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Song des Tages: The Mars Volta – „Inertiatic Esp“ (unfinished original recording)


Nicht, dass The Mars Volta, das infernalische Duo bestehend aus Cedric Bixler-Zavala und Omar Rodriguez-López, seit 2012, also nachdem das bisher letzte Album „Noctourniquet“ erschien, unproduktiv gewesen wären. Nach dem (vorläufigen) Ende der progrockenden US-Santana-goes-Soft Machine-goes-At The Drive-In-Superband riefen die beiden Masterminds 2014 zunächst Antemasque ins Leben, veröffentlichten unter diesem Namen ein selbstbetiteltes Album, um anschließend – zur allseits großen Überraschung – tatsächlich (kurzzeitig) At The Drive-In wiederzubeleben und mit „In•ter a•li•a“ und „Diamanté“ ein Album sowie eine EP unter die Fanschar zu hauen.

Und da haben wir noch nicht von Bixler-Zavalas Supergroup Anywhere gesprochen, die 2012 und 2018 Alben veröffentlichte sowie natürlich von Rodriguez-López, dessen Album-Output seit 2012 satte 29 Alben umfasst – im Juli 2020 dann neu ausgelesen, arrangiert und inszeniert in der zusammenfassenden Vinyl-Box „The Clouds Hill Tapes Parts I, II & III“. Umtriebig? Du machst dir ja keine Vorstellungen…

Ebenjenes Hamburger Label Clouds Hill (und somit freilich die Leute dahinter) ist seit Jahren eng mit den zwei Protagonisten befreundet. Rodriguez-López hat im dazugehörigen Studio solo gearbeitet, mit seiner Partnerin Teresa Suaréz (alias Teri Gender Bender von Le Butcherettes) dort das Projekt Bosnian Rainbows ins Leben gerufen (und mit ihr und den Melvins als Crystal Fairy 2017 ein Album veröffentlicht), und auch At The Drive-In haben dort bereits aufgenommen.

Nun erschien bei Clouds Hill auch eine beachtliche LP-Box von The Mars Volta: „La Realidad De Los Sueños“ enthält alle Studio-Alben und EPs der Band in einer schick aufgemachten, auf 5.000 Stück limitierten 18-LP-Box – kaum verwunderlich, dass das hübsch anzusehende Teil mit seinen 180-Gramm-Vinyls sowie dem dazugehörigen Bildband trotz des stattlichen Preises von knapp 400 Euro ruckzuck ausverkauft war (und nun zu Mondpreisen via Ebay und Co. weiterverscherbelt wird).

Freunde der Band, die die komplette Mars Volta’sche Diskografie – in welcher Form auch immer – bereits in ihrer heimischen Sammlung haben, bietet die in intensiver Zusammenarbeit zwischen Band und Label konzipierte Box, deren deutscher Titel passenderweise soviel wie „die Wirklichkeit der Träume“ bedeutet, neben den erstmals speziell fürs Vinyl gemasterten sechs Studioalben und der 2002er Debüt-EP „Tremulant“ dennoch etwas Neues: die Erstveröffentlichung des mythenumrankten Albums „Landscape Tantrums“, von dessen Existenz Fans jahrelang im Unklaren gelassen wurden. Viel Lärm um ein Bootleg? Denkste! Bei selbigem handelt es sich um nicht weniger als die zwar unfertigen, jedoch nichtsdestotrotz interessanten Originalaufnahmen der Sessions zum wegweisenden Debütlangspielers „De-Loused In The Comatorium„, der 2003 den energischen Sound der Vorgängerband At The Drive-In in Richtung Prog, Salsa und gefühlt zehn weiterer Genres lenkte, zugleich zig emotionale Tiefen auslotete und bis heute völlig zu Recht als ein absolutes Meisterstück gilt.

Die als „Landscape Tantrums“ benannte Demo-Sammlung erschien dieser Tage glücklicherweise auch separat als digitale Version und versammelt fast alle Originalsongs. Ein kleiner Wermutstropfen mag sein, dass ausgerechnet das zentrale Epos „Cicatriz Esp“ und ferner das Interlude „Tira me a las arañas“ außen vor bleiben. Ein seltsamer dramaturgischer Move ist zudem das Vorziehen von „Roulette Dares (The haunt of)“ auf die Opener-Position – ist „Son et lumière“ nicht die stimmungsvollste Eröffnung der Gruppe? Ansonsten bleibt es bei der Reihenfolge des Originalalbums und weitgehend auch bei dessen Inhalt. Naturgemäß sind die Kanten ohne die spätere Bearbeitung von Star-Produzent Rick Rubin etwas weniger geschliffen, der Fokus liegt noch etwas mehr auf dem Post-Hardcore von früher, was besonders der Version von „Roulette Dares“ recht gut zu Gesicht steht. Nach wie vor reißen Rodriguez-López‘ ebenso genialistische wie saitengefährdende Freakouts mit, während Bixler-Zavala hier noch ungehinderter barmt und heult und stellenweise noch mit textlichen Platzhaltern und irren Effektfiltern kämpft.

