Nanu, denkt sich da Mancher – hat sich der Zwillingsbruder von The National-Frontstimme Matt Berninger nun auch dazu entschlossen, sein Seelenheil in der Musik zu suchen? Doch obwohl vor allem bei der ganz vorzüglich gelungenen – und wenn auch bitteren – Beziehungsabrechnung „The Letting Go“ der Eindruck entstehen könnte, dass hinter The Callstore ein weiterer Spross der Berninger-Clans stecken könnte (seit der abendfüllenden Dokumentation „Mistaken For Strangers“ kennen wir ja auch Matt Berningers jüngeren Bruder Tom), hat Simon Bertrand außer seiner wohlmöglichen Verehrung im Grunde so gar nichts mit der Band aus Cincinnati, Ohio gemein…
Nun, nicht ganz. Denn die Liebe fürs Melancholische, fürs Fallen in den Rinnstein, Abputzen und Weitermachen durchzieht auch die zwölf Songs des kürzlich beim französischen Label Talitres erschienenen Debütalbum „Save No One„. Der seit 15 Jahren in London lebende Mittdreißiger Bertrand sammelt darauf Balladen zwischen Schmutz und Fragilität, zwischen großem Reinemachen und kleiner Geste, wie ein düster-kalter Tag und ein wohlig-warmer Nachmittag am Kamin, zwischen Playstation (die Rhythmen wurden laut Auskunft der Plattenfirma samt und sonders mit so einem Ding programmiert) und hintergründigem Charme, zwischen Lo-Fi-Folk und muckerhafter Spielerei, zwischen Feuer und Flamme, mittendrin, zwischen Dunkelheit und Melancholie, zwischen Hoffnung und ergreifender Traurigkeit, die vom Leben erzählen will. Das weckt Erinnerungen, die auch vor dem großen Altmeister Leonard Cohen nicht Halt machen. Und ach, fast könnte man denken, dass auf dem Albumcover der traurige Joy Division-Fronter Ian Curtis durch Alltagsgrau marschiert…
„You’re right We’re not the same any longer Your chest holds no room for me You worked hard building this altar Now do what you believe needs to be Done to me Take it all away I know this loss is mine to take in Now that I have become This man for whom you feel nothing So please, forgive me when I’m holding back on to you Please, forgive me It’s the letting go that’s hard you know…
The end is not a new beginning And as thorough as you may be Without and within Your siege of silence echoes through me Already Already And your shadow lies beside me And though I know That when my arms are full, they’re empty The letting go The letting go It’s the letting go that’s hard you know…
Take it all away It’s the letting go that’s hard you know Take it all away It’s the letting go that’s hard you know It’s the letting go that’s hard you know…“
Lange lagen Teile, rohe Fragmente und Auszüge der folgenden Zeilen in meinen (digitalen) Notizbüchern. Immer und immer wieder habe ich gestrichen, ergänzt und am Ende doch überlegt: Soll ich tatsächlich über ein Album schreiben, dass mir so viel bedeutet, dessen einzelne Stücke sich dermaßen in meine eigene Biografie und Gefühlswelt gewoben haben, dass kaum noch klar ist, wo der Traum der Erinnerung endet und das real Passierte beginnt? Und: Wie werde ich werde ich dem Künstler damit gerecht? Kann ich das überhaupt? Dem kundigen Leser von ANEWFRIEND sollte der Name des Künstlers – Damien Rice – nicht fremd sein. Dem Rest sei seine Musik – auch aus aktuellem Anlass – wärmstens ans Hörerherz gelegt. Aber lest selbst…
Damien Rice – O (2002)
-erschienen bei 14th Floor/Eastwest/Warner-
