nicht eben einfach zu hörendem Werk erzählt werden: Mehrere dieser epischen Diskurs- und Klagelieder knacken (fast) die Zehn-Minuten-Marke, einige davon sind recht monoton und karg mit Ukulele instrumentiert, als könnte der Drang, zu erzählen, kein großes Brimborium und keine ausgefeilten Songwritingprozesse abwarten.

So ist „Drowning In The Sound“ einer ebenjener liebgewonnenen Amanda-Palmer-Standards mit Stakkatoklavier und dramatischer Phrasierung, „The Thing About Things“ wiederholt das gleiche Prinzip an der Ukulele, bevor sich der Song zur Hymne aufbäumt. Ihre teils fast schon zynische Leichtfüßigkeit kann Palmer dennoch nicht ganz einbüßen: In „A Mother’s Confession“ lässt sie einen ganzen Frauenchor schmettern, dass trotz aller Probleme und Fehlerchen immerhin das Baby noch nicht tot sei; die Angst vor der Unberechenbarkeit des Lebens mit einer Zeile wie „Suicide, homicide, genocide – that’s a fuckton of -cides to choose from“ auszudrücken, würde auch nicht jeder einfallen – doch auch deshalb wird die 43-jährige Herzblut-und-Herz-auf-der-Zunge-Indie-Musikerin von ihrer Hörerschaft mit Haut und Haar geliebt. Im Gegensatz zu (insbesondere) den frühen Dresden-Dolls-Werken geschieht dies jedoch immer öfter in einem gemächlichen Dreivierteltakt und – bis auf Zoe Keatings Cello in „Bigger On The Inside“ – mit Fokus auf dem Piano (oder eben der Ukulele).

Mit dem Stream-of-consciousness-Mammutwerk „There Will Be No Intermission“ festigt Amanda Palmer endgültig ihre Stellung als Grande Dame in ihrem Genre (welches das auch immer sein mag). Nur der Albumtitel „There Will Be No Intermission“ stimmt hinsichtlich der vielen kleinen filmsoundtrackhaften Interludes, die Melodiefragmente oder Textzeilen der Songs aufgreifen, wohl nicht ganz. Mit diesen reizt die Platte die klassisch-altmodischen 80 Minuten Speicherkapazität einer CD fast komplett aus – und das, ohne – fernab von Easy Listening – an irgendeiner Stelle je zu langweilen.

 

 

last train8.  Last Train – The Big Picture

Hört man die Songs von Last Trains zweitem Album „The Big Picture“, so würde man diese durchaus rauschhaft-wilde, im besten Sinne gleichsam jung wie befreit aufspielende Rock-Orgie leichtfertig irgendwo zwischen San Francisco, Seattle, Manchester, Chicago und Down Under verorten, jedoch kaum in einer 100.000-Einwohner-Stadt im Elsass. Auch (und gerade!) deshalb ist das erstaunlich junge Quartett Frankreichs formidabelste Rockband des Musikjahres. Pas de discussion, sans doute!

mehr…

 

 

faber9.  Faber – I Fucking Love My Life

Im Jahr 2017 veröffentlichte der Schweizer Faber mit „Sei ein Faber im Wind“ sein Debüt, das Polka und Blechbläser mit kontroversem, bissigem Songwriting verband (und absolut zurecht ANEWFRIENDs „Album des Jahres“ wurde). Die einen lobten Julian Pollina in den Himmel, andere sahen in ihm nur einen Provokateur, der es verstand, seine Musik ins Scheinwerferlicht zu rücken (und überhörten somit dessen kluges Zerrspiel mit anderen Identitäten).

Zwei Jahre später liefert Faber nun den mit Spannung erwarteten und in Gänze deutlich reiferen, experimentelleren Nachfolger „I Fucking Love My Life“. Dort wettert er zwar immer noch am liebsten gegen die Millennials, Social Media und den Abstieg ins Spießbürgertum, aber die musikalische Untermalung kommt um einiges vielseitiger ums Eck: teils nur mit Akustischer („Ihr habt meinen Segen„), dann wieder mit größenwahnsinnigem Nölen, Streichern und Piano erforscht Faber die eigene Bandbreite und die seiner Band. Lange im Kopf bleiben Zeilen wie „Ich hab‘ mehr Highlights im Gesicht als im Leben“ oder auch „Ich würd‘ gerne Immobilienhaie fischen aus dem Zürichsee mit dir“ (und freilich die Kontroverse um den Vorab-Song „Das Boot ist voll„). Das Albumcover zeigt ihn im Stile eines Paparazzi-Schnappschusses im Morgenmantel mit Goldkettchen und Kippenschachtel – Großkotzigkeit, Mummenschanz und Ironie gehen bei Julian „Faber“ Pollina auch 2019 Hand in Hand.

