Jupiter Jones – Die Sonne ist ein Zwergstern (2022)
-erschienen bei Mathildas und Titus/Rough Trade-
Nicholas Müller hat viel durchgemacht. Etwa, als er sich nach Jahren des inneren Kampfes mit sich und seinem Umfeld endlich seinen Ängsten stellte. Als er im Jahr 2013 dabei auch seine Band, seine Jugendfreunde, sein Ein und Alles – sprich: Jupiter Jones – hinter sich lassen musste. Um zu sich (wieder) zu finden, gesund zu werden und wieder ein halbwegs „normales“ Leben zu führen. Über diese Erfahrungen hat Müller ein Buch geschrieben, welches es gar in die „Spiegel Bestseller“-Liste schaffte, Lesungen und Vorträge zur Aufklärung gegeben, seinen ebenso lobenswerten wie wichtigen Teil zur öffentlichen Debatte über psychische Erkrankungen beigetragen. Und immer mal wieder auch Songs geschrieben, denn selbst der olle Affe Angststörung konnte dem mittlerweile 42-jährigen Kreativkopf diese Leidenschaft zum Glück nicht gänzlich austreiben. Nach einer erfolgreichen Therapie tat sich Müller 2015 mit Tobias Schmitz zum Band-Projekt Von Brücken zusammen, das noch im gleichen Jahr sein gar nicht mal übles Debütalbum „Weit weg von fertig“ veröffentlichte. Und seine alten Weggefährten? Die standen nach mehr als zehn gemeinsamen Jahren plötzlich ohne Sänger da, berappelten sich jedoch und veröffentlichten 2016 mit Sven „Svaen“ Lauer, dem neuen Mann am Mikro, ihr sechstes Album „Brüllende Fahnen„. Doch irgendetwas passte nicht, an so einigen Ecken und Enden hakte es. Also zog die Band aus der Eifel anno 2018 die Reißleine und gab ihre Auflösung bekannt. Und nun? Sind Jupiter Jones zurück. Nicht plötzlich und auch – auf vielerlei Weise – nicht im alten Konstrukt, aber immerhin. Nach einigen Jahren der (durchaus verständlichen) Funkstille haben Nicholas Müller und Gitarrist und Hauptsongschreiber Sascha Eigner seit 2019 peu á peu wieder zusammengefunden und die beiderseits geliebte Band als Duo wiederbelebt. Das ist auch abseits des neusten Liedgutoutputs uneingeschränkt schön, denn nicht nur all den treuen Jupiter-Jones-Fans, die die Band schon seit 2002 begleiten, hätte so vieles gefehlt. Auch der deutschen Radio-Pop-Landschaft, welcher Jupiter Jones mit „Still“ einen ihrer fraglos besten Moment der 2010er-Dekade schenkten.

Ob das ohne Corona überhaupt möglich gewesen wäre? Ach, alles hypothetischer Konjunktiv! Fest steht: Während der Stille in der Pandemie, als viele sich erstmals seit Jahren mit sich selbst beschäftigten, sich – halb zwangsläufig, halb dankbar – zurückzogen, fanden Müller und Eigner musikalisch wieder zusammen, begruben alte Zwiste und merkten, dass beide eben vor allem im Doppel richtig gut funktionieren. Und die Band Jupiter Jones, zwischenzeitlich genauso aufs kreative Abstellgleis geraten wie Müllers Projekt Von Brücken, ward wiedergeboren. All die gemeinsamen Jahre, die Erfahrungen spülten die immer bestehende Symbiose der beiden schnell wieder an die Oberfläche. Und nach und nach entstand ohne Eile daraus Kreatives, etwa die bereits Anfang 2021 veröffentlichte, verflixt ohrwurmeingängige Comeback-Single „Überall waren Schatten„, welche intime Eindrücke aus der schweren Zeit einer Band am Scheideweg zwischen Punk-Rock-Vergangenheit, Chart-Hit-Erwartungen der Plattenfirma sowie inneren Kämpfen teilt und dabei auch den Status Quo der Welt da draußen nicht außer Acht lässt: „Gegen den Verstand verschwören / Auf Julian Reichelt hören / Mit Faschos den Frieden stör’n / Das hattet ihr alles schon, hattet echt alles schon“. Darf’s da noch mehr sein? Nach einigen weiteren Appetithappensongs meldet sich die zum Zweiergespann gesundgeschrumpfte Band mit ihrem nunmehr siebenten Studioalbum „Die Sonne ist ein Zwergstern“ zurück, das die beiden via Crowdfunding verwirklichten, damit sie selbstbestimmt arbeiten und alles so produzieren konnten, wie sie es wollten. Und bei selbigem verwundert zunächst einmal der ungewöhnliche Erscheinungstermin: am vorletzten Tag des alten Jahres.
Fragen nach dem Warum, also ob man das Alleinstellungsmerkmal dieses „Geburtstermins“ wählte oder ob möglichst wenige Menschen im Vakuum namens „Zwischen den Jahren“ davon mitbekommen sollten, sind – zumindest beinahe – obsolet, schließlich weiß auch das neue Langspielwerk, bei dem alle, die das Duo nach ihrem Comeback verfolgt haben, bereits gut die Hälfte der neuen Songs kennen dürften, mit so einigen nötigen intensiven Drückern auf die Magengrube überzeugen: Das Geschehene verarbeiten, sich verzeihen, mit manchem abschließen – Realismus trifft auf Euphorie. „Ich hab‘ Arme gebrochen / Die einfach niemals jemanden halten … Ich hatte all die Zeit das ‚Wie?‘ und das ‚Warum?‘ verloren / Und die größte Frage in meinen Ohren / ‚Krieg ich’s hin, mich an mir selber zu messen?'“ – Das geht auch beim zweiten Stück „Melatonin“ lyrisch nicht nur ans Eingemachte, sondern war, ist und bleibt, ebenso wie Nicholas Müllers so unverwechselbar sanfte wie reibeisenraue Stimme, in einer ziemlich hohen bundesdeutschen Liga.

