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Der Jahresrückblick – Teil 1


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Was für Musik braucht man in einem Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf die Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie Schlechte – für Momente vergessen lässt. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2017 wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

 

 

faber1.  Faber – Sei ein Faber im Wind

Man kennt ja die Vorurteile gegenüber Schweizern: Reserviert seien sie, irgendwie meinungslos (oder mit selbiger stets hinterm Berg haltend), geheimniskrämerisch und außen vor. Nun, all das trifft auf Julian Pollina eben nicht zu.

Oder zumindest auf dessen alter ego Faber. Dessen Songs weisen den Mann als distinguierten Trinker, Raucher, Macker und Lebemann aus, der auch – wenn’s der Kontext denn erfordert – schon mal markige Worte wie „ficken“, „blasen“ oder „Nutte“ benutzt, sich die Häute seiner Landsleute überstreift und ihnen – ganz nonchalant, ganz un-schweizerisch – im Zerrspiegel ihre häßliche Fratze aus von Angst getriebenem Fremdenhass, oberflächlicher Geltungssucht oder gelangweilter Medien- und Konsumgeilheit vorhält. Dafür, dass das Ganze – in Form der Songs des Debütalbums „Sei ein Faber im Wind“ – nicht zur enervierend-hochgestochenen Gesellschaftsschelte gerät, sorgt die feine Liedermacher-Rock-Instrumentierung, die mal zu den Norddeutschen von Element Of Crime, mal zum Chanson á la Jaques Brel oder Leonard Cohen, mal auch gen Balkan schielt. Insgesamt stehen Fabers Stücke mit all ihrer unangenehmen Bissigkeit und Direktheit, mit ihrem Willen zur Kritik und dem unbedingten Wunsch, Salz in halb geschlossene Wunden zu streuen, in bester Tradition meines persönlichen Jahreshighlights von 2015, dem Debütwerk von Adam Angst. Dass all die unterhaltsame Zeitgeistigkeit aus der Feder eines Mittzwanzigers stammt, ist einerseits erstaunlich und lässt ebenso auf weitere Großtaten von Faber und Band hoffen…

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brand new2.  Brand New – Science Fiction

Brand New – absolute Herzensband, spätestens seit dem 2006 erschienenen und bis heute und wohl alle Ewigkeit nachwirkenden Album-Monolithen „The Devil And God Are Raging Inside Me“. Und hätten all das lange Warten auf ein neues Werk (das vormals letzte Album „Daisy“ stammt von 2009), all das Kokettieren mit der eigenen Bandauflösung (vor einigen Monaten boten Brand New T-Shirts mit dem Aufdruck „2000-2018“ zum Kauf an), all die mysteriös in weltweite Netz gestreuten (Falsch)Informationen und einzelnen Appetithappen in Form von neuen Songs wie „Mene“ oder „I Am A Nightmare“ die letzten Fan-Jahre nicht schon schwierig genug gestaltet, bekam die Euphorie um das am 17. August in einer erstaunlichen Nacht-und-Nebel-Aktion (digital) veröffentlichte neue Album „Science Fiction“ bereits kurz darauf einen erheblichen Dämpfer.

Es passt wohl zum Jahr 2017 und all den Enthüllungen rund um #meetoo (wozu ich ja bereits unlängst meinen „Senf“ abgelassen habe), dass ausgerechnet einer Band wie Brand New, die ja Zeit ihres Bestehens einerseits um die Wahrung ihrer Privatsphäre auf der einen Seite (was wiederum die mysteriöse Aura ihrer Songs noch verstärkte) und größtmöglicher Fannähe auf der anderen Seite bemüht war, nun die Verfehlungen ihres Frontmanns vorzeitig das Genick brechen (werden). Stand heute hat das Alternative-Rock-Quartett aus Long Island, New York seit Oktober alle für Ende 2017 und Anfang 2018 geplanten – und wohlmöglich letzten – Konzerttermine abgesagt. Und ob Jesse Lacey, Vinnie Accardi, Brian Lane und Garrett Tierney überhaupt je wieder gemeinsam auf einer Bühne stehen werden, darf angesichts der Begleitumstände bezweifelt werden…