mehr…

 

 

future teens10.  Future Teens – Breakup Season

„Breakup Season“ macht in der Tat auch all jenen mächtig Laune, die ihren Alltag längst jenseits der herzschmerzenden Zwanziger verbringen. „Bummer Pop“ nennen Future Teens, das aus Boston, Massachusetts stammende Viergespann, das Ganze dann. Und liefern mit den zehn Songs ihres zweiten Albums den wohl schönsten, himmelhoch heulenden Herzensbrecher-Indierock in der Tradition von Klassikern wie etwa Weezers „Pinkerton“, den man in diesem Herbst finden konnte. It’s breakup season, y’all!

mehr…

 

 

…und auf den weiteren Plätzen:

Various Artists – Tiny Changes: A Celebration of Frightened Rabbit’s ‚The Midnight Organ Fight‘ mehr…

BRUTUS – Nest mehr…

La Dispute – Panorama

The National – I Am Easy To Find mehr…

Enno Bunger – Was berührt, das bleibt. mehr…

Noah Gundersen – Lover mehr…

Frank Turner – No Man’s Land mehr…

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Song des Tages: Steiner & Madlaina – „Groß geträumt“


32215484_1616269905089506_7791170541523566592_o

Fotos: Facebook / Nils Lucas

Es scheint wohl kaum übertrieben, von den Pollinas als die talentierteste Schweizer Musikerfamilie zu schreiben: Zu einen wäre da Pippo Pollina, ein vor allem in der Eidgenossen-Republik (und im italienischen Sprachraum) bekannter Liedermacher, den man in Deutschland wohl am ehesten über seine Zusammenarbeit mit Konstantin Wecker kennen könnte. Zu anderen freilich Julian „Faber“ Pollina, der auch hierzulande mit seinem noch immer fulminanten 2017er Erstlingswerk „Sei ein Faber im Wind“ (damals ANEWFRIENDs „Album des Jahres„) sowie mit dem zwar etwas anders gelagerten, jedoch kaum weniger überzeugenden diesjährigen Nachfolger „I Fucking Love My Life“ und seinem ungewöhnlich bissigen Folkrockpop für Furore sorgt. Da könnte man glatt vergessen, dass seine Schwester Madlaina mit ihrem Duo Steiner & Madlaina ebenso tolle Musik macht. Und das wäre wahrlich schade…

4015698020434.jpgKennengelernt haben sich Nora Steiner und Madlaina Pollina auf dem Pausenhof eines Züricher Gymnasiums, wohnten weniger später auch in einer WG zusammen. Mittlerweile werden die beiden als eine der vielversprechendsten Zukunftshoffnungen der Schweizer Musiklandschaft gehandelt – nicht nur der Schweizer, möchte man schnell hinzufügen… Waren ihre 2015 beziehungsweise 2017 veröffentlichten EPs „Ready To Climb“ und „Speak“ zumeist noch sparsam und zurückhaltend instrumentiert (was wohl auch einem damals noch recht überschaubarem Budget geschuldet sein dürfte), wagen Steiner & Madlaina auf ihrem von Alex Sprave (Mando Diao, We Invented Paris, Me + Marie) produzierten, im vergangenen Jahr erschienenem Debütalbum „Cheers“ den Schritt zu üppigeren Arrangements, die Folk-Pop, Chanson und Rock auf durchaus ungewöhnliche Art und Weise vereinen.