Apropos bekannt: Auch das intime, gefühlsgeladene „Atmen“ darf sich bereits seit Monaten in die Ohren schmiegen – und offenbart, ebenso wie etwa „Der Nagel„, erneut Müllers Fähigkeit, wunderbar gefühlige Musik zu schreiben, die nicht allzu kitschig, sondern nahbar und gleichzeitig intelligent daherkommt. Ähnliches gilt für „Der wichtigste Finger einer Faust„, das an zahmere Kettcar erinnert und kindliches Empfinden und Erleben mit starren gesellschaftlichen Normen, daraus resultierenden Pflichten sowie der rebellischen Antwort darauf zwinkernd versöhnt: „Hier ist dein Kopf, da sind all die Gеdanken drin / Und da dein Herz, da woll’n all diе Gedanken hin / Und von da woll’n sie dann wirklich allzu gern in dein Bauch / Und deinen Schlaf und deine Nerven wollen sie auch / Hier ist dein Mund, da liegt die ganze Wahrheit drin / Und da dein Ohr, da will die ganze Wahrheit hin / Und wenn irgendwer kommt / Und meint, dass Du das alles nicht mehr brauchst / Ist hier der wichtigste Finger einer Faust“. Auch „Mein Viel und dein Vielleicht“ geht recht nah und stellt unangenehme Fragen, verarbeitet aber vorbildlich erwachsen. Muss ja. Und entlockt hintenraus zu zart hereinschleichenden Bläsern sogar ein Grinsen. Auch toll: „Bleibt zusammen„, ein gleichsam wütendes wie melodisches Stück, bei dem sich Nicholas Müller einmal mehr als gewiefter Texter erweist und das vom emotionalen Druck, den man sich macht, wenn man aus reinem Pflichtgefühl in einer im Grunde längst zerbrochenen Beziehung bleibt, erzählt: „Zum Gehen fehlt der Mut / Zum Bleiben fehlt die Lust / Mein Haus, mein Boot, mein Auto / Mein Nervenzusammenbruch / Wenn’s das war, was ich wollte / Dann hätt ich’s gern gewusst / Mein Haus, mein Boot, mein Auto / Mein Realitätsverlust“.
Alles schickschicktoll also? Nicht ganz, denn mit Stücken wie „Wenn’s nicht weh tut„, „Vielleicht“ oder „Oh, Philia!„, die etwas zu sehr mit Keyboards und Drumbeat verspachtelt sind, rücken die „neuen“ Jupiter Jones in Sachen Arrangements dann leider etwas nah ran an das völlig zurecht als seelenloser Formatradio-Einheitsbrei wahrgenommene Menschen-Leben-Tanzen-Welt-Genre. Ja, machen wir uns nix vor: Nicht wenigen alten Wegbegleitern, zu denen sich glücklicherweise auch der Schreiber dieser Zeilen zählen darf, fällt hier die Jupiter-Jones’sche Vergangenheit mit all ihren wilderen Punk-Rock-Momenten auf die Füße. Wer sich davon mehr freimachen kann (oder gar recht frisch auf das Duo stößt), der wird auf „Die Sonne ist ein Zwergstern“ zweifelsohne einige feine Songs und kleine Gänsehaut-Momente für sich entdecken können. Und am Ende freuen sich beide Gruppen über die durchaus vorhandenen Glanzlichter dieser Platte, über Geschichten vom Fallen und Aufstehen, wie auch der stille Abschluss „So hat noch jedes Ende angefangen“ eine(s) ist: „Manchmal halt‘ ich Abstand, nur um die nicht zu erschrecken / Die mich überhaupt nicht kennen und die gibt’s an allen Ecken / Zum Glück ist’s so, wer wär‘ ich denn / Wenn alle wüssten, wer ich bin? / Der Gläserne, der Angstgetriebne / Der Wegrenner, der Hiergebliebne / Und manchmal, wenn ich Glück hab‘, in den seltensten Momenten / Greif‘ ich nach dem letzten Strohhalm aus den allerschönsten Händen / Und hier steh‘ ich nun, wer wär ich denn / Wenn ich nicht wüsste, wer ich bin? / Der Überhaupt-nicht-Angstgetriebne / Ich wünscht‘, du wärst noch hier geblieben“. Oder eben schlicht darüber, dass die Herren Müller und Eigner (mit denen coolibri.de hier unlängst ein ausführliches Interview führte), dass Jupiter Jones wieder da sind. Im indiepoppenden Klangoutfit, mit dem Punk im Geiste. Die bittersüße Vergangenheit im Nacken und die Zukunft im Blick, bleibt an dieser Stelle noch ein alter, jedoch weiser Rat, den uns einst eine gewisse Eifelaner Punkband spendierte: „Gerad‘ deswegen / Auf das Leben!“
Rock and Roll.