Frank Turner – FTHC (2022)
-erschienen bei Polydor/Universal-
War es eine Prophezeiung? „Hey-ho, hey-ho, hey-ho / We’re heading out for the punk rock show!“ rief Frank Turner einem vor knapp zehn Jahren freudig auf „Four Simple Words“ entgegen, auf der bis dahin potentiell schnellsten und lautstärksten Nummer in seinem bisherigen Solo-Katalog. Und höre da – nach Jahren der Verdichtung der Formel des akustischen Folk-Punks – mal lauter, mal introvertierter – nimmt er einen auf Album Nummer neun nun tatsächlich zur waschechten Punk-Rock-Show mit…
Eines wird beim Hören von „FTHC„, welches als Akronym für „Frank Turner Hardcore“ bereits die ein oder andere musikalische Assoziationskette auslöst, schnell klar: Die Spielfreude des 40-jährigen britischen Musikers bricht nach der langen, Lockdown-bedingten Tourpause aus nahezu allen Albumecken hervor. Denn gerade einer wie Turner lebte – über 2.500 Shows in weniger als zwei Jahrzehnten sprechen da eine deutliche Sprache – bis zur jähen Corona-Zäsur bekanntlich vor allem on the road, wohl auch daher musste er die zuhause aufgestaute Energie also im Studio kanalisieren – und das bis zum Schluss, denn „FTHC“ vermeidet weise den damals nicht durchweg überzeugenden „Be More Kind„-Weg, im letzten Drittel nur mehr Balladen zu offerieren. Wer also hier den schmachtenden Lagerfeuer-Punk ähm… -Frank sucht, ist falsch abgebogen, denn der neue Langspieler hält – zumindest in der Standard-Version – kaum Balladeskes parat. Natürlich darf die Akustikgitarre auch 2022 recht wenig Staub ansetzen und mal hier, mal da aus dem Koffer kommen, ansonsten dominieren hier jedoch ordentlich hochgedrehte Regler und Stromgitarren-Musik, in einer für 14 Songs (in der Deluxe-Variante sind’s sogar noch sechs Stücke mehr) überraschend gelungenen Abwechslung aus krediblem Punk, herzerfrischendem Hardcore und – ja klar – eingängigem, schwitzigem Alternative Rock. Und wie sollte es anders sein, wird diese Melange natürlich stets angetrieben von Turners typisch authentisch-bodenständiger, Pub-folk’esker Erzählweise.

Schon der riskante Brüll-Opener „Non Serviam“ zeigt als schöne Finte und mit ordentlich Gift und Galle an Bord innerhalb von knapp zwei Minuten, dass Turners Hardcore-Affinität keineswegs Schnee von gestern ist (und wer’s nicht glaubt, der darf gern mal bei seinem Hardcore-Punk-Nebenprojekt Möngöl Hörde ein Ohr riskieren). Dabei dient die Nummer wohlmöglich auch als Gradmesser: Wer nach dem Song noch da ist, wird an und mit „FTHC“ einen Riesenspaß haben. Aller Lautstärke zum Trotz – und auch, wenn ole Frank hier vernichtend jegliche Autorität ablehnen mag – kann er jedoch selbst hier seinem Good Guy-Image nicht gänzlich entkommen: „Help the ones in need / Do your best to leave the others be“ skandiert er im Refrain, der genauso schnell vorbei ist, wie er mit wenig Anlauf die Tür eintrat.
Danach wird’s etwas gewohnter, denn die bereits im Mai 2021 veröffentlichte Single „The Gathering“ ist der klassische, sehnsüchtige Nach-dem-Lockdown-wird-es-irgendwann-wieder-Konzerte-geben-Song, welcher mit fettem Queen-Chor die lang ersehnte Wiedervereinigung in verschwitzten Circle Pits bildlich in Szene setzt (und ganz nebenbei mit namenhafter musikalischer Unterstützung von Muse-Schlagzeuger Dominic Howard oder US-Southern-Rocker Jason Isbell, der hier ein Solo beisteuert, aufwartet). Bevor der Konzertbetrieb nun – hoffentlich – endlich, endlich wieder etwas an Fahrt aufnehmen kann, nutzte Turner die vergangenen zwei Jahre nicht nur für (s)einen Umzug von trubeligen London nach Mersea Island, Essex, an die deutlich ruhigere englische Küste, sondern auch dafür, die lyrische Lupe etwas mehr auf sich selbst zu richten. Nach „No Man’s Land„, dem 2019 veröffentlichten Vorgänger, welcher ausschließlich Songs über beeindruckende Frauen und deren Geschichte enthielt, betreibt er auf „FTHC“ dabei mentale Nabelschau erster Güte. Offen wie eh und je verpackt Turner Themen wie mentale Gesundheit („Haven’t Been Doing So Well“, „A Wave Across The Bay“), Substanzmissbrauch („Untainted Love“ mit der durchaus therapeutischen Zeile „I sure do miss cocaine„) und das Aufbegehren gegen gesellschaftliche Stereotypen („Perfect Score“) in seine Lieder.