Fünf deutschsprachige, vier englischsprachige und ein in schweizerdeutsch gesungener Titel haben es auf „Cheers“ geschafft, während ihrer Live-Auftritte (in Deutschland spielte das Duo bereits im Vorprogramm von Faber sowie jüngst von Die Höchste Eisenbahn) konfrontieren die beiden das Publikum auch schon mal mit italienischen und griechischen Texten – Multikulti als kultureller Modus Operandi, quasi. Die ersten drei in deutscher Sprache gesungenen Songs versprühen zusätzlich noch eine große Sehnsucht mit melancholischem Unterton, wie man ihn aus französischen Chansons (oder eben den Stücken von Madlainas Bruder) kennt. All das kann einen durchaus trügerisch euphorischen Charakter annehmen, wie man etwa im Refrain von „Wenn du mir glaubst“ hört, oder leicht einen balkan’esken Touch bekommen, wie im Liebesgeschichte-ohne-Anfang-Eröffnungsstück „Ich werd nie gehen“ (auch hier wieder eine kaum überhörbare Parallele zu Faber). In „Prost Hawaii“ indes trifft Vintage-Swing-Schlager-Pop der Siebziger auf Sechzigerjahre-Jingle-Jangle-Surferrock-Charme. „Hold“, der erste englischsprachige Titel, schleicht sich als stimmungsvoller Western-Soundtrack in düsterer-geheimnisvoller Manier an, irgendwann klagt noch eine bluesige Gitarre, zu der Nora Steiner und Madlaina Pollina barmend im Chor singen. Gänsehautmoment? Einer von vielen! „Riot“ hingegen, welches in anderem Arrangement bereits auf der „Speak EP“ zu hören war, gestaltet sich sehr perkussiv und dramatisch, „Das schöne Leben“ mag an seiner Oberfläche zwar als ein zum Tanzen einladender Schunkler erscheinen, ist textlich aber eine nachdenklich-kluge, fast schon schmerzhaft ironische Abrechnung mit der jugendlichen Übeflusskonsumgesellschaft. „Reckless Love“ ist eine anmutig-zarte Dream-Folk-Pop-Nummer und die bewegende Trennungsballade „Groß geträumt“ eskaliert – Highlight! Highlight! – gar in einem fulminanten Rockgitarrensolo. Überbordend und opulent ist dann das Arrangement im Refrain von „Wait For It“, bevor das abschließende, Schwyzerdütsche „Herz vorus id Wand“ den weltfreien Folk-Pop von Zaz evoziert.

Steiner_Madlaina_Credit_Nils_Lucas-2

Steiner & Madlaina überzeugen auf „Cheers“ nicht nur mit ihrem abwechslungsreichen musikalischen Programm, sondern auch und vor allem durch ihre eindringlichen Texte, welche sich kunstvoll zwischen düster und optimistisch, rebellisch und feinfühlig, tiefgründig und trotzdem leicht bewegen und die von Anfang und Abschied, vom Loslassen und Festhalten erzählen. Es geht um Beziehungen, mal als Spiel, mal als Stellungskrieg – und immer gerät der jukeboxene Ritt durch Sprachen, Genres und Kontraste angenehm unromantisch. Neben den gleichsam unüberhörbaren wie wohl unvermeidlichen Einflüssen von Madlainas Bruder Julian „Faber“ Pollina (der den beiden Mittzwanzigerinnen auch ab und zu Musiker seiner Band „leiht“) klingen so – auch das erscheint logisch – auch andere All-Female-Duos wie First Aid Kit oder vor allem BOY an. In ihren besten Momenten tauschen Steiner & Madlaina Fallstricke wie Beliebigkeit und Befindlichkeit gegen durchaus sarkastische Zeitgeist-Spitzen fernab jeder Studentenbude ein. Das Ergebnis ist ein einnehmend nostalgisch-melancholischer Sound, der vor allem den Pollinas wohl im Blut zu liegen scheint. Darauf trinke ich. Cheers!

 

 

„Was bringt mich zum Weinen
Wenn wir beide streiten
Belanglosigkeiten
Bist es du, bin es ich
Oder die Ahnung
Für immer gibt es nicht
Wie lange können wir’s ertragen
Dass wir noch mehr erwarten
Als was wir zusammen wagten

Hast du auch so viele Fragen
Warum konnte ich’s dir nie sagen
Dieses rücksichtsvolle Schweigen
Um nur Zuneigung zu zeigen
Erst hat es was gebracht und uns dann
Kaputt gemacht

Die ganze Zeit
Bis zum letzten Streit
Bis zum letzten Glas
Das du aus Wut zerbrachst
Mit der Suche geboren
Hast du dein Ziel verloren
Während meins von Weitem winkt
Dein Selbstvertrauen sinkt
Bis dahin gut
Nichts zu bereuen
Wir hatten Mut
Um groß zu träumen, uns groß geträumt

Bald bin ich einmal mehr
Nur eine die ich war
Und die allein ins Leben kam
Ich weiß nicht mehr, wie viel was wiegt
Wenn die äußere Entfernung
Nach innen zieht
Wie oft fanden wir zurück
Wie viel hat dir noch gefallen
Bist du zu oft gegangen

Hast du auch so viele Fragen
Warum konnte ich’s dir nie sagen
Dieses rücksichtsvolle Schweigen
Um nur Zuneigung zu zeigen
Erst hat es was gebracht und uns dann

Die ganze Zeit
Bis zum letzten Streit
Bis zum letzten Glas
Das du aus Wut zerbrachst
Mit der Suche geboren
Hast du dein Ziel verloren
Während meins von Weitem winkt
Dein Selbstvertrauen sinkt
Bis dahin gut
Nichts zu bereuen
Wir hatten Mut
Um groß zu träumen, uns groß geträumt
Uns groß geträumt…“