Irgendwo am Anfang stand eine wundervolle Konzertnacht in der deutschen Hauptstadt. Mit einem mit Freunden vollbepackten, in die Jahre gekommenden Ford Fiesta hatten wir uns am 5. März 2003 auf den 150 Kilometer langen Weg begeben, um einen Künstler zu sehen, dessen Karriere damals – zumindest international – noch in den Kinderschuhen steckte – und das, ohne vorab Eintrittskarten in der Tasche zu haben (wir wollten welche ordern, aber so kommt es halt, wenn sich einer auf den anderen verlässt und es dieser dann schlichtweg verpennt – seitdem nehme ich das immer selbst in die Hand). Natürlich war Damien Rices Gastspiel im Berliner Knaack Klub ausverkauft – das kundige Hauptstadtpublikum ist bekanntlich immer etwas empfänglicher für neue Trends und Künstler. Zu unserem Glück konnten wir noch – wenn auch heftig überteuert, aber wenn man einmal 300 Kilometer Strecke auf sich nimmt, um genau diesen Musiker zu sehen, zahlt man eben drauf – Karten aus der „schwarzen Jackentasche“ für alle in unserer Runde bekommen und fanden uns so in der ersten Reihe rechts neben der kleinen Konzertbühne des Knaack Club wieder. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass wir alle zum ersten Mal Josh Ritter, einen damals ebenfalls noch komplett unbekannten Singer/Songwriter aus dem US-amerikanischen 24.000-Einwohner-Kaff Moscow, Idaho, kennenlernten (seine an diesem Abend dargebotene Version des anno dazumal noch unveröffentlichten Songs „Wings“ bereitet mir noch heute eine Gänsehaut!), sollte es eine geradezu magische Konzertnacht werden. Denn Damien Rices Vorstellung der Songs seines etwa ein Jahr zuvor im heimischen UK erschienenen Debütalbums „O“ (in Deutschland ließ sich die Plattenfirma unverschämterweise gar noch bis August 2003 Zeit) war schwer in Worte zu fassen – und ist es noch heute. Nein, dafür war einfach alles – der Abend, die Gegebenheiten, unsere Runde, natürlich Rice und seine Band, die neben Schlagzeuger und Bassisten damals freilich auch aus seinem weiblichen Vocal-Sidekick Lisa Hannigan und der Cellistin Vyvienne Long bestand, zu besonders. Und es macht mich bis heute noch ein wenig stolz, dass ausgerechnet ich es war, der unsere Runde mit dem virulenten Ohrwurmzauber der Stücke von „O“ infizierte. Zu recht sollte sich bald zeigen, dass wir nicht die einzigen waren, die Damien Rices Qualitäten erlagen. Denn „O“ – so kurz und geheimnisvoll dessen Titel auch sein möge – erzählt Geschichten, wie sie schöner und schmerzlicher, kitschiger und trauriger kaum sein könnten – wie das Leben selbst. Vom Süßen, dass – um hier mal ein Zitat aus meinem Lieblingsfilm „Vanilla Sky“ zu bemühen – ohne das Saure kaum so süß erscheinen würde. Vom Lieben. Und der Sprache des Herzens erliegt man freilich nur allzu schnell und leicht…
„We might kiss when we are alone / When nobody’s watching / We might take it home / We might make out when nobody’s there / It’s not that we’re scared / It’s just that it’s delicate“ – ebenso schüchtern wie um Charme barmend legt Rice, Jahrgang 1973 und vormals Teil der mäßig bekannten irischen Rockband Juniper, in den ersten Sekunden des Albumopeners „Delicate“ allein an seiner Akustischen los, bevor Vyvienne Longs Cello einsetzt. Herzerweichend? Dabei kommt erst in den darauf folgenden Stücken einer der entscheidenden Faktoren, der Rices Songs so rund, so nah und so berührend macht, hinzu: die Zweitstimme von Lisa Hannigan. Denn sie ist es, die Lieder wie das um zwischenmenschliche Differenzen und Anziehungen kreisende „Volcano“ („What I am to you / You do not need / And what I am to you / Is not what you mean to me / You give me miles and miles of mountains / And I ask for the sea“), das tausendfach in Filmen und Fernsehserien verwandte Liebeslied „The Blower’s Daughter“ oder das so hinreißend pragmatisch-euphorische „Cannonball“ aus- und großartig macht, im Duett in „I Remember“ später – verdientermaßen, freilich – gar ganze Passagen allein mit ihrer wunderbaren Stimme tragen darf. Dennoch sollte man nicht den Fehler machen, Damien Rice hinsichtlich der in der Tat vorherrschenden Liebeslieder auf „O“ als allzu lieblich-plakativen Schnulzenbarden zu stilisieren. Denn mit dem bitteren Doppel aus „Cheers Darlin'“ („Cheers darlin’ / Here’s to you and your lover boy / Cheers darlin’ / I got years to wait around for you / Cheers darlin’ / I’ve got your wedding bells in my ear / Cheers darlin’ / You give me three cigarettes to smoke my tears away“) und „Cold Water“ („Cold, cold water surrounds me now / And all I’ve got is your hand / Lord, can you hear me now? / Or am I lost?