Eine Offenbarung ist das alles zwar – fast schon logischerweise – nicht, zumal „De-Loused In The Comatorium“ etwas später gerade von der Verheiratung der unbändigen Energie mit klinischer Präzision lebte – letztere geht diesen Demos freilich ab. Dennoch sind die Songs selbst zweifellos unkaputtbar und „Landscape Tantrums“ lässt durchaus einen absolut lohnenswerten Blick in die Gedankenwelt sowie auf das frühe Schaffen der Band zu. Letztlich bieten vor allem die beiden Closer doch noch ein wenig Neues: „Televators“ verzückt als gänzlich akustische Fassung und zeigt, wie stark das Songwriting auch ohne Rubin und jede Effekthascherei war. „Take The Veil Cerpin Taxt“ hat derweil weniger Gesang, dafür mit zwölfeinhalb Minuten mehr Laufzeit und somit mehr psychdedelisches Wandern zu bieten – quasi als Ersatz für das fehlende „Cicatriz Esp“. Das große Finale bleibt allerdings das gleiche: „Who brought me here?“, schreit Bixler-Zavala wie ein dem Fatalismus anheim gefallener Mann am Ende seiner Kräfte. „De-Loused In The Comatorium“ bleibt das mystische, jedes Mal aufs Neue faszinierende Manifest von The Mars Volta. Und „Landscape Tantrums“ gibt statt dem „wer“ nun ein paar mehr Antworten auf das „wie“.

Rock and Roll.

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Song des Tages: The Mars Volta – „Cicatriz ESP“


The+Mars+Volta

Ein Abend in Berlin, März 2005: Omar Rodriguez-Lopez und Cedric Bixler-Zavala sind mit ihrem vielköpfigen Progrock-Kollektiv The Mars Volta in den – zugegeben wie immer klanglich höchst suboptimal abgestimmten – Hallen der „Huxley’s Neuen Welt“ zugegen, um Songs ihrer bislang erschienenen Alben „De-Loused In The Comatorium“ und „Frances The Mute“ vorzustellen. Obwohl: „Songs“? Was auf Studiokonserve bereits recht fordernd und einnehmend daher kommt – und besonders beim Debüt „De-Loused…“ auch über zehn Jahre nach Veröffentlichung nichts, aber auch gar nichts an Qualität und Größte eingebüsst hat -, gerät auf Bühnenbrettern zum 90-minütigen Langzeitjam, dem sich die gesamte Band mit Haut und Wuschelhaar hingibt. Der Zuschauer hat da nur zwei Möglichkeiten: kick back ’n‘ hang loose or die trying. Knapp zehn Jahre später ist die Band längst Geschichte. Und der kundige Hörer weiß auch: An The Mars Volta schieden sich stets die Geister – zwischen Liebe der ausufernden Genialität und Abneigung gegenüber des selbstgenügenden Prog-Schwurbels passte selten ein Blatt. Das war auch bei Rodriguez-Lopez‘ und Bixler-Zavalas Vorgängerband At the Drive-In so, bei ANTEMASQUE, dem neusten Klangoutfit der beiden US-Musiker mit wenig Kompromissbereitschaft, ist’s kaum anders (und geht klanglich wieder mehr in Richtung At the Drive-In). Hate it or love it.

An jenen Abend im März 2005 wurde ich heute aufgrund einer Meldung erinnert. Der Anlass könnte trauriger kaum sein:

„Ikey Owens ist tot. Der langjährige Keyboarder von The Mars Volta starb am gestrigen Dienstag mit nur 38 Jahren in Mexiko. Owens befand sich dort auf Tour mit Jack White, der daraufhin alle Konzerte absagte.

Die genauen Umstände, die zum Tod von Ikey Owens geführt haben, liegen zur Stunde im Dunkeln. Owens wurde mexikanischen Medien zufolge leblos in seinem Hotelzimmer in der Stadt Puebla aufgefunden, offenbar starb er an einem Herzinfarkt. Berichte lokaler Zeitungen, nach denen sich zum Zeitpunkt seines Todes Alkohol und Drogen in Owens‘ Besitz befunden haben sollen, wurden bislang nicht von offizieller Seite bestätigt.