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Song des Tages: Faber – „Das Boot ist voll“


50280479_2314422991911699_549162373961744384_o.jpg

Bild: Facebook

Eine gefühlte Ewigkeit hat’s gedauert, nun jedoch meldet sich Faber endlich zurück: Nachdem er bei Konzerten in diesem sowie dem vergangenen Jahr schon einige neue Stücke gespielt hat, zieht der 26-jährige Schweizer Liedermacher jetzt mit der überfälligen Album-Ankündigung nach. So wird “I Fucking Love My Life”, der Nachfolger des 2017er Langspiel-Debüts “Sei ein Faber im Wind” (seinerzeit völlig zurecht ANEWFRIENDs „Album des Jahres„) am 1. November erscheinen.

das-boot-ist-vollUnd bereits bei der ersten Single aus dem neuen Werk – dieses Stück dürfte Konzertbesuchern nicht gänzlich unbekannt sein – hält sich Julian „Faber“ Pollina, Sohn des italienischen Liedermachers Pippo Pollina, einmal mehr kaum mit klugen Anspielungen und provokant-politischen Aussagen zurück und verdient sich das Explicit-Label ebenso bewusst wie eindeutig: Bühne frei für “Das Boot ist voll” und das dazugehörige Musikvideo!

Und: Der talentierte Schweizer hat sich für die Vorbesteller seines neuen Albums etwas Besonderes ausgedacht: Wer hier ordert, bekommt das Album auf Vinyl und CD, ein eigens erstelltes Faber-Gossip-Magazin sowie ein Ticket für die Release-Tour in intimer Atmosphäre. Für die Konzerte, die zwischen dem 3. November und 9. Dezember stattfinden werden, kann man auf keinem anderen Weg Tickets kaufen (was bedauerlicherweise die berechtige Frage aufwirft, wieso alle, die mit einer weiteren Person teilnehmen wöllten, dann gegebenenfalls das Gesamtpaket doppelt und dreifach bestellen müssten).

Nichtsdestotrotz: Willkommen zurück, Faber! Deine musikalischen fiesen Spitzen werden auch 2019 kaum weniger wichtig sein als noch vor zwei Jahren…

 

 

„Früher war auch nicht alles schlecht
Das sieht man an der Autobahn
Ihr wärt auch traurig, gäbe es keinen Volkswagen
Wolfsburg – Geniestreich
Logisch denkt man da manchmal zurück ans Dritte
Das mit den Juden
Das muss man erst beweisen
Den Scheiß aus den Geschichtsbüchern muss man dir nicht zeigen
Du lässt dich nicht für dumm verkaufen
Wie schlau von dir

‚Das Boot ist voll!‘ schreien sie auf dem Meer
‚Ja, das Boot ist voll!‘ schreist du vor dem Fernseher

Wer schneller glaubt, wird schwerer klug
Das weißt du schon lang
Drum traust du keinen Medien in diesem Scheißland
Asylzentrum
Oops, das Haus brennt
Mal sehen wer hier am schnellsten
Am schnellsten rausrennt
Die wollten dich für dumm verkaufen
Aber nicht mit dir

Besorgter Bürger‚ ja
Ich besorg’s dir auch gleich
Geh auf die Knie, wenn ich dir meinen Schwanz zeig‘
Nimm ihn in den Volksmund
Blond‚ blöd‚ blau und rein

Besorgter Bürger, ja, ich besorg’s dir auch gleich

‚Jedem das Seine‘
Ja, das seien weise Worte
Haben die kein Brot zu essen?
Warum essen die nicht Torte?
Niemand ist mehr ehrlich
Nur der Horst hat dich nicht angelogen
Zu seinem Geburtstag werden sie alle
Alle abgeschoben

Du fühlst dich nicht mehr wohl in deiner Haut
Und manchmal auch allein
Ja‚ fremd im eig’nen Land
Ich fühl mich nicht mehr wohl in meiner Haut
Und manchmal auch alleine
So fremd wie du war mir noch keiner

Besorgter Bürger, ja
Ich besorg’s dir auch gleich
Geh auf die Knie wenn ich dir meinen Schwanz zeig‘
Nimm ihn in den Volksmund
Blond, blöd‚ blau und rein

Besorgter Bürger, ja, ich besorg’s dir auch gleich…“

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Der Jahresrückblick – Teil 1


-best-albums-2017

Was für Musik braucht man in einem Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf die Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie Schlechte – für Momente vergessen lässt. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2017 wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

 

 

faber1.  Faber – Sei ein Faber im Wind

Man kennt ja die Vorurteile gegenüber Schweizern: Reserviert seien sie, irgendwie meinungslos (oder mit selbiger stets hinterm Berg haltend), geheimniskrämerisch und außen vor. Nun, all das trifft auf Julian Pollina eben nicht zu.