Besonders persönlich wird es im Dreiergespann aus „Fatherless“, „My Bad“ und „Miranda“, welches sich als Mini-Rockoper rund um dasselbe Thema dreht: Turners komplizierte Beziehung zu seinem Vater. Von den schwierigen Jahren seiner Kindheit und der Abschiebung ins verhasste Internat erzählt er im hookigen Uptempo-Rocker „Fatherless“ und sehnt sich nach einem „caregiver who had care to give„. Die zügellose Hardcore-Attacke „My Bad“ beschäftigt sich mit den Erwartungen, die an jemanden aus seiner gesellschaftlichen Klasse gestellt werden, und wie sein recht konträrer Rock’n’Roll-Circus-Lebenslauf dazu (eben nicht) passt. Ein quietschendes Gitarren-Lick läutet dann den bislang größten Plot-Twist mit „Miranda“ ein: „My father is called Miranda these days / She’s a proud transgender woman / And my resentment has started to fade„. Tatsächlich wartet die Nummer mit so etwas wie einem späten Happy End in groovendem Midtempo auf: Die Versöhnung des Sohnes mit seinem Vater, der seit Jahren als Frau lebt, und wie beide seither wieder eine gemeinsame, durchaus freundschaftliche Gesprächsbasis gefunden haben – „Miranda, it’s lovely to meet you„.
Und obwohl es Turners Songs in der Vergangenheit nie an hartem, von Herzen kommendem und zu selbigem gehenden Tobak mangelte, hält das neue Werk doch ein besonderes Beispiel parat: „A Wave Across The Bay“, welches sich mit dem Freitod seines guten Freundes und Frightened Rabbit-Sängers Scott Hutchinson im Jahr 2018 beschäftigt. Ähnlich wie bei „Song For Josh“ (vom 2015er Album „Positive Songs For Negative People„) bedauert er, die Zeichen nicht erkannt zu haben, die auf den seelischen Zustand seines Freundes hindeuteten – und setzt dem zu früh verstorbenen Wegbegleiter nun ein gleichsam emotionales wie hymnisches Denkmal, das Frightened Rabbit’esk gemächlich beginnt, um dann wie eine erlösende Welle über einen hereinzubrechen: „Like a wave across a bay, never breaking / Ever falling, never landing / Rolling slowly out to sea and always smiling…“ Uff. Klare Sache: Nach all diesen emotional umklammernden Songs muss man erst einmal durchatmen…

Zum Glück erinnert einen der Punk-Rock-Barde in dem etwas luftigeren und tanzbaren „The Resurrectionists“ auch daran, dass nicht alles im Leben immer einen tieferen Sinn ergeben muss: „We’re all just kids someone let loose into the world / Waiting for someone to explain the rules / And that’s all„. Doch Halt! Wer schreit denn da über den Chorus? Tatsache, Biffy Clyro-Frontmann Simon Neil leiht dem Songfinale seine nahezu unverkennbaren Screams. Und auch eine weiteres Easter Egg für Langzeitfans hält die Nummer bereit, denn Frank Turner liefert hier nämlich in der zweiten Strophe ein Update, wo die ganzen Charaktere aus „I Know Prufrock Before He Was Famous“ vom 2009er Langspieler „Love Ire & Song“ geblieben sind.
Einmal in Fahrt gekommen, liefert der britische Musiker, der bei diesem Album am Schlagzeug Übersee-Unterstützung von Ilan Rubin (Nine Inch Nails, Angels & Aiwaves) erhielt, weiter ab, segelt in vollem Uptempo in ein live wohl äußerst unterhaltsames, zackiges „Punches“, inklusive heftigem Kopfnicker-Riff im Refrain. „Perfect Score“ wäre auf früheren Alben akustisch und etwas entspannter instrumentiert ein schöner, luftiger Folk-Song geworden. Hier schrammelt alles, was sechs Saiten hat, zu einer feinen, zweieinhalb Minuten langen Blaupause für einen 1A-Rocksong. Ähnlich verhält es sich mit „The Work“, einer herzerwärmenden, in Alltagstrott getauchten Liebeserklärung an seine Frau: „Because we’ve both been doing our best / Skirting round the edges of perfect / Darling I know this / It’s the work that makes it worth it“.
Etwas ruhiger gibt sich Turner eigentlich nur auf der ersten Hälfte von „Little Life“ – und auch diesem spendiert er schließlich ein fast schon epochales Finish. Nach seinem Wegzug aus der alten Londoner Heimat blickt er sowohl in diesem Song als auch im abschließenden „Farewell To My City“ noch einmal wehmütig und nicht ohne Reue zurück, unternimmt sprechsingend einen letzten Spaziergang vorbei an all den von Erinnerungen gesäumten Pubs und Clubs, die ihn – nebst seinem durchaus ungesunden Lebensstil früherer Tage – in „Untainted Love“ mit etwas weniger Fortüne fast umgebracht hätten, bevor er schließlich in den Umzugswagen steigt – ein würdiger, einmal mehr lautstarker Abschluss einer Platte, die sich somit auch wie der Abschluss einer Ära anfühlt. Alles in allem ist „FTHC“ – mit welchem dem Musiker nun auch seine erste Nummer-eins-Platte in der englischen Heimat gelang – musikalisch mit Abstand Frank Turners härtestes und kompromisslosestes Solowerk, lyrisch eine Therapiestunde, melodisch ein ordentliches Fass voller Ohrwürmer. Ein herzerwärmender Genuss und eine gelungene, zu gleichen Teilen hungrige wie smarte, angriffslustige und selbstreflexiv innehaltende Werkschau dessen, wofür der Vorzeige-Folkpunk inzwischen steht.
Hier gibt’s alle Song im Stream:
Rock and Roll.