Egal ob sie nun aus dem Musiker-Business, aus der Sportwelt, aus Hollywood oder dem Superhelden-meets-Superschurken-Universum stammen – der aus Israel stammende und in Kalifornien beheimatete Grafikdesigner Gil Finkelstein verjüngt unter dem Titel „The Baby Superstar“ via Instagram auf ebenso kreative und humorvolle wie herzallerliebste Weise die hinlänglich bekannte Prominenz, die zwar hier vor allem durch volle Windeln von sich reden machen mag, sich jedoch oft genug auch durch das ein oder andere „Markenzeichen“ zu erkennen gibt… Prädikat: sollte man gesehen haben.
Eine besondere Qualität Eddie Vedders liegt darin, sich als einer der größten, beständigsten Rockstars seiner Generation genau diesem Label immer wieder entziehen zu können. So finden sowohl er selbst als auch seine Stammband Pearl Jam ihren festen Platz in einer Genealogie, die einen Highway von den großen Vorbildern Neil Young und Tom Petty vorbei an kleinen Clubs und Motels bis zum nächsten Stadion baut. Gewaltige Arenen füllen zu können und bei aller Kredibilität dabei dennoch nie wirklich den Anschein des Ausverkaufs zu erwecken – ein Spagat, der nicht vielen gelingt und bei Vedder vielleicht (auch) auf die jahrelange Surf-Erfahrung zurückgeht. Und auch sein unbeugsamer politischer Aktivismus scheint seit jeher eher einer unverbrüchlichen Prinzipientreue zu entstammen und wenig mit der pflichtschuldigen Scheinheiligkeit mancher Kollegen ähnlichen Kalibers zu tun zu haben. „Earthling„, sein erstes echtes Soloalbum seit zehn Jahren – den schönen Soundtrack zu „Flag Day“ von 2021 nicht mitgerechnet – trägt also in vielerlei Hinsicht einen klugen Titel für eine Songsammlung, die munter und geerdet durch die Welt hüpft, sich aber dennoch des längst erworbenen Legendenstatus‘ bewusst ist. Ein kurzer Blick auf die Kollaborateure genügt: Stevie Wonder, Elton John, Ringo Starr – Vedder scheut sich zu Recht nicht mehr, als weiser alter Mann der Popgeschichte aufzutreten.
Seine Stammband setzt auf „Earthling“ ebenfalls auf Erfahrung. Neben dem Grammy-prämierten Starproduzenten Andrew Watt (Ozzy Osbourne, Justin Bieber, Miley Cyrus), für den sich mit der Arbeit mit Vedder ein Kindheitstraum erfüllt (schließlich trennen die beiden stolze 26 Lenze Altersunterschied) und der wohl auch für das kommende Pearl Jam-Album den Platz hinter den Reglern einnehmen wird, rekrutiert Vedder mit Chad Smith und Josh Klinghoffer seine Mitstreiter aus dem Dunstkreis von Red Hot Chili Peppers: zwei der Gründe, warum „Earthling“ die Ukulele dieses Mal im Jutesack lässt und deutlich rockiger und variabler als die bisher eher zurückhaltenden, lagerfeuerromantischen Soloausflüge Vedders gerät. Aber hören wir mal, Stück für Stück, genauer hinein…
Foto: Promo / Danny Clinch
„Invincible“: „Earthling“ beginnt auf recht ungewöhnliche Weise: mit Synthesizer-Tönen, durch welche sich alsbald eine Akustische und Eddie Vedders Stimme Bahn brechen. Er verwendet hier das phonetische Alphabet – eine durchaus hintersinnige Taktik, mithilfe derer er gleich zum Anfang ein paar ausgewählte popkulturelle Wortspiele in den Song einbringt:
„Can you hear? / Are we clear? / Cleared for lift off, takeoff / For making reverberations / Are we affirmative? / No negatory / Come in, come in / Radio, what’s your story? / Are you Oscar Kilo? / Will you Wilco? / Are you ready for a bit of, a bit of echo victor?“
Die erwähnten „Wilco“ sind eine weitere Band, die das phonetische Alphabet verwendete, als sie 2001 ihr wegweisendes viertes Album „Yankee Hotel Foxtrot“ benannten. Der „Oscar Kilo“-Verweis könnte auf verschiedene Weise betrachtet werden, etwa als Anspielung auf Radioheads monumentales drittes Album „OK Computer“ – oder Vedder könnte den Hörer einfach fragen, ob es ihm gut geht, während der „Echo Victor“-Verweis einfach seine Initialen darstellt. Alles in allem eine durchaus ungewöhnliche wie unterhaltsame Art, das Album zu eröffnen, die zudem eine Lockerheit signalisiert, welche bei den meisten von Vedders Soloarbeiten bisher fehlte. Musikalisch verzichtet „Invincible“ auf Pearl Jams oft geradlinigen Rock-Ansatz zugunsten eines Sounds, der auch auf Paul Simons „Graceland“, Peter Gabriels „So“ (zwei Platten, die 1986, fünf Jahre vor dem Pearl Jam-Debüt „Ten“, erschienen) oder den Alben der späten Talking Heads-Ära nicht groß aufgefallen wäre. Die Gesangsmelodie gerät in der Strophe manchmal etwas unbeholfen, da viele Worte auf engstem Raum untergebracht sind, kommt aber im Refrain mit dem in zwei verschiedenen Oktaven gesungenen „i-i-i-i-invincible, when we love“ voll zur Geltung. Die Produktion ist vor allem von den 1980er Jahren beeinflusst, mit Gated-Reverb-Schlagzeug, hallgetränktem Gesang und Keyboards, die durchweg die Richtung vorgeben. Akustik- und E-Gitarren wechseln sich ab und sorgen für subtile Texturen, wollen dem Rest jedoch nie die Show stehlen. Bei so viel Abwechslung hätte der Mix leicht zu einem Durcheinander werden können, aber jedem Instrument und jeder Stimme wird von Produzent Andrew Watt genug Raum zum Atmen gegeben – in vielerlei Hinsicht ein erstes Ausrufezeichen.