Oder zumindest auf dessen alter ego Faber. Dessen Songs weisen den Mann als distinguierten Trinker, Raucher, Macker und Lebemann aus, der auch – wenn’s der Kontext denn erfordert – schon mal markige Worte wie „ficken“, „blasen“ oder „Nutte“ benutzt, sich die Häute seiner Landsleute überstreift und ihnen – ganz nonchalant, ganz un-schweizerisch – im Zerrspiegel ihre häßliche Fratze aus von Angst getriebenem Fremdenhass, oberflächlicher Geltungssucht oder gelangweilter Medien- und Konsumgeilheit vorhält. Dafür, dass das Ganze – in Form der Songs des Debütalbums „Sei ein Faber im Wind“ – nicht zur enervierend-hochgestochenen Gesellschaftsschelte gerät, sorgt die feine Liedermacher-Rock-Instrumentierung, die mal zu den Norddeutschen von Element Of Crime, mal zum Chanson á la Jaques Brel oder Leonard Cohen, mal auch gen Balkan schielt. Insgesamt stehen Fabers Stücke mit all ihrer unangenehmen Bissigkeit und Direktheit, mit ihrem Willen zur Kritik und dem unbedingten Wunsch, Salz in halb geschlossene Wunden zu streuen, in bester Tradition meines persönlichen Jahreshighlights von 2015, dem Debütwerk von Adam Angst. Dass all die unterhaltsame Zeitgeistigkeit aus der Feder eines Mittzwanzigers stammt, ist einerseits erstaunlich und lässt ebenso auf weitere Großtaten von Faber und Band hoffen…

mehr…

 

 

brand new2.  Brand New – Science Fiction

Brand New – absolute Herzensband, spätestens seit dem 2006 erschienenen und bis heute und wohl alle Ewigkeit nachwirkenden Album-Monolithen „The Devil And God Are Raging Inside Me“. Und hätten all das lange Warten auf ein neues Werk (das vormals letzte Album „Daisy“ stammt von 2009), all das Kokettieren mit der eigenen Bandauflösung (vor einigen Monaten boten Brand New T-Shirts mit dem Aufdruck „2000-2018“ zum Kauf an), all die mysteriös in weltweite Netz gestreuten (Falsch)Informationen und einzelnen Appetithappen in Form von neuen Songs wie „Mene“ oder „I Am A Nightmare“ die letzten Fan-Jahre nicht schon schwierig genug gestaltet, bekam die Euphorie um das am 17. August in einer erstaunlichen Nacht-und-Nebel-Aktion (digital) veröffentlichte neue Album „Science Fiction“ bereits kurz darauf einen erheblichen Dämpfer.

Es passt wohl zum Jahr 2017 und all den Enthüllungen rund um #meetoo (wozu ich ja bereits unlängst meinen „Senf“ abgelassen habe), dass ausgerechnet einer Band wie Brand New, die ja Zeit ihres Bestehens einerseits um die Wahrung ihrer Privatsphäre auf der einen Seite (was wiederum die mysteriöse Aura ihrer Songs noch verstärkte) und größtmöglicher Fannähe auf der anderen Seite bemüht war, nun die Verfehlungen ihres Frontmanns vorzeitig das Genick brechen (werden). Stand heute hat das Alternative-Rock-Quartett aus Long Island, New York seit Oktober alle für Ende 2017 und Anfang 2018 geplanten – und wohlmöglich letzten – Konzerttermine abgesagt. Und ob Jesse Lacey, Vinnie Accardi, Brian Lane und Garrett Tierney überhaupt je wieder gemeinsam auf einer Bühne stehen werden, darf angesichts der Begleitumstände bezweifelt werden…