Die zwölf Songs von „Science Fiction“, das der Band überraschenderweise ihr erstes Billboard-Nummer-eins-Album überhaupt bescherte, hätten diese unrühmliche Nebenschauplatz-Promo freilich nicht nötig gehabt, bilden sie doch in Gänze all das perfekt ab, was Fans der Band bislang so faszinierend und mitreißend fanden: Stücke, die sich mal Zeit bis zur nicht selten plötzlichen Eruption nehmen, während andere wiederum diese komplett verweigern. Eine enorme stilistische Bandbreite an Musikalität und Einflüssen, die kaum noch etwas mit jenen Pop-Punk-Anfangstagen des 2001 erschienenen Debütalbums „Your Favorite Weapon“ gemein hat, sondern sich – vor allem auf den letzten Alben – vielmehr auf Post-Hardcore- und Indie-Rock-Szene-Favoriten wie The Jesus Lizard oder Neutral Milk Hotel bezog. Und Jesse Laceys enigmatische Texte, welche den geneigten Genau-Hinhörer und Lyrik-Goldgräber geradezu dazu einladen, sich via Reddit und Co. tagelang in ihnen und ihren tausendfachen Deutungswegen zu verlieren. Dass die Songs zwar deutlich reduzierter als noch auf dem wütend und (ver)quer um sich beißenden Album-Brocken „Daisy“ daher kommen und all die düsteren, geradezu apokalyptischen Schauer und Vorahnungen auch mal zur Akustischen anbieten (während die Band anderswo, wie im grandiosen Song-Doppel aus „137“ und „Out Of Mana“, mit Gitarren-Soli-Ausbrüchen aufwartet), beweist, wie sehr Brand New über die Jahre als Band gewachsen sind. Dass Lacey im finalen „Batter Up“ noch wiederholt „It’s never going to stop“ verspricht, dürfte zwar für die nach wie vor ungebrochene Anziehungskraft der Brand New’schen Stücke gelten, nicht jedoch für die Zukunft der Band. „Science Fiction“ ist ein leider definitiver Schwanengesang. Und zum Glück einer, dessen Wirkung auch über Jahre nicht nachlassen wird…

 

 

gisbert zu knyphausen3.  Gisbert zu Knyphausen – Das Licht dieser Welt

Das am sehnlichsten erwartete Album des Jahres. Mein liebster deutschsprachiger Liedermacher. Die Erwartungshaltung an das neue, dritte Album von Gisbert zu Knyphausen hätte – auch durch das vorab veröffentlichte Titelstück – kaum höher sein können…

Vieles hat sich seit dem letzten, 2010 erschienenen Werk „Hurra! Hurra! So nicht.“ verändert. Und am meisten wohl Knyphausens Sichtweise auf das Leben selbst. Schuld daran dürften vor allem der plötzliche Tod seines Freundes Nils Koppruch im Jahr 2012 (kurz zuvor hatten beide noch als Kid Kopphausen noch ein gemeinsames Album in die Regale gestellt) sowie Knyphausens darauf folgendes, selbstgewähltes zeitweises Verschwinden in die musikalische Versenkung, welches er fürs Reisen und Gewinnen neuer Perspektiven und Eindrücke nutzte, gewesen sein.

Herausgekommen ist mit „Das Licht dieser Welt“ ein Album, das dem melancholischen Grau des Vorgängers nun vermehrt lichtdurchflutete Anstriche verpasst und mit „Teheran Smiles“ und „Cigarettes & Citylights“ sogar erstmals englischsprachige Songs aus der Feder des Liedermachers enthält. Für all jene wie mich, die sich über die Jahre so tief und fest in die Melancholie der Vorgängerwerke eingelebt haben, mag der 2017er Gisbert zwar Einiges an Gewöhnungsbreitschaft erfordern, wer jedoch, wie bei „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, dem großen Tribut an seinen Freund Nils Kopproch, nicht mindestens ein Tränenlächeln im Mundwinkel sitzen hat, dürfte aus Stein sein. Willkommen zurück, Gisbert!