Jack White, der Owens für seine Tour zum Soloalbum „Lazaretto“ engagiert hatte, reagierte bestürzt auf den Tod seines Keyboarders, der mit ihm am Abend in Guadalajara auf der Bühne stehen sollte. Das Konzert wurde ebenso abgesagt wie alle weiteres Shows der Tour. In einem Statement auf seiner Facebook-Seite würdigte White Owens als einen „unglaublichen Musiker“. „Seine Familie, Freunde, Bandmitglieder und Fans werden ihn vermissen und für immer lieben“, heißt es darin.

Isaiah „Ikey“ Owens, Jahrgang 1975, machte sich vor seinem Engagement bei White vor allem als Keyboarder von The Mars Volta einen Namen, deren 2003er Debüt „De-Loused In The Comatorium“ als eines der wichtigsten Progressive-Rock-Alben des neuen Jahrtausends gilt. Nach den Bandköpfen Cedric Bixler und Omar Rodriguez war Owens der Musiker, der auf den meisten Mars-Volta-Alben zu hören ist; einzig beim letzten, „Noctourniquet“ von 2009, gehörte Owens nicht mehr zum Line-up der Band.

Vor seiner Zeit bei The Mars Volta hatte der Kalifornier unter anderem auch De-Facto angehört, dem Dub-Projekt von Bixler und Rodriguez, das diese bereits zur Zeit von At The Drive-In gegründet hatten. Weitere Banderfahrungen sammelte Owens bei lokalen Acts wie Look Daggers aus der Gegend um Long Beach, Los Angeles. Außerdem veröffentlichte er Solo unter dem Pseudonym Free Moral Agents.“

(Quelle: visions.de)

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Wenn ich an Isaiah ‚Ikey‘ Owens und an The Mars Volta denke, kommt mir – und ich denke, da bin ich keineswegs der Einzige – sofort das genial überhöhte „Cicatriz ESP“ in den Sinn. Bereits auf dem Debütalbum war der „Song“ mit seinen zwölfeinhalb Minuten, mit seinen Jams, wilden Refrainausbrüchen und atmosphärischen Pluckerzwischenspielen keineswegs radioairplayfreundlich – und trotzdem ist das Ding noch heute ein verdammter Antihit sondergleichen, der sich tief in die Hirnrinde gräbt und gar nicht daran denkt, wieder hervor zu kriechen. Ewig schön. Mach’s gut, Ikey.

 

 

Rock and Roll.

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Bittere Einsichten – The Mars Volta folgen At the Drive-In. The Mars Volta sind Musikgeschichte.


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Fragt man einen Meteorologen, so wird dieser wohl antworten, dass der Juni 2003 der heißeste sechste Kalendermonat seit 1901 war. Ich selbst erinnere mich vor allem an diesen Monat, weil ich damals zum ersten Mal „De-Loused In The Comatorium„, das Debütalbum von The Mars Volta, in meinen Händen halten durfte (ja, ich erinnere mich selbst daran, wann und wo ich es gekauft habe!). Heute, fast zehn Jahre später (Zehn Jahre? ZEHN Jahre?!?), liegt mir dieses Album noch immer sehr am Herzen. Ich würde sogar so weit gehen, es in seinem Facettenreichtum, seiner Tiefe, seiner Schwere, seiner Verspieltheit also das „The Wall“ meiner Generation zu bezeichnen. Denn egal, welch‘ monströsen Open der Bandrumpf um den virtuosen, höchst eigenen Gitarristen Omar Rodriguez-López und den Gesangsderwisch Cedric Bixler-Zavala danach noch veröffentlichte – und bei den nachfolgenden fünf Alben war Einiges an klanglicher Anstrengung dabei -, ihr 60-minütiges „Opus Magnum“, welches sich konzeptionell um eine Figur namens Cerpin Taxt und dessen Erlebnisse im durch eine Morphium-Überdosis verursachten Koma dreht (die traurige Inspiration dazu lieferte der Tod des aus El Paso, Texas stammenden Künstlers Julio Venegas, einem Freund Bixler-Zavalas, im Jahr 1996), konnten sie danach nicht mehr übertreffen. Dafür erforschten sie weiter einen Klangkosmus, dem das anfänglich noch überschaubar zusammengezurrte Rockmusikgestell schon bald zu eng wurde, dehnten ihn in Richtung Progressive Rock, Punk, Elektronik, Latin, Jazz oder Post-Hardcore aus, nahmen um sich herum in regelmäßigen Abständen einen munteren Austausch der Mitmusiker vor (Wikipedia zählt ganze 21 Musiker, die bisher bei und für The Mars Volta gespielt haben!) – und entfernten sich selbst immer mehr voneinander. Klar kommt so etwas selbst „in den besten Familien“ vor. Und dennoch ist es schade, dass diese beiden musikalischen Querdenker, die zuvor  – und bereits seit Anfang der Neunziger – bei den legendären Post-Hardcore-Rockern von At the Drive-In für Furore und frenetisch wirbelnde Moshpits gesorgt hatten, nun nicht mehr sind, denn Bixler-Zavala gab heute mit einer Menge Bitterkeit zwischen den Zeilen das Aus für The Mars Volta via Twitter gekannt:

„Soll ich mich benehmen wie eine neumodische Hausfrau und einfach dabei zuschauen, wie mein Partner mit anderen Bands vögelt? Wir schulden es den Fans zu touren (…) Ich kann hier nicht rumsitzen und länger so tun, als wäre nichts. Ich bin nicht mehr Mitglied von Mars Volta.“

Natürlich kann man den Grund für den Split bei Rodriguez-López‘ vielen Nebenbetätigungsfeldern und -projekten suchen – der Mann hat zwischen 2004 und 2013 immerhin rund 30 (!) Soloalben veröffentlicht (von Kollaboration man ganz zu schweigen), und mit Bosnian Rainbows immerhin ein veritables und vielversprechendes neues Bandprojekt in den Startlöchern. Eventuell lag es jedoch auch ein wenig daran, dass Sänger Cedric Bixler-Zavala selbst in letzter Zeit mehr Energie in seine Zugehörigkeit zur L. Ron Hubbard-Sekte Scientology investierte denn in die Musik…

Tausend potentielle Gründe, die noch auf ein Statement des Gitarristen warten und immer auf’s Gleiche hinaus laufen: The Mars Volta sind nun, wie bereits ihre Vorgängerband At the Drive-In (die für die letztjährige Festivalsaison und einige wenige Konzerte ein kurzes Live-Comeback feierten) Musikgeschichte. Schade, denn beim 2012 erschienenen sechsten Album „Noctourniquet“ zeigte die zum Qualitätsmesser umfunktionierte „Pommesgabel“ nach einigen mittelprächtigen Veröffentlichungen wieder überzeugt gen Himmel. Immerhin wird „De-Loused In The Comatorium“ als ewig turmhohes Vermächtnis bleiben. Viele Bands lösen sich nach weitaus weniger Erreichtem auf…

 

Wenn ich heute noch manchmal „De-Loused…“ durch die Ohrmuscheln rauschen lassen, bin ich wieder in diesem Sommer im Jahr 2003, fühle die Hitze, die Aufregung der Post-Abitur-und-Schul-Zeit, all die Verlockungen des Neuen, des Ungewohnten, des Ungehörten. Alles ist so vertraut, und neu zugleich. Alles ist Ruhe. Alles ist Euphorie…

 

Davon, dass The Mars Volta zu beinahe jeder Zeit ihres Bestehens eine gleichzeitig fantastische und kompromisslose Live-Band waren, durfte ich mich glücklicherweise selbst überzeugen (allen anderen sei etwa das 2005 erschienene Live-Album „Scabdates“ empfohlen). Diese 2003 mitgeschnittene Live-Version von „Cicatriz Esp“, dem wohl besten Song von „De-Loused…“, bringt diesen Fakt annähernd rüber:

 

Aber auch danach legten The Mars Volta keinesfalls minderwertige Songs vor, wie diese Beispiele…

 

…oder die „Abbey Road Session“ zeigen:

 

P.S.: Die Wulffs, die Van Der Vaarts, die Mars Voltas – der Januar scheint auch in diesem Jahr für viele Langzeitbeziehungen ein guter Monat zu sein, um mit unliebsam gewordenen „Altlasten“ zu brechen. Dieser Tradition folgt, wie’s ausschaut, auch Islands bekannteste Band Sigur Rós, die die Trennung von Keyboarder Kjartan Sveinsson, welcher immerhin seit 1998 zur enigmatischen Erfolgskollektiv gehörte, heute „semi-offiziell“ bekannt gaben und fortan als Trio weitermachen werden.

 

Rock and Roll.

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