Die zwölf Songs von „Science Fiction“, das der Band überraschenderweise ihr erstes Billboard-Nummer-eins-Album überhaupt bescherte, hätten diese unrühmliche Nebenschauplatz-Promo freilich nicht nötig gehabt, bilden sie doch in Gänze all das perfekt ab, was Fans der Band bislang so faszinierend und mitreißend fanden: Stücke, die sich mal Zeit bis zur nicht selten plötzlichen Eruption nehmen, während andere wiederum diese komplett verweigern. Eine enorme stilistische Bandbreite an Musikalität und Einflüssen, die kaum noch etwas mit jenen Pop-Punk-Anfangstagen des 2001 erschienenen Debütalbums „Your Favorite Weapon“ gemein hat, sondern sich – vor allem auf den letzten Alben – vielmehr auf Post-Hardcore- und Indie-Rock-Szene-Favoriten wie The Jesus Lizard oder Neutral Milk Hotel bezog. Und Jesse Laceys enigmatische Texte, welche den geneigten Genau-Hinhörer und Lyrik-Goldgräber geradezu dazu einladen, sich via Reddit und Co. tagelang in ihnen und ihren tausendfachen Deutungswegen zu verlieren. Dass die Songs zwar deutlich reduzierter als noch auf dem wütend und (ver)quer um sich beißenden Album-Brocken „Daisy“ daher kommen und all die düsteren, geradezu apokalyptischen Schauer und Vorahnungen auch mal zur Akustischen anbieten (während die Band anderswo, wie im grandiosen Song-Doppel aus „137“ und „Out Of Mana“, mit Gitarren-Soli-Ausbrüchen aufwartet), beweist, wie sehr Brand New über die Jahre als Band gewachsen sind. Dass Lacey im finalen „Batter Up“ noch wiederholt „It’s never going to stop“ verspricht, dürfte zwar für die nach wie vor ungebrochene Anziehungskraft der Brand New’schen Stücke gelten, nicht jedoch für die Zukunft der Band. „Science Fiction“ ist ein leider definitiver Schwanengesang. Und zum Glück einer, dessen Wirkung auch über Jahre nicht nachlassen wird…

 

 

gisbert zu knyphausen3.  Gisbert zu Knyphausen – Das Licht dieser Welt

Das am sehnlichsten erwartete Album des Jahres. Mein liebster deutschsprachiger Liedermacher. Die Erwartungshaltung an das neue, dritte Album von Gisbert zu Knyphausen hätte – auch durch das vorab veröffentlichte Titelstück – kaum höher sein können…

Vieles hat sich seit dem letzten, 2010 erschienenen Werk „Hurra! Hurra! So nicht.“ verändert. Und am meisten wohl Knyphausens Sichtweise auf das Leben selbst. Schuld daran dürften vor allem der plötzliche Tod seines Freundes Nils Koppruch im Jahr 2012 (kurz zuvor hatten beide noch als Kid Kopphausen noch ein gemeinsames Album in die Regale gestellt) sowie Knyphausens darauf folgendes, selbstgewähltes zeitweises Verschwinden in die musikalische Versenkung, welches er fürs Reisen und Gewinnen neuer Perspektiven und Eindrücke nutzte, gewesen sein.

Herausgekommen ist mit „Das Licht dieser Welt“ ein Album, das dem melancholischen Grau des Vorgängers nun vermehrt lichtdurchflutete Anstriche verpasst und mit „Teheran Smiles“ und „Cigarettes & Citylights“ sogar erstmals englischsprachige Songs aus der Feder des Liedermachers enthält. Für all jene wie mich, die sich über die Jahre so tief und fest in die Melancholie der Vorgängerwerke eingelebt haben, mag der 2017er Gisbert zwar Einiges an Gewöhnungsbreitschaft erfordern, wer jedoch, wie bei „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, dem großen Tribut an seinen Freund Nils Kopproch, nicht mindestens ein Tränenlächeln im Mundwinkel sitzen hat, dürfte aus Stein sein. Willkommen zurück, Gisbert!

 

 

brutus4.  BRUTUS – Burst

Besser, effektiver, überraschender und ungewöhnlicher durchgerockt als das Trio aus dem belgischen Leuven hat mich 2017 keine Band. Nuff said. Hörbefehl!

mehr…

 

 

father john misty5.  Father John Misty – Pure Comedy

Joshua Michael Tillman ist schon ein eigenartiger Kauz. Erst setzt sich der US-amerikanische Musiker jahrelang bei anderen hinters Schlagzeug (unter anderem in der Begleitband von Damien Jurado oder bei den Fleet Foxes), veröffentlicht nebenher etliche Alt.Country-Kleinode, die – trotz ihrer Großartigkeit – freilich unter dem Radar liefen, um dann ab 2012 als Father John Misty den groß angelegten Alleingang zu wagen. Das brachte ihm und den galant zwischen Seventies-California-Rock und Dandy-Chanson pendelnden Songs der ersten beiden Alben „Fear Fun“ (2012) und „I Love You, Honeybear“ (2015) zwar den Ruf des Kritikerlieblings ein, die breite Billboard-Masse fühlte sich von der Reichhaltigkeit seiner Werke jedoch – scheinbar – überfordert.