 

 

brutus4.  BRUTUS – Burst

Besser, effektiver, überraschender und ungewöhnlicher durchgerockt als das Trio aus dem belgischen Leuven hat mich 2017 keine Band. Nuff said. Hörbefehl!

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father john misty5.  Father John Misty – Pure Comedy

Joshua Michael Tillman ist schon ein eigenartiger Kauz. Erst setzt sich der US-amerikanische Musiker jahrelang bei anderen hinters Schlagzeug (unter anderem in der Begleitband von Damien Jurado oder bei den Fleet Foxes), veröffentlicht nebenher etliche Alt.Country-Kleinode, die – trotz ihrer Großartigkeit – freilich unter dem Radar liefen, um dann ab 2012 als Father John Misty den groß angelegten Alleingang zu wagen. Das brachte ihm und den galant zwischen Seventies-California-Rock und Dandy-Chanson pendelnden Songs der ersten beiden Alben „Fear Fun“ (2012) und „I Love You, Honeybear“ (2015) zwar den Ruf des Kritikerlieblings ein, die breite Billboard-Masse fühlte sich von der Reichhaltigkeit seiner Werke jedoch – scheinbar – überfordert.

Ob sich das mit „Pure Comedy“ ändert? Darf bezweifelt werden. Besonders was die Texte betrifft – sind auch 2017 die ein- wie ausladenden Stücke des Fathers alles andere als leicht verdaulich. Denn Tillman geht es um nicht weniger als den Nukleus aus menschlich-philosophischer Existenz, apokalyptischen Vorahnungen und gesellschafts- wie konsumkritischer Revueschau, musikalisch versetzt mit Piano-Pop á la Billy Joel oder verschrobenem Songwriter-Folk wie einst bei Gram Parsons. Darf’s ab und zu noch eine Schippe Orchester-Pomp oder dicke Big Band-Soße sein? Aber gern doch! Und so tänzelt Josh „Father John Misty“ Tillman während der 75 Albumminuten scheinbar spielerisch zwischen tonnenschwer-kritisch und unterhaltsam-federleicht. Zum Entertainment-Gesamtpaket gehören auch die teils weirden Musikvideos zu „Total Entertainment Forever“ (in dem der einstige Kinderstar Macaulay Culkin als Kurt-Cobain-Verschnitt ans Kreuz genagelt wird, während Tillman seinerseits den Ronald McDonald gibt), zum Titelstück (eine Collage als bildhafte politische Gesellschaftskritik), zu „Things It Would Have Been Helpful To Know Before The Revolution“ (ein wunderbar geratenes Animationsvideo) oder „Leaving LA“ (ein passend intimer Clip zum mantraartigen 13-Minüter, welcher den Father im Studio zeigt). Und als wäre das noch nichts, hat der scheinbar um Dauerbeschäftigung bemühte Kreativling „Pure Comedy“ noch ein 25-minütigen Kurzfilm zur Seite gestellt, bevor im kommenden Jahr bereits das nächste Album erschienen soll… Der allumfassende Wahnsinn.

 

 

einar stray orchestra6.  Einar Stray Orchestra – Dear Bigotry

Wer ein Prise zuviel an reichhaltig instrumentiertem Indiepop, mehrstimmigen Chören und hippie’esk duftendem Pathos nicht scheut, für den war (und ist) „Dear Bigotry“, das dritte Werk der zur Band angewachsenen Norweger des Einar Stray Orchestra, ein gefundenes Fressen.

Und: Kaum ein Song bringt auch Ende 2017 die bedrohlich schiefe Weltlage besser zum Ausdruck als „As Far As I’m Concerned“. Isso.

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julien baker7.  Julien Baker – Turn Out The Lights

Mit den Songs ihres 2015 erschienenen Debütalbums „Sprained Ankle„, die die oft spröde aufleuchtende Intimität eines Jeff Buckley mit der teils bitteren Melancholie eines Elliott Smith vermengten, setzte eine aus Memphis, Tennessee stammende junge Newcomerin namens Julien Baker gleich mehrere Ausrufezeichen.

Mit dem zweiten Album „Turn Out The Lights“ setzt die 22-Jährige nun diesen Weg fort. Und während sich der Großteil der Stücke des Debüts noch musikalisch auf ihrer Fender Telecaster abspielte, entlädt die Musikerin all ihren juvenilen Herz- und Weltschmerz auf dem Nachfolger vornehmlich auf den weißen und schwarzen Tasten ihres Pianos. Anders, jedoch keineswegs schlechter. Und immer noch herzerweichend intim, herzzerreißend groß.

 

 

kettcar8.  Kettcar – Ich vs. Wir

Mittlerweile sieht auch die Band selbst es so ehrlich: Mit dem 2012 erschienenen Album „Zwischen den Runden“ war – zumindest vorerst – die Luft raus.

Also legten die fünf Hamburger eine Bandpause ein, während derer sich ihr Chef Marcus Wiebusch auf seine Solo-Karriere konzentrierte und als Ergebnis das formidable Album „Konfetti“ (Platz 4 in ANEWFRIENDs Bestenliste 2014) veröffentlichte, auf dem der ehemalige …But Alive-Punker einmal mehr verstärkt die Finger in gesellschaftliche Fleischwunden legte.

Selbiges tun nun auch Kettcar wieder. Und spätestens mit dem ebenso großartigen wie ungewöhnlichen und wichtigen Song „Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)“ weiß man, wie sehr diese Band und ihr Pathos, ihr mahnender Zeigefinger, ihr Nicht-damit-anfinden der bundesdeutschen Indie-Szene gefehlt hat…

 

 

burkini beach9.  Burkini Beach – Supersadness Intl.

Verschrobener Singer/Songwriter-Pop made in Germany. Was bereits 2015 als vielversprechender Geheimtipp begann, findet in diesem Jahr – und mit den zehn Stücken des Debütalbums „Supersadness Intl.“ – seinen vorläufigen Höhepunkt.

Hinter dem eigenartigen Bandnamen steckt – ganz frei von Glamour – Rudi Maier, einst Teil des bayrischen Indie-Rock-Duos The Dope (welches ja seinerzeit selbst nie über den Status eines Geheimtipps hinaus kam). Und zaubert mal eben Songs wie das längst bekannte „Luxembourg“ oder die faszinierende Bonnie-und-Clyde-Lovesory „Bodyguards“ hervor…

Einen Extrapunkt heimsen Burkini Beach für die schönste Albumverpackung ein: Zwar wurde das Debüt (bislang) nur digital veröffentlicht. Wer jedoch via Bandcamp für verhältnismäßig schlanke 15 Euro zuschlägt, bekommt zum Download-Code noch ein fein aufgemachtes, 48-seitiges Hardcover-Buch mit dazu. Toppy!

 

 

love a10. Love A – Nichts ist neu

Die wütenden Punkpopper um Frontmann Jörkk Mechenbier lassen auch 2017 mit ihrem mittlerweile vierten Album „Nichts ist neu“ nicht nach und machen ebenso unnachgiebig wie unnachahmlich beinahe genau da weiter, wo Love A mit dem formidablen Vorgänger „Jagd & Hund“ anno 2015 aufgehört hatten.

Die zwölf neuen Stücke schlagen sich durchs Feld des „Wir schaffen das!“-Palavers von Mutti Merkel oder der selbstgerechten Wutbürgerei von Petry, Gauland, von Storch, Höcke und Konsorten und bieten all jenen eine Stimme, die viel zu oft durchs gesellschaftliche Raster fallen. Da poltert das linke Punkerherz freudig-fies gegen den Takt, während Mechenbier schon wieder Gift und Galle spuckt! Wichtig.

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…und auf den weiteren Plätzen:

Gang Of Youths – Go Farther In Lightness

Roger Waters – Is This The Life We Really Want?

Noah Gundersen – WHITE NOISE

Lorde – Melodrama

Judith Holofernes – Ich bin das Chaos

 

 

Persönliche Enttäuschungen 2017:

the nationalThe National – Sleep Well Beast

Es bleibt zwar dabei: Auch im 18. Bandjahr können Matt Berninger und Co. kein wirklich schlechtes Album veröffentlichen. Allerdings muss ich ebenso feststellen, dass ich auch nach mehreren Hördurchgängen – und trotz dem ein oder anderen tollen Einzelsong wie „Day I Die“ oder „Carin At The Liquor Store“ – nie so ganz warm mit dem im September erschienenen siebenten The National-Werk „Sleep Well Beast“ werde. Dafür verfranzt sich die fünfköpfige Band aus dem US-amerikanischen Cincinnati, Ohio auf ihrem neusten Album einfach zu oft im halbgaren Experiment, welches jedoch – und da liegt wohl der musikalische Hund begraben – viel zu oft ins Nirgendwo führt. Da kann auch eine Weltstimme wie die von Matt Berninger nix mehr rausreißen…

 

 

casperCasper – Lang lebe der Tod

Ähnliches gilt auf für Casper, dessen letzten beiden Alben „XOXO“ und „Hinterland“ ja 2001 beziehungsweise 2013 noch in meinen persönlichen Top 5 landeten.

Doch mit „Lang lebe der Tod“, welches bereits 2016 erscheinen sollte, bevor der Wahl-Berliner „Emo-Rapper“ die Veröffentlichung schlussendlich um ein komplettes Jahr verschob, werde ich nicht so richtig warm. Klar, die Trademarks des gebürtigen Bielefelders sind noch immer da: Benjamin „Casper“ Griffeys raue Stimme, die mal dicke Instrumentierung aus der Studiokonserve, mal via rockigem Bandsound nach vorn gepeitschten Songs. Und, wenn man so möchte, sind auch die Stücke selbst, in denen sich Casper auf Missstände im Jetzt, draußen in der Welt, aber auch im eigenen seelischen Milieu konzentriert, gut. Aber eben nur: gut. Das Gesamtbild von „Lang lebe der Tod“ wankt irgendwie unrund daher. Hat sich die verlängerte Wartezeit hierfür gelohnt. Leider nein. Leider gar nicht.

 

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


61gLcxNXArL._SS500Einar Stray Orchestra – Dear Bigotry (2017)

-erschienen bei Sinnbus/Rough Trade-

Schweden hat Abba, Finnland hat HIM, Dänemark hat Volbeat, Norwegen hat a-ha. Ist halt so. Und obwohl manch eine dieser Gruppen bereits seit Jahren Geschichte ist (Abba), sich gerade erst – der schnöde Mammon wird’s wohl möglich gemacht haben – für lukrative Konzert- und Plattendeals wieder zusammengefunden hat (a-ha) oder just bekannt gab, fortan das Zeitliche segnen zu wollen (HIM), verbindet mutmaßlich jeder popkulturell Geprägte zunächst einmal diese Bands mit den Ländern Skandinaviens.

Doch mal speziell zu Norwegen: Was hat das „Land der Fjorde“, das „Land der Trolle“, das „Land der Mitternachtssonne“, das „Land der Wikinger“ (das zumindest meint Google) denn noch zu bieten? Ja klar, weite, nordisch temperierte Landschaften, die ideal fürs Runterkommen fern des hektischen Großstadtdschungels oder für Angelurlaube sind, teuren Alkohol, eine gesunde Wettstreitsrivalität zum Rest Skandinaviens sowie faire und nicht selten recht lockere Arbeitsbedingungen – plus ein hervorragender, weit verbreiteter Gedanke namens „Janteloven“, entwickelt 1933 vom dänisch-norwegischen Autor Aksel Sandemoseder, der einen Verhaltenskodex über den Umgang der Norweger untereinander beschreibt. Es ist nicht erwünscht, sich für besser oder klüger zu halten als andere. Wer sich gerne in den Mittelpunkt stellt, wird schnell als Angeber verpönt. Könnten wir Festlandeuropäer uns mal ’ne Scheibe von abschneiden…

Und bei all den Künstlern und Bands, die sich da – eventuell ja im Norwegerpulli – in den letzten Jahren über die Landesgrenzen hinaus aufgemacht haben, die Welt zu erobern – von Leisetretern wie Kings Of Convenience über versierte Rocker wie Motorpsycho oder Madrugada bis hin zu Hardcore-Metal-Punk-Schreihälsen wie Kvelertak -, zeigt sich doch wieder, dass der Norweger Vielseitigkeit kann, denn die Musikszene in wie außerhalb Oslos hatte und hat freilich schon immer mehr zu bieten als a-ha, Ace of Base oder Aqua.

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Spätestens 2012, als sein Debütalbum „Chiaroscuro“ mit einjähriger Verspätung auch außerhalb der norwegischen Heimat erschien, erntete auch ein junger Mann namens Einar Stray allerlei möglichen Vorschusslorbeeren – und das völlig zu recht. Denn schon Strays Debüt war (und ist) ein Album voll mit aufwühlendem Indiepop, der mit der eigentlichen Einfachheit von Pop (oder zumindest von dem, was man so aus dem Formatradio kennt) so gar nicht zu vereinbaren war. Es enthielt orchestral instrumentierte Hymnen, komplexe Stücke, die mit Klassik, Folk und Postrock spielten und dabei so umarmend wie düster daher schlichen. „Chiaroscuro“ war (und ist) ein Album, so weit weg wie nur irgendwie möglich vom schnöden Indiepop – mit Klavier, Cello, Geige und Gesang als herausragende Elemente, entworfenen von ebenjenem Einar Stray, einem zierlich-dünnen Männlein Anfang zwanzig. Man höre nur den zehnminütigen, instrumentalen Schlusstrack „Teppet Faller“ – wer da nicht geplättet und zu Tränen gerührt die Arme gen Firmament reißt, dem seien an dieser Stelle Herz, Seele und musikalischer Sachverstand abgesprochen. Ernsthaft.

Danach folgte eine Umstrukturierung im aktuell fünfköpfigen Bandgefüge, die Songs des 2014 veröffentlichten Nachfolgers „Politricks“ wurden aggressiver, lauter, tobender, elektrisch verstärkte Gitarren und Feedback-Wände hielten mehr und mehr Einzug. „Politricks“ steckte, wenn auch noch mit einem Auge auf den Pop schielend, voll bitterer Bissigkeit, die sich im Ohr des Hörers gern bewusst quer legte, und wies den orchestralen Schönklang des Vorgängers nicht selten vehement zurück. Obendrauf gab es beim Bandnamen von nun an den Zusatz „Orchestra“.

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Dear Bigotry“ ist nun das dritte Album der Norweger um Einar Stray. Laut und wütend, ruhig und nachdenklich vereint es beide Seiten von „Chiaroscuro“ und „Politricks“ – und ist doch experimentierfreudiger als beide Alben zuvor. 2017 treffen bei dem norwegischen Bandleader, Jahrgang 1990, und seinen vier Bandmates Postrock auf klassische Klavier-Melodien und (beinahe) straighten Indiepop – nicht selten im selben Song. In „Glossolalia“ etwa versuchen sich Band und Soundeinspieler (eine Rede! eine Rede!) gegenseitig zu übertönen. Was versöhnlich beginnt, endet nicht selten in ausufernden Soundeskapaden.

Auch das Titelstück besitzt bereits in der Strophe eine gewisse unruhige Energie, man würde typischerweise eine Steigerung mit anschließender Entladung im Refrain erwarten, doch der verlagert nur das musikalische Gewicht auf den anderen Fuß, sodass hohle Bombastergüsse ausbleiben. Wenn das Schlagzeug dann doch losbollert, verhallt Vieles gewollt im luftleeren Raum, die dunkle wagnerianische Zuspitzung zum Schluss wirkt mit seinem stampfenden Klavier und sägendem Rhythmus wie eine ironische Überhöhung der Dramaturgie.

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Auch der Auftakt „Last Lie“ weist bereits zu Beginn einen gewissen Drive auf, Strays Gesang kühlt das unternehmungslustige Piano ein wenig runter, auch hier erwächst eine Erwartung des nahenden Ausbruchs, doch der Refrain gerät nicht zum himmelstürmenden Triumphzug, wirkt trotz der seidigen Hymnik nachdenklich: „I´m tired of the tiredness“. Dazu mischt die Band wunderschöne rhythmische Versätze, die besonders in der Songmitte für neue Farbgebung sorgen.

Auf dem Sprung ist direkt von Beginn an das tolle „As Far As I´m Concerned“, dass niemals so wirklich still hält und dem mächtige Gitarren und ein jubilierendes Keyboard in die Parade fahren, während das Auf- und Abschwellen der rhythmischen Frequenz dabei ein geradezu elastisches Klangkleid webt. In diesem Stück gibt es übrigens auch den einzigen lehrbuchmäßigen Bombastmoment (of Postrock fame): zwischen weit ausholendem Schlagzeugstakkato laufen delirierende Flöten und energische Streicher um ihr Leben, es kracht, die Balken brechen, der Himmel stürzt ein.

Klar, das Einar Stray Orchestra operiert zwar gerne und oft am oberen Ende der mit Pathos aufgeladenen Emotionsskala, ist aber schlau genug, Ruheinseln einzubauen. „Seen You Sin“ ist ein an- und abschwellender Strudel aus Klavier und Streichern, die dem Gesang von Einar Stray oftmals den sicheren Boden zu entziehen scheinen. Dass an solchen Stellen nicht zwangsläufig noch ein Knalleffekt eingeschoben werden muss, zeugt von der kompositorischen Weitsicht der Norweger. Der Musik gewordenen Verschnaufpause innerhalb all dieser Opulenz, dem schönen „20.000 Nights“, wird ebenso der Ausbruch verweigert. Der männlich-weibliche Duettgesang wirkt wie in einer staubigen Box eingeschlossen, draußen ist die bunte Welt, doch der Schlüssel bleibt unauffindbar, der Refrain zieht dann auch nur um ein Weniges die Intensität an, man bleibt unter sich: „And when the television hostess is put to ground / I’ll be on television singing on her song / With tears of joy cause, how I’ll love to announce / She was my savior and my youth, sometimes my doubts…“

Einar-Stray-Orchestra-Photo-by-Christian-Zervos

In den Songs von „Dear Bigotry“ verhandeln Einar Stray Orchestra die großen Themen rund um Politik, Religion und das harte Los der Liebe in modernen Zeiten, das Zaudern des Individuums mit der Gesellschaft, unsere Doppelmoral und innere wie äußerliche Zerrissenheit – die liebe Bigotterie. All das sind freilich nur allzu offensichtliche Themen für eine Bande weltoffener Mittzwanziger (man denke an den Ausspruch „Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn.“, welcher mal dem französischen Politiker Georges Clemenceau, mal dem britischen Staatsmann Winston Churchill zugeschrieben wird), und sie sind selbst – und gerade – für das Einar Stray Orchestra keineswegs Neuland. 2012 etwa veröffentlichten die Norweger mit dem gespenstischen A-Capella-Stück „For The Country“ ihre ganz eigene Version eines Anti-Kriegs-Liedes, welches mit Zeilen wie „Good bye, my love, good bye / I will never see you again / The terrorist will hunt me down / The terrorist will kill your man / See you in heaven, my love“ auch einen unmissverständlichen Kommentar auf das darstellte, was sich nur ein Jahr zuvor auf der Insel Utøya, rund 30 Kilometer von der Hauptstadt Oslo entfernt, ereignete, als der irre Rechtsextremist Anders Behring Breivik innerhalb weniger Minuten ein Blutbad anrichte, bei dem insgesamt 77 Menschen, überwiegend Teilnehmer an einem Zeltlager der Jugendorganisation „AUF“ der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet, ums Leben kamen (die Inspiration für „For The Country“ schreibt Einar Stray übrigens den kanadischen Postrock-Koryphäen A Silver Mt. Zion und deren Song „American Motor Over Smoldered Field“ zu). Doch obwohl das Einar Stray Orchestra spätestens mit dem seinen Zeigefinger bereits im Titel tragenden „Politricks“ als durchaus um Zeitgeist-Kritik bemühte Band bekannt sein dürfte, fügt das Quintett der eigenen Sozialkritik mit Album Nummer drei noch einige wichtige Nuancen hinzu. So singt Stray etwa im großartigen „As Far As I’m Concerned“: „Meeting people is easy / From a bar to a bed / But I can’t meet my own eyes / In the bathroom mirror of a stranger in the morning / Pixelating the girls of that dawn / Their flesh and bones in data codes / I thought I saw their souls, I saw their holes / The anthem of a hypocrite / Is shaking the arena seats / I wanna be the opposite / To prove you that I’m all the same“. Oder in „Penny For Your Thoughts“: „We got everything / But there’s something missing / We got everything we dreamed of except for dreams / We’re everything they ever wanted us to be“. Viel schöner als mit Zeilen wie diesen konnte auch einer wie Thom Yorke seine gesellschaftlichen Kommentare nicht ins Mikrofon greinen.

Dass all das nicht nach hinten los geht, liegt vor allem daran, dass die Kompositionen nicht hinter dem (nicht eben tief gestapelten) inhaltlichen Anspruch hinterherhinken, sondern eine konsequente klangliche Umsetzung finden. Vielleicht sollte man bei Einar Stray ohnehin besser von Kompositionen als von Songs reden. Die bis ins letzte Detail ausgestalteten Klanglandschaften tragen einen in eine fantastische Welt. Und so irgendwie auch weg von den besungenen Problemen, hinein in die eigene Gefühlswelt. Die Songs branden auf und fallen wieder in sich zusammen, wie das Meer an einer schroffen norwegischen Küste.

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Die Krux ist, dass einer der größten Trümpfe des Einar Stray Orchestra gleichzeitig das, wenn man so will, größte Manko von „Dear Bigotry“, das von Team-Me-Frontmann Marius Hagen produziert wurde, darstellt: Jede Ecke dieser Stück ist ausgemalt in schillernden Tönen, kein Winkel wurde vergessen. Wer es sich einrichten will in diesen Kompositionen, muss sich erst einmal durch all die Schichten wühlen, denn die Songs schwirren einem nur so um die Ohren, so dass man zunächst nicht weiß wo man zuerst hinhören soll. Doch bald erkennt man eine wohlsortierte Ordnung und hinter all den Chören, Streicherflächen und perlenden Klaviermelodien kommen wunderbar schillernde Popsongs zum Vorschein. Zusammengehalten werden die Songs vor allem durch Einars tiefe, beruhigend warme Stimme, die selbst dann nicht die Ruhe verliert, wenn außen herum alles anfängt in die Luft zu fliegen. Das erinnert manchmal vorsichtig an das Ergebnis, welches man wohl bekommen würde, würde man Künstler und Bands wie Yann Tiersen, Sufjan Stevens, Patrick Wolf und Sigur Rós zusammen in eine – zugegebenermaßen dann recht große – Holzkiste sperren und erst wieder herauslassen, wenn ebenjenes Team auf Zeit ihre Version eines Arcade-Fire-Coveralbums durch einen Bodenschlitz nach außen reicht. Klingt anstrengend? Ist’s auch, irgendwie, denn dieses Album fordert schon mehr als ein halbes Ohr im Hintergrund. Und wenn am Ende des letzten Stücks „Synthesis“ die zuvor noch jubilierenden Bläser verstummt sind, wenn nichts mehr zu hören ist, keine epischen Melodien mehr, keine irisierenden Klangflächen, keine euphorischen Chöre, keine diffizilen Rhythmen mehr und nur noch weißes Rauschen, dann ist auch der Zuhörer ein wenig müde. Im besten Fall jedoch auch: verzückt.

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Via Bandcamp kann man sich „Dear Bigotry“ in Gänze anhören…

(alle Texte findet man hier…)
 
 

…und hier die Musikvideos zu „As Far As I’m Concerned“…

 

…und „Penny For Your Thoughts“…

 

…sowie zweiteren Song auch als Live-Session-Version anschauen:

  

Rock and Roll.

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