“ – diese Zeilen dürften dem einen oder der anderen ebenfalls aus allerhand namenhaften Serien bekannt vorkommen), das dem zu ertrinken Drohenden im Mittelteil einen Seemannschor zur Seite stellt, beweist der irische Singer/Songwriter, dass er auch die Schattenseiten der Liebelei zu vertonen weiß. Wer’s noch immer nicht begriffen haben sollte, dem stellt Rice im darauf folgenden „I Remember“, welches trügerisch lieblich als Boy-meets-Girl-Story beginnt, eine wahre Kakophonie aus gefühlsinduzierter Lautstärke zur Seite, auf die man so nicht vorbereitet gewesen sein konnte – „Come all ye reborn / Blow off my horn / I’m driving real hard / This is love, this is porn / God will forgive me / But I, I whip myself with scorn, scorn“ und weist die (ehemals) Liebste an, endlich Farbe zu bekennen: „I wanna hear what you have to say about me / Hear if you’re gonna live without me“. Dass er nach all dem Gefühlschaos – ob nun in der Großstadt, ob nun auf dem Land – den totalen Rückzug von Allem startet und in „Eskimo“ eigentlich nur noch seinen – jawohl – „Eskimo friend“ sehen möchte, ist dabei nur allzu verständlich. Und auch hier wartet Rices Debütalbum neben seiner Akustischen und den Streichern, wie an so vielen Stellen der gut 60 Minuten, wieder mit etwas Besonderem auf, denn gegen Ende lädt er die nordirische Opernsängerin Doreen Curran vors Mikro, um sie einige Zeilen auf finnisch (!) schmettern zu lassen. Dass der reguläre Abschluss des Albums (die ebenfalls grandiosen Hidden Tracks „Prague“ und „Silent Night“ mal außen vor) dann wieder einzig und allein Damien Rice und seiner Akustikgitarre gehört, passt einfach. Alles endet so, wie es begann. Doch die Stunde dazwischen verändert den Hörer, nimmt ihn mit auf eine Reise ins Innere seiner selbst. Und nur Steine kehren davon unverändert zurück…
Obwohl der schmächtige Singer/Songwriter mit dem vier Jahre nach „O“ – also: 2006 – erschienenen Nachfolger, welcher mit „9“ ebenso mystisch betitelt wurde, erfolgsmäßig in noch ganz andere Sphären vorstoßen sollte (Nummer 1 im heimischen Irland, immerhin Platz 22 in den US-Albumcharts, erneut etliche Soundtrack- und prominente Serienplatzierungen, ein Auftritt bei den Friedensnobelpreisverleihungen), und auch qualitativ keinerlei Rückschritte machte, umgibt „O“ bereits beim ersten Hören eine zauberhafte Patina, die sich auch ganze zwölf Jahre nach dessen Erscheinen (und weißgottwieviele Durchgänge später) in keinster Weise abnutzt. Mag man es Rices Talent, emotional fesselnde Songs zu schreiben, zuschreiben. Vielleicht spielen auch all die Geschichten, die man sich um seine Person erzählt (mal heißt es, er spielte sich als trampender Straßenmusikant durch halb Europa, mal, dass er einige Zeit als Blumenverkäufer im Süden Frankreichs seine Brötchen verdiente), eine gewichtige Rolle im nahezu mystischen Beieinander der Songs des Debüts (für dessen Grenzen ein perfekt inszeniertes, unverstelltes Singer/Songwritertum Feelgood-Klone/-Clowns á la James Blunt, Jack Johnson oder Chris „Coldplay“ Martin