Ob sich das mit „Pure Comedy“ ändert? Darf bezweifelt werden. Besonders was die Texte betrifft – sind auch 2017 die ein- wie ausladenden Stücke des Fathers alles andere als leicht verdaulich. Denn Tillman geht es um nicht weniger als den Nukleus aus menschlich-philosophischer Existenz, apokalyptischen Vorahnungen und gesellschafts- wie konsumkritischer Revueschau, musikalisch versetzt mit Piano-Pop á la Billy Joel oder verschrobenem Songwriter-Folk wie einst bei Gram Parsons. Darf’s ab und zu noch eine Schippe Orchester-Pomp oder dicke Big Band-Soße sein? Aber gern doch! Und so tänzelt Josh „Father John Misty“ Tillman während der 75 Albumminuten scheinbar spielerisch zwischen tonnenschwer-kritisch und unterhaltsam-federleicht. Zum Entertainment-Gesamtpaket gehören auch die teils weirden Musikvideos zu „Total Entertainment Forever“ (in dem der einstige Kinderstar Macaulay Culkin als Kurt-Cobain-Verschnitt ans Kreuz genagelt wird, während Tillman seinerseits den Ronald McDonald gibt), zum Titelstück (eine Collage als bildhafte politische Gesellschaftskritik), zu „Things It Would Have Been Helpful To Know Before The Revolution“ (ein wunderbar geratenes Animationsvideo) oder „Leaving LA“ (ein passend intimer Clip zum mantraartigen 13-Minüter, welcher den Father im Studio zeigt). Und als wäre das noch nichts, hat der scheinbar um Dauerbeschäftigung bemühte Kreativling „Pure Comedy“ noch ein 25-minütigen Kurzfilm zur Seite gestellt, bevor im kommenden Jahr bereits das nächste Album erschienen soll… Der allumfassende Wahnsinn.

 

 

einar stray orchestra6.  Einar Stray Orchestra – Dear Bigotry

Wer ein Prise zuviel an reichhaltig instrumentiertem Indiepop, mehrstimmigen Chören und hippie’esk duftendem Pathos nicht scheut, für den war (und ist) „Dear Bigotry“, das dritte Werk der zur Band angewachsenen Norweger des Einar Stray Orchestra, ein gefundenes Fressen.

Und: Kaum ein Song bringt auch Ende 2017 die bedrohlich schiefe Weltlage besser zum Ausdruck als „As Far As I’m Concerned“. Isso.

mehr…

 

 

julien baker7.  Julien Baker – Turn Out The Lights

Mit den Songs ihres 2015 erschienenen Debütalbums „Sprained Ankle„, die die oft spröde aufleuchtende Intimität eines Jeff Buckley mit der teils bitteren Melancholie eines Elliott Smith vermengten, setzte eine aus Memphis, Tennessee stammende junge Newcomerin namens Julien Baker gleich mehrere Ausrufezeichen.

Mit dem zweiten Album „Turn Out The Lights“ setzt die 22-Jährige nun diesen Weg fort. Und während sich der Großteil der Stücke des Debüts noch musikalisch auf ihrer Fender Telecaster abspielte, entlädt die Musikerin all ihren juvenilen Herz- und Weltschmerz auf dem Nachfolger vornehmlich auf den weißen und schwarzen Tasten ihres Pianos. Anders, jedoch keineswegs schlechter. Und immer noch herzerweichend intim, herzzerreißend groß.

 

 

kettcar8.  Kettcar – Ich vs. Wir

Mittlerweile sieht auch die Band selbst es so ehrlich: Mit dem 2012 erschienenen Album „Zwischen den Runden“ war – zumindest vorerst – die Luft raus.

Also legten die fünf Hamburger eine Bandpause ein, während derer sich ihr Chef Marcus Wiebusch auf seine Solo-Karriere konzentrierte und als Ergebnis das formidable Album „Konfetti“ (Platz 4 in ANEWFRIENDs Bestenliste 2014) veröffentlichte, auf dem der ehemalige …But Alive-Punker einmal mehr verstärkt die Finger in gesellschaftliche Fleischwunden legte.

Selbiges tun nun auch Kettcar wieder. Und spätestens mit dem ebenso großartigen wie ungewöhnlichen und wichtigen Song „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ weiß man, wie sehr diese Band und ihr Pathos, ihr mahnender Zeigefinger, ihr Nicht-damit-anfinden der bundesdeutschen Indie-Szene gefehlt hat…

 

 

burkini beach9.  Burkini Beach – Supersadness Intl.

