
Flo Perlin hat den halben Globus bereist und dabei nahezu unweigerlich massig Eindrücke gesammelt, die nun ihr zweites Album „Characters“ ausmachen – stetig auf der Suche nach den besonderen Charakteren um sich herum wie in sich selbst. Sie ist im Nahen Osten, in den US of A, in Europa und Asien unterwegs gewesen, hat die Spuren ihrer jüdisch-irakischen Familie bis nach Myanmar verfolgt, wo sie zudem als buddhistische Nonne ordiniert wurde. Doch trotz all des immerwährenden Fernwehs ist der Nachfolger zum 2017 erschienenen „Cocooned“ ebenso das Ergebnis von Stillstand und innerer Einkehr – eine Bestandsaufnahme, nachdem 2015 bei ihr eine Autoimmunkrankheit diagnostiziert wurde und sie eine Zeit lang in Krankenhäusern ein- und ausging. Wie auch der Erstling ist „Characters“ ein Kokon meditativer Introspektion, der die Zuhörer in diese acht Stücke und in Perlins fast schon honigsüßen Gesang einhüllt.
Im Eröffnungsstück „Slowly Unfold“ schildert die Singer/Songwriterin ihre persönliche Reise hinein in die Selbstreflexion. Sie erzählt von einer Frau, die versucht, sich selbst durch ihre Kreativität zu verstehen, wenn sie singt: „She had her father’s hand / She wrote so she could understand“. Zudem beschreibt die Entfaltung, die erst dann möglich scheint, wenn das Unbewusste die Flucht ergreift. Perlins ebenso subtile wie melodiöse Stimme, welche manch eine(n) durchaus an die großartige Ane Brun denken lassen wird, ist eine durch sonnenbeschienenes Laub rauschende Brise, ist Ton und Klang gewordener Wasserfluss – sie zieht an, taucht ein und übertönt alles um sie herum. Das spärliche Arrangement ihrer sanft angeschlagenen Gitarre wird von einem dezent eingewobenem Bett aus Streichern unterstützt, aus dem sich immer wieder eine Geige Bahn bricht.
Aller feinsinnigen Instrumentierung zum Trotz – nichts an diesen Songs scheint zu viel, scheint überflüssig. Der Gesang der in London beheimateten Singer/Songwriterin, die seit ihrem fünften Lebensjahr auch Cello spielt, atmet frei durch das jazzige Folk-Arrangement von „Hold Up Your Head Child“, welches zudem mit subtiler Basslinie und den Bossa-Nova-beeinflussten Gitarrenrhythmen zu überzeugen weiß. Der Song entstand nach einem erneuten Aufflackern der Autoimmunkrankheit, die Perlin glauben ließ, dass sie wohlmöglich für immer mit chronischen Schmerzen zu kämpfen haben würde. Als sie sich davon erholt hatte, schrieb sie dieses Stück – um sich daran zu erinnern, nie gänzlich die Hoffnung zu verlieren: “Hold up your head, child / This will pass”.
„Baghdad“ wiederum zieht den Hörer mit seinem wehmütig-nostalgischen Intro aus Streichern und Gitarre schnell in seinen Bann. “She took a spade / She’s digging away / Through the sand with the hope / That she’ll find a new land”, singt Perlin über ihre Großmutter. Der wunderbar melancholische Song scheint durch und durch in Sehnsucht getränkt – Sehnsucht nach einem Zuhause, nach Wurzeln, nach einem vergangenen, gelebten und – zumindest zum Teil – erdachten Leben. Die Zeilen des Liedes geraten gleichsam bezaubernd und herzzerreißend, während Perlin tiefer in ihre Familiengeschichte eintaucht und einmal mehr ihre Großmutter beschreibt: “She couldn’t bear / The taste of mum’s tea / It runs through the roots of her / Family tree”.
„Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen“, meinte einst der französische Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord. Dieses Zitat könnte wohlmöglich auch Perlin im Hinterkopf gehabt haben, die im darauffolgenden „Words“ singt: „Scream with your eyes / But your words can’t get through“, wobei sie auf ihre Weise die naturgemäße, höchst subjektive Unvollkommenheit von Worten hervorhebt und darauf hinweist, wie oft ebenjene zu kurz greifen. Nicht eben unsympathisch, dass sie sich selbst den ein oder anderen Fehler eingesteht, von dem wohl die meisten von uns ab und an heimgesucht werden: “Sometimes I listen / But sometimes I don’t”, gibt sie zu, oder: “Sometimes I talk / Though I don’t understand”.
„Blue Is The Colour“ ist ein Stück über den Wunsch nach Nähe und über die Beziehungen, die uns alle in irgendeiner Form prägen – sei es zu anderen Menschen, zur Natur oder schlicht zu uns selbst. Perlin meditiert darüber, wie man geben kann, ohne dass einem zu viel genommen wird, und verwendet das sprachliche Bild wachsender Wurzeln, um zudem sowohl auf die Identität als auch auf unsere Abkopplung von der Natur hinzuweisen: “I gave my roots to the people / But they took them from me”, wie sie singt. Streicher unterstützen gen Ende ihr sanftes Summen und treiben den Song plötzlich mit einer melodischen Hook vorwärts, die den Hörer eine nahende instrumentale Explosion vermuten lässt. Stattdessen klingt der Song sanft aus und macht Lust auf mehr.
Das abschließende „Move Through The Waves“ unterscheidet sich deutlich von allem anderen auf dem gut halbstündigen Album. Es ist das einzige Stück, in dem Perlin Klavier spielt – jenes Instrument, auf dem sie einst mit dem Schreiben von Musik begann. Zwar kommt auch dieser Song nicht aus der nachdenklichen Kaminecke hervor, macht es sich dort jedoch zu einem entspannten, jazzigen Beat, der an Lianne La Havas erinnert, gemütlich. „Simplify the outside“, wiederholt Perlin wie ein Mantra. Und: Mit „Move Through The Waves“ versucht die Musikerin, die verschiedenen Charaktere in sich selbst noch einmal unter einen Hut zu bringen, indem sie nach innen schaut, um alles Äußere zu vereinfachen. Es scheint beinahe, als sei der Song auch ein Versuch der Versöhnung der verschiedenen musikalischen Stimmen tief in Flo Perlin – er stellt ihre Vielseitigkeit als Songwriterin unter Beweis, ohne ihren Kern aus den Augen zu verlieren. „Let the silence give you space“, singt Perlin immer wieder. Wenn die Musik schließlich ihr Ende findet, scheint die Stille mit einem Mal ein klein wenig erträglicher – und vielleicht ist das das Geschenk, das Flo Perlin ihren Zuhörern macht: Gelassenheit in der Einsamkeit, Leichtigkeit im Unbehagen zu finden.
Rock and Roll.