sicherlich nur allzu gern töten würden). Dazu passte dann wieder, dass schon der Nachfolger „9“ textlich um einiges bitterer ausfiel, der Ire sich noch während der Tournee zum zweiten Album mit der für ihn und seine Musik so wichtigen Lisa Hannigan überwarf (nichts Genaues weiß man auch hier, sie entschwand jedenfalls aus der Band und aus Rices Leben) und Damien Rice selbst, dem der eigene Erfolg sowieso schon immer am zuwidersten und suspektesten erschien, für Jahre nahezu komplett von der Bildfläche verschwand – so lange, dass man befürchten musste, nie wieder einen (neuen) Ton von ihm zu hören zu bekommen. Dass man vor wenigen Tagen mit dem tatsächlichen Erscheinen von Album Nummer drei, „My Favourite Faded Fantasy„, bei welchem kein Geringerer als Überproduzentenlegende Rick Rubin eine gewichtige Rolle spielte, eines Besseren belehrt wurde, ist eine andere Geschichte, deren Saat vor mehr als zehn Jahren gelegt wurde. Die Zeit, sie vergeht – mal höre, man staune. „Amie come sit on my wall / And read me the story of O / And tell it like you still believe / That the end of the century / Brings a change for you and me / Nothing unusual, nothing’s changed / Just a little older that’s all“…
(Die Textfetischisten unter euch dürfen sich gern auf die Damien Rice-Fanseite eskimofriends.com berufen…)
Der Vollständigkeit halber hier noch die offiziellen Musikvideos der drei Singles „Volcano“, „The Blower’s Daughter“ und „Cannonball“…
…sowie Damien Rices im Rahmen der „BBC Four Sessions“ gegebenes einstündiges Konzert aus dem Jahr 2004, welches einen recht passablen Eindruck der Live-Qualitäten der Songs von „O“ vermittelt:
Hand aufs Reimemonsterherz: Wieviel hat der HipHop von Heute noch mit dem der Neunziger gemeinsam? Wieviel Bling Bling, Baggy Pants, dicke Protzkarossen, arschwackelnde, knapp bekleidete und doppelt überschminkte – Vorsicht: Jargon! – „Bitches“, windschiefe Kappen und breitbeinige Potenzposen finden heutzutage noch in den oberen Rängen des Deutschraps statt? Natürlich gibt es noch immer jene Unverbesserlichen, die meinen, dass ihnen ihre auf Billigkonservenbeats gestammelten Provokationssalven das Koks der nächsten Monate sichern würden. Doch der Großteil der „Generation HipHop“ hierzulande – altersmäßig irgendwo zwischen Anfang Zwanzig und Mitte Dreißig einzuordnen – hat mit „Entdecke die Möglichkeiten!“ das Motto eines schwedischen Möbelhauses beim Wort genommen und probiert nahezu scheuklappenfrei munter allerlei musikalische Spielarten aus. Rhymes’n’Lines zu GitarreSchlagzeugBass und/oder Piano? Beatkulissen, über die sich sanfte Postrock-Gewitter legen? HipHop zu akustischer Instrumentierung? Popmelodien mit Herz und Hirn? Alles geht, nichts muss… Deutlichster Beleg für diesen Drang nach organischen, authentischen Klängen dürfte wohl sein, dass längst niemand mehr sagen kann, wann, wie und mit wem all das wirklich angefangen hat. Mittlerweile musizieren Deutschrap-Ziehväter wie die Fantastischen Vier mit vielköpfigen Begleitbands in Höhlen, nehmen ehemalige Underground-Provokateure wie Prinz Pi beinahe komplett erwachsene Akustik-Alben auf, oder feiern erfahrene Hardcore-Shouter wie Casper vor einem Tausendpublikum große, bandgewordene Raprockorgien – der eine Arm immer zum Bouncen, der Kopf zum Denken und Bangen bereit. Gruppen wie die Chemnitzer von Kraftklub gehen sogar noch um Einiges weiter und winkeln ihren energetisch enervierenden, international festivaltauglichen Sprechgesang gänzlich um eine komplette Rockinstrumentierung… Am deutlichsten wird die Verschiebung weg vom puren, platten Posertum jedoch in den Texten: Diese „Generation HipHop“ – sie denkt, sie fühlt, sie zweifelt. Und so sprechsingen beinahe ganzkörpertätowierte, bärtige junge Männer über Schwächen und Ängste – und sprechen damit einer ganzen sinnsuchenden Generation, die nie einen Krieg erlebt, aber mit dessen Altlasten ebenso klar kommen muss wie mit Schnelllebigkeit und wohlstandsgenährter Sinnfreiheit, aus der Seele. Wohin gehen wir heute – und wie geht’s morgen weiter? All diese Fragen…
Und in diese Klanglandschaft, in dieses Umfeld passen Ok Kid nur zu gut. Allein schon der Name: Eindeutig angelehnt in die zwei wegweisendsten Alben der großen, experimentellen Rocksinnsucher, Zweifler und Erneuerer von Radiohead – „Ok Computer“ und „Kid A“. Doch allein dieser Hinweis bringt hier wenig. Denn schon vor der Wahl ihres aktuellen Bandnamens bewiesen sich die Wahlkölner Jonas Schubert (Stimme), Raffael „Raffi“ Kühle (Beats) und Moritz Rech (Keyboards) als jona:S jahrelang im HipHop-Umfeld ihrer Heimatstadt Giessen, veröffentlichten zwei EPs („Elektrisch“ 2009 und „Grau“ im Jahr 2011), sammelten allerhand Festival- und Bühnenerfahrungen und gewannen gar kleinere Musikauszeichnungen. Als 2012 dann das damalige Quintett zum Trio schrumpfte, nutzen die drei die Gelegenheit zur namentlichen wie musikalischen Umstrukturierung, gaben althergebrachte Beatzöpfe für mehr Offenheit im Klangbild auf und liessen noch mehr als den eh schon verhandenen Verstand in die Texte einfliessen.
Mit „Ok Kid“ liegt seit April nun das erste Zeugnis dieser Wandlung auf Albumlänge vor. Und natürlich erfinden die dreizehn Stücke das musikalische Rad keineswegs neu, sondern basteln unter Zuhilfenahme erprobter Produzenten – Robot Koch (u.a. Casper, Materia) und Sven Ludwig (u.a. Roman Fischer, Puppet Masters) – an ihrer eigenen kleinen Nische. Die darf man zwar durchaus noch im HipHop verorten, dennoch ist Vieles hier meilenweit weg von bloßer Phrasendrescherei. Das komplette Album wird durchzogen von einer nachdenklichen Grundstimmung, die auch schon „XOXO„, das letztes Werk von Labelkollege Casper, so überzeugend und glaubhaft erscheinen ließ. So huldigt Jonas in „Stadt ohne Meer“ doppeldeutig den grauen Fassaden der Heimatstadt Giessen („Und Du riechst immer noch nach gestern / Ohne Glanz und Stil / Nicht gewaschen, nicht poliert / Doch… ich will Dich nicht verbessern / Denn niemand passt besser zu mir als Du.“), zieht in „Verschwende mich“ und dem tollen „Kaffee warm“ („Und schon wieder dieses kopfzerfickende Gefühl / Dieses: Ich will nicht, dass Du weißt, dass ich nicht weiß, was ich will.“) kapitulierende Schlussstriche unter gescheiterte Beziehungen, kämpft im Opener „Allein, zu zweit, zu dritt…“ tapfer gegen die eigene Orientierungslosigkeit an („Hauptsache weitermachen / Auch wenn die Nachbarn sagen, es wäre besser einzupacken / Denn es ist niemand da, der dir das Wasser reichen kann / Weil du noch viel zu durstig bist / Dein Atem ist noch viel zu lang.“) oder schildert im pianogetränkten Abschluss „Mehr Mehr“ die innere Zerrissenheit einer Jugend inmitten von Reizüberflutung und Rastlosigkeit („Sind nach außen perfekt, innerlich für’n Arsch / Woll’n das Gefühl wieder haben, wie es früher mal war / Und wir feiern, und wir feiern, und wir feiern uns selbst / Sind zu groß für uns’re Stadt, doch zu klein für die Welt.“). Damit all das nicht zum Bezug unterhalb der Trauertapete der „neuen Weinerlichkeit“ verkommt, variieren das Trio und seine Helfer den Bandsound zwischen gewollt poppig-plakativ, melodiös und gekonnt rotzig-rockig, lassen aber auch kleine Synthie-Albernheiten und traditionelle Skits mit einfliessen. Gastspiele geben der Österreicher Gerard (in „Wenn der Tag abreist“) und Olli Banjo (unter desen Rock-Pseudonym „wunderkynd“, in „Heile Welt“), und wer bei postrockenden Gipfelstürmern an Casper und bei vertrackt-verschleppten Beatmonstern an Materia denken muss, der liegt wohl keineswegs falsch. Ansonsten in der Referenztrommel: The Streets und Massive Attack (die vertriphopten englischen Einflüsse), Cro, Prinz Pi, Kraftklub und Clueso (der Popfaktor für’s nationale Musikgemüt) – keinesfalls die schlechteste Gesellschaft.
Mit ihrem selbstbetitelten Debütalbum hinterlassen Ok Kid bereits deutlich mehr als eine flüchtige, 54-minütige Duftmarke in der deutschen Musiklandschaft. Und auch wenn hier noch nicht jedes der dreizehn Stücke auf gleichen Niveau zu punkten weiß, bieten Jonas, Raffi und Moritz Unterhaltung für Herz und Hirn auf einem Album, dass sowohl im Frühling Hoffnung schöpfen lässt, als auch im Sommer zum Feiern des Jetzt und im Herbst zum Grübeln über den Morgen danach die passenden Soundtracks liefert. Und im Winter? Nun: Am 27. September erscheint das neue Casper-Album „Hinterland„… Doch bis dahin könnte wohl kaum ein Album besser diesen fest eingeplanten Platz im Herzen warm und frei halten. Songs übers Mutterficken und abgedrehten Brutaloscheiß? Nichts als der dröge Dunstkreis der Bushidos und K.I.Z.s dieser Republik könnte Ok Kid ferner liegen… Willkommen im Jahr 2013. Willkommen in der neuen Ernsthaftigkeit der „Generation Vielleicht“. Wer hören will, darf tanzen. Wer denken will, darf fühlen. The kid is alright…
Hier kann man in alle Stücke des selbstbetitelten Debütalbums von Ok Kid reinhören…
…und sich die Musikvideos von „Stadt ohne Meer“…
…“Verschwende mich“…
…“Kaffee warm“…
…und eine Sessions-Variante des Albumabschlusses „Mehr Mehr“ ansehen:
Es scheint fast so, als würde jeder Jahrgang seine zwei, drei „Fräuleinwunder“ mit sich bringen…
In diesem Jahr dürfte Alex Hepburn dazu zählen. Die 26-jährige Musikerin aus London brachte im vergangenen April ihr Debütalbum „Together Alone“ auf den Markt. Und in der Wahl ihrer Vorbilder – etwa Jimi Hendrix, Jeff Buckley, Etta James oder Billie Holiday – und dem Fakt, dass Hepburn bislang vor allem im französischsprachigen Raum – also Frankreich, Belgien und der Schweiz – beachtliche Erfolge verbuchen konnte, dürfte durchaus ein Zusammenhang bestehen.
Auch in Deutschland konnte der „dunkle Engel des Soul“ (so der etwas hochtrabende Infotext der Plattenfirma) mit seinen Songs, die mal am Bluesrock einer Janis Joplin, mal an poppigen Soulweisen schnuppern, bereits einige Hörer für sich gewinnen. Ob ihr ihr rauchiges Timbre, die durchaus persönlichen Texte und die manigfaltigen Retroanleihen darüber hinaus helfen werden, sich auf längere Zeit in den oberen internationalen Chartsregionen zu etablieren, wird sich zeigen…
Formidabel gelungen ist Alex Hepburn zweifellos ihre Interpretation des 1996 erschienenen Neneh Cherry-Evergreens „Woman“:
Wer das 17 Jahre alte Original nicht (mehr) im Hinterkopf haben sollte, kann hier seine Erinnerungen auffrischen…
…und sich anhand der Singles „Under“ (welche deutschlandweit bereits für einige TV-Einspieler verwendet wurde)…
…und „Pain Is“ einen ersten Eindruck von Alex Hepburns eigenen Stücken verschaffen:
Vorschusslorbeeren aus Großbritannien, die Vierhundertfünfundachtzigste: auf der „Sound-Of-2012“-Liste der BBC sind die Jungs um Sänger Peter Liddle schon längst, ob die Lobeshymnen aus allen Teilen der Musikpresse auch berechtigt sind, davon kann man sich auf der Homepage der Band nun selbst überzeugen, denn dort bietet die Band das komplette Debüt „Shallow Bed„, welches bei uns am 2. März erscheinen wird, inklusive Track By Track Kommentaren im Stream an.
Erster Eindruck: Folk Rock, der gern mal in Richtung Bombast und Pathos schielt, sich dessen aber keineswegs schämt. Arcade Fire meets Mumford & Sons, produziert von Peter Katis, der bereits für The National, Interpol oder Frightened Rabbit hinterm Mischpult saß. „Shallow Bed“ ist wohl eins der beeindruckendsten Debüts 2012 – mal schauen, ob sich daraus eine große Liebe entwickelt oder es bei einem tollen One Night Stand bleibt…
Hier das Video zum Song „Chambers and the Valves“…
…das offizielle (?) Video zu „Paper Horses“…
…und „Skaker Hmyns“, in einer für die „Gospel Oak Sessions“ 2009 aufgenommenen Version:
Das sächsische Riesa im Oktober 2010: Auf dem mäßig besuchten „StadtLandFluss“-Eintagesfestival spielt neben – für eine Abendveranstaltung dieser Art – großen Bands wie den Mystery Jets oder Beat!Beat!Beat! (welche kurz vor der Veröffentlichung ihres Debüts „Lightmares“ standen und bereits mit reichlich Vorschusslorbeeren dekoriert waren) auch eine Gruppe, die wohl keinem der Zuschauer ein Begriff gewesen sein dürfte und deren Mitglieder zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Schule beendet haben: Vierkanttretlager. Vier Jungs aus dem norddeutschen Husum, optisch noch grün hinter den Ohren, doch ihre Musik schon erstaunlich ausgereift und der Sänger mit seiner Stimme, seinen Texten und vor allem seiner Ausstrahlung bereits gefühlte 10 Jahre seinem Alter bzw. seinen Altersgenossen voraus. Die (zu) wenigen bisher fertig geschriebenen Lieder werden vom Publikum begeistert aufgenommen, die Band muss in der Zugabe, nach einem Cover von Element Of Crimes „Am Ende denke ich immer nur an dich“, gar einen Song ein zweites Mal spielen. Mir war schnell klar: mit den richtigen Leuten und ausreichend Starthilfe wird man schon bald Großes von Vierkanttretlager hören.
Die bundesdeutsche Autobahn, nachts im Januar 2012: Ich höre das lange erwartete Debütalbum der Band, „Die Natur greift an“. Meine Erwartungen sind nach der 2010 erschienenen „Pension Kanonier EP“ keinesfalls die niedrigsten. Und sie werden nicht enttäuscht. Der Opener „Drei Mühlen“ beginnt druckvoll. „Leichenschmaus in der Musterhaussiedlung / Mit Erben getrunken, mit Witwen geweint / Und nebenan auf der Windparkeinweihungsparty / Ist nichts wie es scheint“. Sänger Max Leßmann singt vom gespielten richtigen Leben im falschen, davon, sich fehl am Platz in einer scheinbar glatten Kulisse zu fühlen: „Wir müssen nicht mehr Schlange stehen, weil wir die letzten sind / Und wenn euch das genügt, dann reicht mir das bestimmt“. Oha, ein Stürmer und Dränger? Ausbruch? Aufbruch? Ein logisches Thema, schließlich haben Leßmann und die drei anderen Bandmitglieder Christian Topf, Leif Boe und Momme Friedrichsen gerade erfolgreich die Schule abgeschlossen und drängen nun raus aus dem zu klein gewordenen Husum, raus aus dem Elternhaus, weg vom Wattstrand und hinaus in die weite Welt. Doch „Die Natur greift an“ ist noch einmal ein (letzter) Gruß an die Heimat, wie ein vertontes, knapp 38 Minuten langes Gedicht eines anderen berühmten Sohnes Husums: Theodor Storm. Wind und Wasser, Sonne und Sturm hocken quasi zwischen allen Zeilen, manchmal kann man Max Leßmann vor dem geistigen Auge mit ernster Miene den Strand entlang gehen sehen, den Blick stets zwischen Dünen und Meer hin und her wandernd. Die Natur, die Gesellschaft, und die Rolle des Individuums in ihr. Sinnsuche mitten in der Adoleszenz, die Traditionen als letzte Sicherheit auf der einen Seite, der Ausbruch zu neuen Ufern auf der anderen: „Schluss aus raus, wir schließen.“ In der Kleinstadt werden die Bürgersteige hochgeklappt und die Teestuben dicht gemacht. Es erstaunt, dass Leßmann Texte wie den zu „Hooligans“ bereits im Alter von 15 Jahren schrieb: „Und die Hooligans aus Nr. 10, die singen längst nicht mehr / Sie würden selber gerne nach Hause gehen / Wenn sie wüssten wo das wär‘.“ Heimat – ein altbewährtes Thema der Musikgeschichte, das wusste bereits Johnny Cash, als er die Frage „Wo ist zu Hause, Mama?“ stellte… Die Band geht es jedoch sehr ambitioniert an, ohne auf einem der zwölf Songs, mit einer Trilogie und dem gesprochenen Stück „In jedem seiner milden Blicke“ am Ende, altklug oder gekünstelt zu klingen. Chapeau.
Musikalisch sind viele Inspirationsquellen und/oder Vorbilder schnell verortet: Tocotronic, (die bereits genannten) Element Of Crime (es gibt in Stimme und Aussehen von Leßmann durchaus einige Parallelen zu EoC-Sänger Sven Regener), Erdmöbel, Turbostaat oder Tomte etwa. Rock der Güteklasse ‚Hamburger Schule‘, mit klarer Sprache und ins Hier und Jetzt transportiert. Vierkanttretlager sind mit Anfang 20 erfreulicherweise jedoch auch mutig und unbedarft genug, um in „Fotoalbum“ ein eher rock-unübliches Instrument zum Schunkelrhythmus einzusetzen: das Akkordeon – wieder ein Verweis auf die friesische Heimat. Innerhalb kurzer Zeit hat die Band unter Kollegen bereits einige glühende Anhänger und Befürworter gefunden, wie etwa Casper, der in „Hooligans“ eine Zeile singt (!) und das Quartett 2011 als Vorband mit auf Tour nahm. Am Ende findet dieses tolle Debüt- und gefühlte Übergangsalbum in „Gib deinem Leben keinen Sinn“ und der Zeile „Wir machen jetzt das Beste draus / Fahren diese Zeit ins Krankenhaus“ einen Abschluss. Vierkanttretlager ziehen in die weite Welt, tragen den Nordseestrand wohl aber immer im Herzen und Gemüt. Und schenken dem Hörer mit „Die Natur greift an“ einen erfrischenden Einstand nach Maß. Es ist Januar, und das Album bereits der erste aussichtsreiche Bewerber für meine persönlichen Top Ten 2012.
Da Vierkanttretlager und ANEWFRIEND euch nicht „blind“ in den Plattenladen eures Vertrauens schicken wollen, könnt ihr euch hier alle Songs des Albums im Stream zu Gemüte führen und euch selbst vom Talent der Jungs überzeugen (via):
1. Drei Mühlen
2. Mein Ruf
3. Zwischen den Zeilen
4. Das neue Gold
5. Hooligans (feat. Casper)
6. Fotoalbum
7. Nur die Sonne
8. Schluss aus raus
9. Um Schönheit zu sehen
10. Keine Menschen mehr
11. In jedem seiner milden Blicke
12. Gib dem Leben keinen Sinn
Wer es ermöglichen kann, sollte sich Vierkanttretlager auch unbedingt einmal live und im Konzert geben. Die Jungs sind momentan auf Deutschlands Straßen unterwegs, die aktuellen Daten findet ihr hier.