Verschrobener Singer/Songwriter-Pop made in Germany. Was bereits 2015 als vielversprechender Geheimtipp begann, findet in diesem Jahr – und mit den zehn Stücken des Debütalbums „Supersadness Intl.“ – seinen vorläufigen Höhepunkt.

Hinter dem eigenartigen Bandnamen steckt – ganz frei von Glamour – Rudi Maier, einst Teil des bayrischen Indie-Rock-Duos The Dope (welches ja seinerzeit selbst nie über den Status eines Geheimtipps hinaus kam). Und zaubert mal eben Songs wie das längst bekannte „Luxembourg“ oder die faszinierende Bonnie-und-Clyde-Lovesory „Bodyguards“ hervor…

Einen Extrapunkt heimsen Burkini Beach für die schönste Albumverpackung ein: Zwar wurde das Debüt (bislang) nur digital veröffentlicht. Wer jedoch via Bandcamp für verhältnismäßig schlanke 15 Euro zuschlägt, bekommt zum Download-Code noch ein fein aufgemachtes, 48-seitiges Hardcover-Buch mit dazu. Toppy!

 

 

love a10. Love A – Nichts ist neu

Die wütenden Punkpopper um Frontmann Jörkk Mechenbier lassen auch 2017 mit ihrem mittlerweile vierten Album „Nichts ist neu“ nicht nach und machen ebenso unnachgiebig wie unnachahmlich beinahe genau da weiter, wo Love A mit dem formidablen Vorgänger „Jagd & Hund“ anno 2015 aufgehört hatten.

Die zwölf neuen Stücke schlagen sich durchs Feld des „Wir schaffen das!“-Palavers von Mutti Merkel oder der selbstgerechten Wutbürgerei von Petry, Gauland, von Storch, Höcke und Konsorten und bieten all jenen eine Stimme, die viel zu oft durchs gesellschaftliche Raster fallen. Da poltert das linke Punkerherz freudig-fies gegen den Takt, während Mechenbier schon wieder Gift und Galle spuckt! Wichtig.

mehr…

 

 

…und auf den weiteren Plätzen:

Gang Of Youths – Go Farther In Lightness

Roger Waters – Is This The Life We Really Want?

Noah Gundersen – WHITE NOISE

Lorde – Melodrama

Judith Holofernes – Ich bin das Chaos

 

 

Persönliche Enttäuschungen 2017:

the nationalThe National – Sleep Well Beast

Es bleibt zwar dabei: Auch im 18. Bandjahr können Matt Berninger und Co. kein wirklich schlechtes Album veröffentlichen. Allerdings muss ich ebenso feststellen, dass ich auch nach mehreren Hördurchgängen – und trotz dem ein oder anderen tollen Einzelsong wie „Day I Die“ oder „Carin At The Liquor Store“ – nie so ganz warm mit dem im September erschienenen siebenten The National-Werk „Sleep Well Beast“ werde. Dafür verfranzt sich die fünfköpfige Band aus dem US-amerikanischen Cincinnati, Ohio auf ihrem neusten Album einfach zu oft im halbgaren Experiment, welches jedoch – und da liegt wohl der musikalische Hund begraben – viel zu oft ins Nirgendwo führt. Da kann auch eine Weltstimme wie die von Matt Berninger nix mehr rausreißen…

 

 

casperCasper – Lang lebe der Tod

Ähnliches gilt auf für Casper, dessen letzten beiden Alben „XOXO“ und „Hinterland“ ja 2001 beziehungsweise 2013 noch in meinen persönlichen Top 5 landeten.

Doch mit „Lang lebe der Tod“, welches bereits 2016 erscheinen sollte, bevor der Wahl-Berliner „Emo-Rapper“ die Veröffentlichung schlussendlich um ein komplettes Jahr verschob, werde ich nicht so richtig warm. Klar, die Trademarks des gebürtigen Bielefelders sind noch immer da: Benjamin „Casper“ Griffeys raue Stimme, die mal dicke Instrumentierung aus der Studiokonserve, mal via rockigem Bandsound nach vorn gepeitschten Songs. Und, wenn man so möchte, sind auch die Stücke selbst, in denen sich Casper auf Missstände im Jetzt, draußen in der Welt, aber auch im eigenen seelischen Milieu konzentriert, gut. Aber eben nur: gut. Das Gesamtbild von „Lang lebe der Tod“ wankt irgendwie unrund daher. Hat sich die verlängerte Wartezeit hierfür gelohnt. Leider nein. Leider gar nicht.

 

 

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,
%d Bloggern gefällt das: