Haim – Days Are Gone (2013)
-erscheint bei Vertigo/Universal-
Manchmal ist der Hype schon ein zweischneidiges Schwert. Eines, das mir nichts, dir nichts die mäßig talentierte Spreu vom langlebig tönenden Weizen trennt. In den unendlichen Spähren des weltweiten Netzes, in denen heutzutage (beinahe) jeder seinen Kommentarsenf dazugeben darf, werden Künstler erst in den höchsten Tönen gelobt, um gleich am nächsten Tag gnadenlos verrissen und als ehemals vielversprechende Eintagsfliege fallen gelassen zu werden. Wer da bestehen mag, der braucht schon allerhand Alleinstellungsmerkmale und Talent. Und die sprichwörtlichen Kahn’schen „Eier“. Oder am besten gleich alle drei Dinge in Personalunion…
Und so durfte man in diesem Jahr besonders auf eine Veröffentlichung gespannt sein: „Days Are Gone„, das Debütalbum des kalifornischen Schwestertrios Haim. Denn was sich da an Vorschusslorbeeren von digitalen wie Printmedien, von Berufs- wie selbstberufenen Schreiberlingen dies- wie jenseits des Atlantiks (unter anderem war auf ANEWFRIEND bereits im vergangenen Dezember über Haim zu lesen) ansammelte, ist schon aller Ehren wert: eine Topplatzierung bei der “BBC’s Sound of 2013″-Umfrage, höchstes Lob vom britischen NME, oder dem deutschen Musikexpress und Rolling Stone. Dazu das gleiche Management wie Rapkrösus Jay-Z oder gemeinsame Tourneen mit so vielfältig großen Künstlern wie Mumford & Sons, Florence and the Machine, Ke$ha oder Rihanna. Da haben schon weitaus verdientere Künstler großes Nervenflattern bekommen und sind hinsichtlich der in sie gesteckten Erwartungen eingeknickt. Doch wer bislang in den Genuss einer Live-Show von Danielle, Alana und Este Haim gekommen ist, der merkte schnell: Den drei Schwestern macht so schnell keiner etwas vor. Immerhin ist das aus dem sonnigen Los Angeles stammende Trio quasi auf der Bühne groß geworden, unterstützte die ebenfalls musizierenden Eltern bereits von wackeligen Kindesbeinen an in der gemeinsamen Coverband „Rockinghaim“, plünderte sich durch den heimischen und vor Classic Rock-, Folk- oder Americana-Künstlern beinahe überquellenden Plattenschrank, entdeckte wenig später noch tanzbare Sounds der Hausmarke Destiny’s Child, Prince oder TLC für sich und legte – jenseits der elterlichen Bühnenobhut und unterstützt durch einen „Hahn im Bandkorb“, Schlagzeuger Dash Hutton – darauf als Haim so richtig los. Will heißen: Die drei stellten im Februar 2012 mit „Forever“ eine erste Single ins virtuelle Licht der Öffentlichkeit. Schon bald ging der Song als kommentiertes Raunen durch den digitalen Blätterwald, wurde in renommierten Radiosendungen wie der von Zane Lowe auf BBC Radio 1 gespielt, während Haim ruckzuck einen Plattenvertrag bekamen.
Was nun? Schnell nachlegen, im Akkord zwei, drei weitere Singles und ein zusammen geschustertes Album raushauen? Zwar folgte dem Ausrufezeichen „Forever“ im vergangenen November mit dem nicht weniger hitlastigen „Don’t Save Me“ Single Nummer zwei, auf Songs in Albumlänge musste man jedoch lange warten. Danielle, Alana und Este machten lieber als Bühnengewalt von sich reden, spielten Vorband-Shows wie Festival-Aufritte (und die Hauptbands dabei nicht selten an die Wand). Das Albumdebüt aber wurde immer wieder verschoben. Zwar ließen die Schwestern ihre gespannt ausharrende Netzgemeinde immer wieder wissen, dass man fieberhaft an Songs und Sounds des Langspieler-Einstands feile, aber – bis auf einzelne Appetithappen in Form weiterer Singles wie „Falling“ oder „The Wire“ – stellte man die Erwartungshaltungen auf eine harte Probe. Als schließlich feststand, dass „Days Are Gone“ nun endlich und wirklich Ende September erscheinen sollte, fragte man sich nun doch: Würde sich das Warten gelohnt haben? Können Haim den nicht eben geringen Erwartungshaltungen gerecht werden, sie gar noch übertreffen? Ein potentielles Sommeralbum im Herbst – würde das gut gehen? Ganz klar: In eine Richtung würde das vom Hype-Rauschen angestoßene Meinungspendel ausschlagen. Also: Hopp oder Top?
Zunächst einmal kommen all jenen, die die bislang zu hörenden Vorab-Singles und die durchs weltweite Netzrund schwirrenden Konzertmitschnitte (wie den vom vergangenen Glastonbury Festival) kennen, gut die Hälfte der Albumsongs bekannt vor: „Forever“? Sicher, erste Single und sonniger Westküstenpop vom Feinsten! „Falling“ und „The Wire“? Klar, ebenfalls bereits ausgekoppelt und voran geschoben, stehen auch diese Songs dem erstgenannten in Punkto Hitpotential in nichts nach. „Don’t Save Me“? Ein absoluter Tanzflächenfüller, der sich mit der richtigen Prise an Achtziger-Jahre-„guilty pleasure“-Synthesizern zum großen Pophymnus aufschwingt. Findigen Fans dürften darauf sogar schon Stücke wie „Honey & I“, „Go Slow“ oder „Let Me Go“ tagelang in den Gehörgängen gelegen haben… Und eventuell liegt hier wohl auch schon die größte Schwäche von „Days Are Gone“, denn der Großteil der Stücke ist – in welcher Form auch immer – längst bekannt. Dabei wissen Haim auf 45-minütiger Albumlänge durchaus zu überzeugen, pendeln gekonnt zwischen Fleetwood Mac- („Honey & I“) oder R’n’B-Verehrung (der Titelsong), teilen sich mal geschwisterlich gerecht die Gesangsanteile (etwa im Eagles’lesken Schlussmachstück „The Wire“), brechen mit „My Song 5“ einen schwer an die Black Keys gemahnenden Bluesrocker vom Gitarrenstapel oder nehmen beim großen Sentimentalschleicher „Go Slow“ auch schon mal gekonnt den Fuss vom Gaspedal („I just wanna go back / Hold on to the way that I was / ‚Cause you took away all my young life / And I hate who I’ve become“). Auf „Days Are Gone“ muss man – im absolut positiven Sinne – stets darauf gefasst sein, dass aus dem elf Songs langen heillosen Durcheinander aus Westcoast-Rock, Mainstream-Pop, R’n’B, Classic Rock und New Wave eine Gitarre dazwischen gniedelt, sich ein fett stampfender Beat breit macht oder eine Basslinie fiebrig pumpt. Danielle, Alana und Este wissen auf ihrem Erstling, der gemeinsam mit den poperfahrenden Produzenten Ariel Rechtshaid (u.a. Usher, Vampire Weekend, We Are Scientists) und Ludwig Göransson (u.a. Childish Gambino) entstand, beinahe jederzeit zu überzeugen und – insofern man noch nicht mit den Stücken der Schwestern vertraut ist – auch zu überraschen. Einzig „Let Me Go“, welches als Abschluss jeder Haim-Show in einer beinahe infernalischen Trommelorgie endet, bleibt als Albumversion blass. Und wieso man den etwas faden Schlusssong „Running If You Call My Name“ einem astreinen, potentiellen Hit wie „Better Off“ (auf der „Falling EP“ sowie der Deluxe Edition des Albums zu finden) vorzog, bleibt offen…
Ist also „Days Are Gone“ der erhoffte, der versprochene große Einstandswurf? Nun, vor allem zeigt das Album eindrucksvoll, wie eine gemeinsames Bandprojekt aus der unbedarften Siebziger-Jahre-Version von Fleetwood Mac (Stevie Nicks! Lindsey Buckingham!), Prince, Tom Petty, TLC oder der seligen Aaliyah mit den Mittel des Jahres 2013 wohl klingen möge. Bubblegum gewordene Anklänge einer ewigen Jugend; vom Knutschen, vom Verliebtsein, vom Herzschmerz und vom Überschwang – die Welt retten und verändern, das dürfen für 45 Minuten gern andere. Zwar bekommt man diese sehnsüchtig offenen und unverblümt in feinen Popharmonien badenden Stücke, die geradezu nach einer kleinen Ausfahrt entlang der US-amerikanischen Westküste – bei bestem Sonnenschein und offenem Verdeck, selbstverständlich – schreien, gefühlte sechs Monate zu spät zu hören. Und auf den Konzertbühnen entfacht die Drei-Schwestern-und-ein-Typ-Band in ihren wilden, unbedarften Zwanzigern noch immer die weitaus größere Wucht. Aber: Hey, wenn das kein Jammern auf verdammt hohem Niveau ist, was bitte dann? Ein feines Debütalbum ist „Days Are Gone“ allemal. Und wer sich zutraut, 2013 bessere Gitarrenpopsongs mit Westcoast-Feeling zustande zu bringen, der darf hieran gern scheitern. Bis dahin gilt: Der Hype ist tot, lange lebe der Hype!
Hier gibt’s die Musikvideos der Singles „Forever“…
…“Don’t Save Me“…
…“Falling“…
…und „The Wire“ in chronologischer Reihenfolge…
…sowie ein kurzes filmisches Portrait der Band:
Rock and Roll.