„Power Of Right“: War die Eröffnungsnummer noch recht weit vom gewohnten Pearl Jam-Sound entfernt, so ist schon das zweite Stück mit angezogenem Tempo wieder sehr nah am musikalischen Kosmos von Vedders Stammband angesiedelt. Elemente von Andrew Watts schlankem Produktionsstil (etwa Handclaps, anhaltende Gitarrenhooks oder leichte Gesangsbearbeitung) schimmern durch die Verzerrung hindurch und erinnern einen an die (für manchen Hörer eventuell zu) gut polierten klanglichen Qualitäten des Albums. Während sich Vedders vorherige Soloalben „Into The Wild“ (2007) und „Ukulele Songs“ (2011) oftmals wie isolierte One-Man-Show-Projekte anfühlten, die sich voll und ganz auf akustische Instrumente konzentrierten, ist „Earthling“ deutlich kollaborativer, vielfältiger – und repräsentiert in dieser Hinsicht wohl eher die wahre Essenz seines Schöpfers. Musikalisch reiht sich der Song neben Pearl Jam-Stücke wie „Superblood Wolf Moon“, „Never Destination“ oder „The Fixer“ ein. Nahe der Eineinhalb-Minuten-Marke gibt es einen Breakdown, bei dem Gitarren und Keyboard in den Hintergrund treten und nur eine brummende Basslinie sowie Chad Smiths beharrlicher Beat übrig bleiben, während Vedder „Knocking, knocking the door with his centrifugal force / Couldn’t take the first step / Rocking back and forth“ singt. Für eine Band, die im Grunde ad hoc im Studio zusammengestellt wurde, ist das Niveau der zu hörenden Musikalität durchaus beeindruckend – andererseits bekommt Vedder natürlich hier Unterstützung von gut eingespielten Vollprofis. Ab der Drei-Minuten-Marke bis zum Ende des Songs lässt Josh Klinghoffer ein Gitarrensolo vom Stapel, in welches Vedder „Heed the power, equal power / Share the power, feel the power / Fight the power, be the power / Feed the power, be the power of light“ singt. Die Punk-Rock-Stimmung der Strophe bildet einen angenehmen Kontrast zum traditionelleren Pop-Rock-Refrain, und das Gitarrenriff trägt dazu bei, dass sich der Song sicherlich in mehr als nur ein paar Köpfen festsetzen wird.
„Long Way“: Die erste Singleauskopplung von „Earthling“ ist deutlich hörbar eine Hommage an einen von Vedders größten wie langjährigsten Einflüssen, den 2017 verstorbenen Tom Petty, und wird passend dazu von dem langjährigen Heartbreakers-Mitglied Benmont Tench an der Hammond-B3-Orgel sowie Vedders Tochter Harper als Backgroundsängerin begleitet. „Long Way“ besitzt dabei durchaus luftig-leichte Qualitäten, die an einige der besten Stücke von Pettys „Full Moon Fever“ oder Bruce Springsteens „Tunnel Of Love“ denken lassen. Nach etwas mehr als zwei Minuten setzt Watt zu einem inspirierten Gitarrensolo an, das sauber beginnt und sich zu einem Höhepunkt des Songs entwickelt, sobald er ein Overdrive-Pedal einsetzt. Nach selbigem Solo bietet das Stück einen feinen Breakdown mitsamt Klavier, Bass und Gesang auf, der reichlich Platz für einen dramatischen Aufbau bis zum Refrain bietet, bei etwa dreieinhalb Minuten gibt es zudem eine Bridge mit geschmackvollen Drum-Fills und einer aufsteigenden Orgellinie. Überhaupt: Tenchs Orgel und die Rhythmusgruppe um Smith am Schlagzeug sowie Watt am Bass bilden ein starkes musikalisches Fundament, auf dem Vedder den Song aufbauen kann. Dem Frontmann wird von seinen Mitmusikern viel Spielraum gelassen, und glücklicherweise wird die eingängige, durchaus radiotaugliche Melodie nicht durch das Gewicht von tausend Worten erdrückt. Stattdessen funktioniert die Formel, es einfach zu halten, hier nahezu perfekt, vor allem während des Refrains, in dem Vedder Zeilen wie „She took the long way / On the freeway…“ singt. Keep it simple – hat schon beim großen, seligen Tom Petty oftmals recht gut funktioniert.
„Brother The Cloud“: Das vierte Stück ist mit seinem emotionalen Text und dem Bass von Chris Chaney von Jane’s Addiction, der unlängst mit Vedder und dem Rest seiner neu gegründeten Begleitband auf Tour war, eines der klaren Highlights auf „Earthling“. Der Song befasst sich eingehend mit dem Thema Verlust und Trauer, etwas, das Vedder nur zu gut kennt: Pearl Jam entstanden einst aus den Ruinen von Mother Love Bone, deren Frontmann Andy Wood 1990 an einer Überdosis Heroin starb. Zudem markiert das Jahr 2000 einen der zugleich tragischsten wie wichtigsten Punkte in der Geschichte von Pearl Jam, als sich beim Roskilde-Festival ein Unglück ereignete, bei welchem neun Fans während dem Auftritt der Band auf tragische Weise ums Leben kamen. Pearl Jam widmeten ihnen und der Trauer nachhingehend den Song „Love Boat Captain„, in welchem Vedder wortgewaltig feststellte dass sie “lost nine friends we’ll never know”. Zudem mussten sich die Musikwelt als Ganzes und Eddie Vedder persönlich bereits – und in nicht wenigen Fällen zu früh – von vielen Größen innerhalb wie außerhalb der Musikszene von Seattle verabschieden. Kurt Cobain. Layne Staley. Scott Weiland. Und natürlich: Chris Cornell. Bedeutete Cobains Tod im Jahr 1994 vor allem einen der ersten Sargnägel ins Erdmöbel der Grunge-Rock-Welle, so war der Tod des ehemaligen Soundgarden- und Audioslave-Frontmanns im Jahr 2017 ein besonders schwerer Schlag für Vedder, der bei seiner Ankunft in Seattle in den frühen Neunzigern von Cornell höchstselbst unterstützt und in die hiesige Musikszene eingeführt wurde und mit ihm ein Duett auf beim Temple Of The Dog-Evergreen „Hunger Strike“ singen durfte – ein Song, ohne den es Pearl Jam wohl nie gegeben hätte. Wie viele andere Songschreiber auch überlässt Vedder seine Texte oft der Interpretation des Hörers, dennoch ist es nur schwerlich vorstellbar, dass er Cornell nicht im Kopf hatte, als er Zeilen wie diese schrieb:
„There’s no previous reference / For this level of pain / I can’t feign indifference / Can’t look away / The years, they go by / The hurt, I still hide / If I look okay, it’s just the outside / There’s no previous reference/ For this level of pain / Oh, I can hear him sing…“
Zudem verlor Vedder auch seinen Halbbruder Chris vor einigen Jahren bei einem Kletterunfall. Wie so oft bei Songs aus der Feder von Vedder (sic!), welche Musik gewordene Nachrufe darstellen (und davon gibt es mittlerweile nicht eben wenige), kann man auch hier die recht unmittelbare emotionale Bandbreite aus Liebe, Schmerz und Wut in seiner Stimme hören. Musikalisch beginnt „Brother The Cloud“ mit einem sauberen Gitarrenriff und einer ruhigen Strophe, welche in einen großen Refrain ausbricht, der The Whos Pete Townshend stolz machen würde. Die Bridge führt eine kraftvolle Stakkato-Gitarrenlinie ins Feld, während der Bass die Gesangslinie nachahmt, was den Wechsel vom folgenden Instrumentallauf durch das Riff der Strophe und dann zurück in den Refrain noch intensiver macht. Während des Outros bleibt die Band auf dem Gaspedal. Chaney und Smith gehen voran, während Watt und Klinghoffer ihre Riffs über den knurrenden Bässen austauschen. Im besten Sinne Pearl Jam’eske Gänsehaut.
„Fallout Today“: Bei „Fallout Today“ übernimmt zunächst eine Akustikgitarre das Kommando des Mid-Tempo-Songs, was das Getöse des Vorgängers etwas reduziert und Vedders Gesang ’n‘ Text hervorhebt, ohne jedoch das Bandgefühl oder den mitgenommenen Schwung zu opfern. Kenner des musikalischen Schaffens des 57-jährigen wissen ja ohnehin längst: Leicht balladeskes Pathos liegt Vedder, schließlich ist auch der Pearl Jam’sche Katalog voll von Songs wie „Daughter“, „Elderly Woman Behind The Counter In A Small Town“, „Around The Bend“, Low Light“ oder „Just Breathe“ (um nur mal ein paar zu nennen), und seine Fähigkeit, seine Emotionen durch Text und Melodie effektiv zu kommunizieren, wird typischerweise erhöht, wenn die Lautstärke der Band hinter ihm um ein paar Dezibel sinkt. Zudem weist „Fallout Today“ noch eine weitere Ähnlichkeit mit „Daughter“ und „Elderly Woman…“ auf, denn wie die beiden Pearl Jam’schen Live-und-Fan-Favoriten auch handelt dieser Song von einer weiblichen Figur, wie etwa jene Zeilen der ersten Strophe beweisen: „Oh, multiplied the questions in her mind / Oh, trying to subtract the great divide / Feeling drowned in her perceptions / Reaching out in all directions / No escape“. Musikalisch wird die Akustische alsbald von Klavier, Orgel, Bass und Schlagzeug sowie einem lebhaften E-Gitarren-Solo flankiert. Watt und Klinghoffer unterstützen den Gesang in den entscheidenden Momenten, einschließlich des Refrains, in dem ihre höheren Lagen und Harmonien die perfekte Ergänzung zu Vedders Bariton darstellen.
„For the fallout today was just a test of strength / Oh, don’t leave it alone, dare carry it on your own / Don’t make light of the weight, you’ll fortify thе chains / And don’t beg for forgiveness / Wе all need to share and shake the pain…“
„The Dark“: Klar, bislang wurden Beschreibungen wie „fröhlich“ oder „überschwänglich“ recht selten mit den Songs von Pearl Jam (oder eben Vedders Solowerk) in Verbindung gebracht, aber zu schreiben, dass „The Dark“ etwas anderes wäre als knapp vier Minuten unverfälschte musikalische Glückseligkeit, wäre tatsächlich eine glatte Lüge. May we call it Altersmilde. Der Song ist zu gleichen Teilen New Wave, Power Pop, Synth Pop und Classic Rock und zeigt Vedder in seiner melodischsten Form, feine Hooklines inklusive. Mag das Stück auch noch so ungewohnt tönen, so stellt es gerade bei einem Typen wie Eddie Vedder, dessen bisheriges musikalisches Oeuvre normalerweise eher ein Plus an heiligem Ernst aufweist, eine willkommene Abwechslung dar, wenn einer wie er einen Abstecher nach Fun Town unternimmt. So beginnt der Song mit einem tanzbaren Schlagzeugbeat von Smith, dem Watts Bass kurz darauf folgt, während Klinghoffers ansteckende Synthie-Linie und die Gitarren nur ein paar Sekunden später in den Mix einsteigen. Und auch der Text des Songs passt mit Zeilen wie „Let me lift you out of the dark“ zur aufmunternden Stimmung der Musik. Neuerungen hin oder her – auch hier setzt sich eine andere Tradition fort, schließlich bewiesen viele der besten Songs von Pearl Jam (man denke etwa an „Release“) und Vedder (zum Beispiel „Rise“) eine aufbauende, geradezu heilende Qualität.
„The Haves“: Die zweite nahezu waschechte Ballade von „Earthing“ kommt mitsamt einer Melodie daher, die seltsamerweise – zumindest im ersten Moment – wie eine verlangsamte Version des 1993er Crash Test Dummies-Hits „Mmm Mmm Mmm Mmm“ klingt. Glücklicherweise setzt kurz nach dem Intro Vedders Stimme ein, um weitere Ähnlichkeiten zwischen den beiden Songs schnell, schnell zu zerstreuen. „When you wake up / It might just be / The first of many blows that you’ll receive…“ – in „The Haves“ veranschaulicht Vedder, dass bedingungslose Liebe für andere und emotionale Werte wichtiger sind als aller materieller Reichtum. Er konzentriert sich darauf, dass diejenigen, die viel haben, oft dazu neigen, nur noch mehr zu wollen und nie wirklich zufrieden mit dem Staus Quo sind, während diejenigen, die zwar nur wenig besitzen, dafür jedoch Liebe im Herzen tragen und ihr Glück eher im immateriellen Miteinander finden, während jene Liebe sie selbst scheinbar unüberwindbare Hindernisse überwinden lässt. Mag sich hippie’esk lesen, aber auch ein anderer Großer sang schließlich einst: „You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one“. Die Instrumentierung zu diesem Musik gewordenen Marie Kondō-Vortrag beginnt – einfach genug – mit Akustikgitarre und Klavier, im Laufe des Songs füllen Bass, Schlagzeug, Cello und Geige das musikalische Kontor auf und lassen ein ums andere Mal an Beatle’eskes denken. Zudem erinnert auch die Akkordfolge in der Strophe an jene Beatles, sodass man beinahe meinen könnte, dass „The Haves“ nur drei Türen neben dem McCartney-Klassiker „Here, There, And Everywhere“ (von „Revolver“) residiert.
„Good And Evil“: Danach ist’s erst einmal genug mit der Heimeligkeit, das Tempo nimmt mit „Good And Evil“ dankenswerterweise wieder zu. Ein fast fernöstlich tönendes Intro führt kurz auf die falsche Fährte, muss jedoch schnell einem Punk-Rock-Angriff mit verzerrten Gitarren und düsterem Text weichen:
„Oh, when you look in the mirror / Oh, tell me, what do you see? / An older woman showering in victims‘ blood? Or have yourself you deceived? / Do your rich accommodations / Numb you to what you believe Oh, for the love of a gun / You’re like a bullet aimed to deceive…“
Der härtere Vibe von „Good And Evil“ fällt in die Kategorie derjenigen Songs, die all jene ansprechen dürften, die eine Verbindung zwischen „Earthling“ und Pearl Jams aggressiverem, härterem Material suchen – etwas, das Vedders bisherigem Solomaterial bisher merklich abging. Der Text erzählt die Geschichte einer reichen Frau, die Waffen liebt und auf einer Safari mit ihrer „armseligen Entschuldigung von einem Mann“ einen Elefanten erschießt – kaum verwunderlich, dass Vedder den beiden „Tod“ und „Hölle“ auf den Leib wünscht…
„Rose Of Jericho“: „Rose Of Jericho“ ist ein weiterer Punk-Rock-Kracher, der damit beginnt, dass Chad Smith „one, two!“ einzählend samt Schlagwerk los stampft, bevor sich ihm der Rest der Band anschließt. Die Gitarren schmettern in der Strophe ein selig-kantiges Powerchord-Riff, während zwischen den ersten beiden Strophen eine kurze, aber wirkungsvolle Leadlinie auftaucht. Klinghoffer fügt ein paar geschmackvolle Keyboard-Töne hinzu, um den Sound des Refrains aufzupeppen, in welchem Vedder singt:
„The winds, they blow / Spread the seeds, the rose of Jericho / Forests fall / By hands of man like dominoes / Touch and go / Two outta three, Rochambeau / The rock you throw / Can’t beat the rose of Jericho / Can’t beat the rose of Jericho / Can’t drown the rose of Jericho / Can’t beat the rose of Jericho / Can’t kill the rose of Jericho / The lesson here is Econo, yeah…“
Kurz vor der Zwei-Minuten-Marke gibt es einen Breakdown, bei dem nur das Schlagzeug und Vedders Gesang übrig bleiben, bevor Watt und Klinghoffer für den Outro-Jam wieder einsteigen. „Rose Of Jericho“ gießt etwas mehr Öl in das Feuer, das „Good And Evil“ entfacht hat – wäre das hier nicht Vedders neustes Soloalbum, sondern die aktuelle Pearl Jam-Platte, der Song wäre ein formidabler Opener gewesen. So findet er eben auf Platz neun von „Earthling“ seinen Platz – auch gut.
„Try“: Apropos Live-im-Studio-Take-Einzähler – „Try“ verbindet ein Riff im Stile von Social Distortion und ein euphorisches „one, two, three, four!” mit dem bemerkenswerten Mundharmonika-Spiel des einzigartig-großen Stevie Wonder. Vedder nutzt das Stück als Gelegenheit, um erneut seine verspielte, unbeschwerte Seite zu zeigen. Als langjähriger Motown-Fan, der oft Bands wie die Jackson 5 als frühen Einfluss anführt (etwas, was man bislang eher selten heraushörte), lässt sich Vedder diese seltene Gelegenheit nicht entgehen, sowohl zu schunkeln als auch zu rocken. Der vielleicht verblüffendste Aspekt von „Try“ ist, dass selbst viele Hörer*innen feststellen werden, dass tatsächlich kaum jemand sonst die Mundharmonika so spielt (oder jemals gespielt hat) wie Stevie Wonder. Sein tonaler Anschlag ist sofort erkennbar und die Freude, die aus dem Instrument strömt, ist ebenso unbestreitbar wie unaufhaltsam. Sein Mundharmonikaspiel verleiht dem Song definitiv eine ganz neue Dimension und bringt ihn an Orte, an die er ohne seine Anwesenheit wohl kaum gelangt wäre. Eine kurze, luftige Nummer, die aber dennoch ausreichend Raum für ein Solo von Wonder und Smiths frenetisches Schlagzeugspiel bietet (zudem ist Vedders andere Tochter Olivia hier im Backgroundgesang zu hören).
„Picture“: Nach dem Dreifach-Punk-Rock-Hoch aus „Good And Evil“, „Rose Of Jericho“ und „Try“ holt sich „Earthling“ mit Elton John einen weiteren prominenten Gast ins Studio. Im Gegensatz zu den drei vorangegangenen Songs lässt „Picture“ jedoch eher an Johns recht unverkennbaren Pop-Rock-Stil denken als an den markdurchdringenden Haudrauf-Sound von Kapellen wie The Clash. Seltsamerweise passt das Duett zwischen Vedder und John jedoch dennoch in den größeren Kontext von „Earthling“ und seinen mal mehr, mal weniger einfühlsamen, wohlmöglich Pandemie-bedingten „Wir stecken da gemeinsam drin“-Lektionen. Einige altgediente Pearl Jam-Fans, die noch immer verzweifelt auf der Suche nach dem juvenilen, all pissed, all angered Eddie (etwa anno 1993) sein sollten, werden bei diesem Song (vermutlich bei einigen anderen dieses Albums ebenso) mehr als eine Augenbraue hochziehen. Dann jedoch haben sie vergessen, dass sowohl Pearl Jam als auch Vedder ihre Karrieren aufrechterhalten und am Leben erhalten haben, indem sie die Dinge auf ihre eigene Art und Weise gemacht haben – einschließlich der Tatsache, dass sie sich weder vom derzeitig vorherrschenden Massengeschmack noch von Trends oder Fans die Richtung ihrer Musik diktieren ließen und nie dem hinterherliefen, was eben trendy ist, um mehr Alben zu verkaufen. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf erscheint es beinahe egal, ob „Picture“ ins eigene Gusto passt oder nicht, denn es lässt sich nicht leugnen, dass alle, die an der Entstehung des Songs beteiligt waren, eine Menge Spaß dabei hatten. Ein recht typisch in Elton Johns Honky-Tonk-Stil musizierendes Saloon-Klavier, eine Orgel, akustische Gitarren und die Rhythmusgruppe füllen den größten Teil des instrumentalen Raums (der auch Platz famos-ekstatisches Pianosolo lässt), während elektrische Gitarren an bestimmten Stellen kommen und gehen. Im Refrain singen John und Vedder universale Banalitäten wie „Picture of love, we were a picture of love / The measure of our years so deep and wide / Picture of hope, we were a picture of hope / Standing close together side-by-side, yeah“ (wohlmöglich war also Johns Textlieferant Bernie Taupin gerade im Urlaub), während die Band hilft, jenes Bild von Liebe und Hoffnung in Echtzeit zu malen. Alles in allem kein Meilenstein, macht hört jedoch den Spaß, den alle bei der Nummer hatten, deutlich heraus.
„Mrs. Mills“: Das vorletzte Stück von „Earthling“, „Mrs. Mills“, ist dem Klavier im Keller der altehrwürdigen Abbey Road Studios gewidmet, das nicht nur von Paul McCartney für den Beatles-Hit „Lady Madonna“, sondern auch danach, im Laufe der Jahre, von zahllosen anderen namhaften Musikern benutzt wurde (darunter übrigens von den beiden vorherigen Album-Gästen Elton John und Stevie Wonder). Überhaupt wird Eddie Vedder den von ihm verehrten Beatles wohl selten näher kommen als hier, besitzt der Song doch tatsächlich die Qualität der „Sgt. Pepper’s“-Ära. Das mag nicht nur an der Melodie liegen, sondern auch am Orchester, das Vedder und seine Bandkollegen begleitet – und am Schlagzeugspiel eines gewissen Ringo Starr, der schließlich bestens wissen sollte, wie man „wie die Beatles klingt“. Abgesehen von der Geschichte eines berühmten Abbey Road-Klaviers erzählt der Text auch die Geschichte von einer scheinbar fiktiven, recht promiskuitiven weiblichen Figur:
„Mrs. Mills waits in the dark for the red light to go on / And the curtains will be drawn so none could see / All the townsfolk, they don’t know what the men do down below / In the shadows of a disco neon glow…“
Die Orchestrierung und Ringos Schlagzeugspiel auf „Mrs. Mills“ fügen der ohnehin bereits durchaus vielseitigen, beeindruckenden Klanglandschaft von „Earthling“ ein weiteres einzigartiges musikalisches Element hinzu, während Vedder sein gesangliches und lyrisches Können zur Schau stellen darf. Ein ungewöhnlicher Song – und gerade deshalb ein umso erfreulicheres Highlight.
„On My Way“: Der Abschluss von „Earthling“ ist eine faszinierende Klangcollage, bei der sich auch für Eddie Vedder persönlich ein Kreis schleißt, schließlich stammt die aufgenommene Stimme, die da den Satz „I’ll be on my way…“ in einem Sinatra-ähnlichen Stil singt, von Vedders verstorbenem leiblichen Vater Edward Louis Serverson Jr. (richtig, der „real daddy“ aus „Alive„), während alsbald die Stimme des Sohns mit Fetzen aus den Refrains von „Long Way“, „The Haves“ und „Invincible“ einsetzt. Die Musik des Stücks ist eindringlich und etwas experimentell, stört aber nie das außergewöhnliche, halb dies-, halb jenseitige Familienduett. Und auch ein weiterer Kreis schließt sich mit diesem letzten Song, den Vedder als kurze Hommage an seinen Vater, den er zeitlebens stets als entfremdet wahrnahm, anlegt, nun, schließlich diente das angespannte, quasi nie wirklich vorhandene Verhältnis der beiden, damals, vor gut drei Jahrzehnten, auch als Inspiration für „Release“, das seinerzeit auch Pearl Jams wegweisendes Debütalbum „Ten“ beendete.
Eddie Vedders drittes Soloalbum ist eine Chronik der menschlichen Erfahrung und versucht, die Kluft der Unterschiede zu überbrücken, welche viele Menschen zwischen sich und anderen wahrnehmen. Keineswegs verwunderlich, schließlich wurden die Songs während der Corona-Pandemie und der großen sozialen und politischen Umwälzungen der letzten Jahre geschrieben und aufgenommen und sind in ihren besten Momenten eine aufrüttelnde Erfahrung, die genau zur richtigen Zeit kommt.
Ebenso erfreulich ist, dass Produzent Andrew Watt, über dessen Produktionsstil sich – so viel Ehrlichkeit sei erlaubt – sicherlich streiten lässt, hörbar neuen Enthusiasmus in Vedder geweckt. „Earthling“ ist auf lange Strecken kompromisslos, laut und optimistisch. Trotz des ein oder anderen kleineren Fehlgriffs stecken die Dynamik und Spielfreude von Edward Louis Severson III und seinen diversen All-Stars letztlich immer wieder an. Mit seiner astreinen Begleitband im Rücken hämmert Vedder uns allen noch mal in die Köpfe, was wir immer schon wissen sollten: Der Last Man Standing der alten Garde des Grunge-meets-Alternative-Rocks zeigt der nahenden 60 zum Trotz herzlich wenig Altersschwäche. Eine Statue muss man dieser lebenden Legende hingegen noch nicht bauen – sie würde wohl ohnehin davonlaufen.
Wer mehr über die Hintergründe zu „Earthling“ erfahren mag, dem sei das gut halbstündige Interview empfohlen, zu dem Eddie Vedder kürzlich von einer anderen lebenden Legende eingeladen wurde: Bruce Springsteen.
The Killers haben wenige Monate nach ihrem jüngsten Album „Imploding The Mirage„, welches nach mehreren Verschiebungen im vergangenen August erschien, eine neue Single gemeinsam mit niemand Geringerem als Bruce Springsteenhimself veröffentlicht. Der Duett-Song hört auf den Titel „Dustland“ und ist – Kenner der US-Band ahnen es bereits – eine Überarbeitung eines alten Stückes der Band: „A Dustland Fairytale“, das 2008 Teil des dritten Langspielers „Day & Age“ war. Ergänzend zum Song veröffentlichte Killers-Frontmann Brandon Flowers zudem einen Instagram-Post, der erklärt, wie es zu dem Song kam.
Wirklich überraschend ist die Zusammenarbeit von Bruce Springsteen und den Killers natürlich keineswegs, schließlich stellt der Boss mit seinem gleichsam pathetischen wie hemdsärmelig-authentischen Larger-than-life-Stadionrock schon immer ein der größten Einflüsse der Band aus Las Vegas dar. Eher überrascht da schon, dass es bis jetzt gedauert hat, bis beide Seiten zum überfälligen Duett zusammengefunden haben. Wie es dazu kam, legt Brandon Flowers in der oben erwähnten längeren Nachricht auf Instagram dar: Kurz bevor die Corona-Pandemie weltweit Fahrt aufnahm, kontaktierte Springsteen Flowers recht simpel und schnöde per SMS. Darin lobte er die Fähigkeiten der Killers als Liveband und bat Brandon Flowers, mit ihm an einer Version von „A Dustland Fairytale“, seinem erklärten Killers-Lieblingstrack, zusammenzuarbeiten. Und weil die Pandemie kurz darauf alle Tournee-Pläne beider Seiten über den Haufen warf und für unbestimmte Zeit auf Eis legte, ergab sich tatsächlich etwas unverhoffte Freizeit und damit die Möglichkeit einer Kollaboration.
Weiter schreibt Flowers, dass „A Dustland Fairytale“ seinerzeit ursprünglich entstand, als seine Mutter den Kampf gegen eine Krebserkrankung verlor, und um die traumatische Erfahrung zu verarbeiten. Springsteens Musik habe ihn dabei dazu inspiriert, das bis dato bombastische Songwriting der Killers auf eine persönlichere Ebene zu heben. „Es war ein Versuch, meinen Vater besser zu verstehen, der mir manchmal ein Rätsel ist. Und um meine Mutter zu trauern.“ Und weiter: „Um ihre Aufopferung anzuerkennen und vielleicht sogar einen Blick darauf zu werfen, wie stark die Liebe sein muss, um in dieser Welt zu bestehen. Es war meine Therapie. Es war erlösend.“
Für den 32 Lenze älteren Springsteen, der ebenso wie die Killers aktuell an einem neuen Album arbeitet, hat Flowers – wenig verwunderlich, denn wer möchte schon am Denkmal des eigenen Vorbilds und einer lebenden Rock-Legende kratzen – natürlich nur lobende Worte übrig: „Er hat viel über Leute wie meine Eltern geschrieben und viel Schönheit in den Hoffnungen und Träumen ansonsten unsichtbarer Menschen gefunden. In ihren Kämpfen, ihren Verlusten. Ich bin ihm dankbar, dass er mir diese Tür geöffnet hat und jetzt hört euch verdammt nochmal Bruce Springsteen an!“ Beide, Bruce Springsteen und Brandon Flowers, werden ihre neue Version des Songs außerdem am heutigen 16. Juni live in der US-Fernsehsendung „The Today Show“ performen.
Dass das Liverpooler Duo, bestehend aus Hannah Merrick und Craig Whittle, eine echte Indie-Newcomer-Offenbarung darstellt, hat es bereits mit der vor nicht allzu langer Zeit auf ANEWFRIENDvorgestellten Single „Crème Brûlée“ und der anschließenden Debüt-EP „Tell Me Your Mind And I’ll Tell You Mine“ bewiesen. Nun trauen sich King Hannah mit ihrer neuen Single gleich an Rock-Ikone Bruce Springsteen heran. Und wie superb ist denn diese Cover-Fassung von „State Trooper“ bitte gelungen! Merrick und Whittle überführen Springsteens auf dem düster-reduzierten Boss’schen Album-Klassiker „Nebraska“ anno 1982 veröffentlichten Song in eine bedrohlich flirrende Indie-Rock-meets-Dream-Pop-Großtat mit dynamischer Aufbaustruktur und einem vorzüglichen Gitarren-Schlagzeug-Feuerwerk à la Neil Youngs Crazy Horse (noch so eine Rock-Legende, auf deren Pfaden sie hier wandeln). Eine feine Version, an der man sich gar nicht satthören mag…
„We have always loved the Bruce Springsteen album ‚Nebraska‘, how sparse and raw it sounds, and how it is effectively a live demo recording. We wanted to keep that live-feel when covering ‚State Trooper‘ and so we tracked the song live in our little home studio. We tried to do justice to the atmosphere of the original when arranging the track, with rumbling tom-heavy drums, warm creamy guitars and intimate slap-back vocals.“
Was für Musik braucht man in einem so eigenartigen Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf diese ganze verdammt verrückte und aus den Angeln geratene Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie das Schlechte – für Momente vergessen lässt. Eine Zuflucht. Eine Ton und Wort gewordene zweite Heimat. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2020 einmal mehr recht wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!
Im ersten Moment doch sehr, bei genauerer Betrachtung jedoch etwas weniger überraschend: Für ein Jahr, das die meiste Zeit am Rande des totalen gesellschaftlichen wie ökonomischen und kulturellen Stillstands wankte, gab es 2020 eine ganze Menge (sehr) guter neuer Musik zu hören. Fiona Apple etwa brachte mit „Fetch The Bolt Cutters“ zum ersten Mal seit acht Jahren ein neues, von Fans wie Kritikern vielbeachtetes Album heraus. Bob Dylan zeigte, dass er im Alter von 79 Lenzen immer noch eine Menge zu sagen hat. Und Taylor Swift bewies, dass sie nicht nur eine der erfolgreichsten und versiertesten Songwriterinnen der Pop-Gegenwart ist, sondern auch eine der produktivsten: gemeinsam mit Teilen des The National-Lagers und Gästen wie dem unter Indie-Folk-Freunden höchst geschätzten Justin „Bon Iver“ Vernon veröffentlichte „TayTay“ im Juli und Dezember ohne größeres Werbe-Tamtam mehr als dreißig Songs, die sie seit Beginn der Pandemie geschrieben und aufgenommen hatte.
All diese und viele andere Veröffentlichungen sind es freilich wert, gehört und nachhaltig beachtet zu werden. Aber ein Album steht – und das zeigt auch diese Auswertung der Jahresbestenlisten – über ihnen allen: Phoebe Bridgers‚ „Punisher“. Zu großen Teilen aufgenommen während der letzten zwei Jahre, kann das Werk zwar nicht von sich behaupten, eine Echtzeit-Reflexion der Stimmung während der Pandemie zu sein, wie im Fall von Taylor Swifts „folklore“ und „evermore„. Dennoch passt Bridgers‘ musikalische und lyrische Sensibilität besser als alles andere, was in diesem Jahr veröffentlicht wurde, zum unverwechselbarem Geist des gefühlten „Rien ne va plus“-Scheintods der vergangenen Monate. Das Album ist ein zerbrochener, trüber Spiegel, der unseren von Melancholie, Isolation und immerneuen Hiobsbotschaften geschundenen Körpern und Seelen vorgehalten wird.
Nicht, dass „Punisher“ eine Art einmalige Novalität wäre. Weit gefehlt. Schon Bridgers‘ kaum weniger gelungenes Debüt von 2017, „Stranger In The Alps„, sowie die gemeinsame letztjährige Platte mit Conor Oberst als Better Oblivion Community Center etablierten die 26-jährige Singer/Songwriterin als versierte Emo-Folk-Musikerin im Stile des früh verstorbenen großen Elliott Smith. Wie Smith ist Bridgers, die selbigen nicht eben zufällig verehrt, eine Künstlerin mit einem ausgeprägten Sinn für feine Mark-und-Bein-Melodien und der Gabe, Texte zu verfassen, die persönliche Traumata und alltägliche Kämpfe in kunstvoll einnehmende Porträts menschlicher Zerbrechlichkeit und der Sehnsucht nach inniglicher Verbundenheit verwandeln.
Die sehnend fatalistischen Songs auf „Punisher“ entwickelt diese Themen weiter und führen sie in expansive neue Richtungen, während Bridgers‘ teilweise skurrile Beobachtungen und emotionale Einsichten in eine irrgärtene, zumeist stille Klanglandschaft eingebettet werden, die sowohl intensiv schön als auch auf vereinnahmende Weise klaustrophobisch ist – wie ein Spaziergang auf dem Grund des Ozeans oder der Oberfläche eines anderen Planeten (oder eben durchs nächtliche Pandemie-L.A.). Das konnte selbst die US-Musikindustrie nicht überhören und würdigte die musikalische Kraft des Albums, indem sie Bridgers und ihre Platte jüngst für ganze vier Grammys nominierte, darunter als „beste neue Künstlerin“ und als „bestes alternatives Musikalbum“.
Bridgers und ihre Mitstreiter – die Co-Produzenten Tony Berg und Ethan Gruska, die Songwriting-Partner Christian Lee Hutson, Conor Oberst und Marshall Vore, ihre boygenius-Girl-Buddies Julien Baker und Lucy Dacus sowie etliche andere Musiker aus der heimischen Indie-Szene von L.A. – haben ein Album geschaffen, das all die Hilfsmittel in Los Angeles‘ legendärem Aufnahmestudio Sound City – all die Fader, Sampler, Autotune-Gadgets und andere Vocal-Effektgeräte – mit einer breiten Palette von akustischen Instrumenten kombiniert, um eine über alle Maßen intensive Erfahrung zu schaffen, die auf die beste Art und Weise verwirrend ist – wie ein seltsamer, beunruhigender Traum, der es schafft, etwas Schmerzhaftes, Wahres und irgendwie Notwendiges zu vermitteln, während man am nächsten Morgen nicht einmal mehr Worte für das nokturn Geträumte findet.
Der gequälte Existenzialismus des Albums wird vielleicht am stärksten in „Chinese Satellite“ vermittelt, einem herzzerreißenden Song über Bridgers‘ Tendenz, „in Kreisen umher zu laufen und vorzugeben, dass ich ich selbst sei“. Er gipfelt in einem Refrain, der mit einem herzzerreißend schönen, gen Firmament hauchenden Streicher-Arrangement unterlegt ist und als eine Art Gebet um Erlösung von Einsamkeit und Zweifeln fungiert:
„I want to believe Instead I look at the sky and I feel nothing You know I hate to be alone I want to be wrong“
Eine alltägliche Klage – „I hate to be alone“ – in einen Ausdruck metaphysischer Sehnsucht zu verwandeln, der sowohl düster-komisch als auch tieftraurig ist, ist das, was Bridgers wie kaum eine andere aktuell beherrscht – und sie tut genau das auf „Punisher“ immer wieder.
Die Songs des Albums sind voll von lebendigen, einprägsamen – und oft nur im ersten Licht trivialen – Beschreibungen des alltäglichen Lebens, die beim Lauschen zwischen den Zeilen mit einer größeren Bedeutung einhergehen: Sie ändert ihren Plan, einen Garten anzulegen, als Reaktion auf die Aktivitäten eines Skinheads in der Nachbarschaft („Garden Song“). Sie „wollte die Welt sehen“, bis sie nach Übersee flog und daraufhin ihre Meinung änderte („Kyoto“). Sie macht einen morbiden Witz über den fortwährenden Klang von Sirenen aus Richtung des Krankenhauses in der Nähe ihres Hauses (interessanterweise nur eine von vielen unheimlichen lyrischen Vorahnungen der Pandemie, die über das ganze Album verstreut sind – Entstehungszeitraum hin oder her). Sie und ein Freund verbringen einen Abend damit, den „Rest unseres Serotonins“ zu verbrauchen, während sie auf dem Boden sitzen und eine Packung Cracker futtern („Graceland Too“). Sie gesteht ihrem verheirateten Ex-Liebhaber, dass er sie „wie Wasser in deinen Händen“ hält („Moon Song“). etc. pp.
Solche Momente flüchtiger Schönheit häufen sich, türmen sich auf, ziehen manches Mal auch wieder vorbei, während sich das Album auf (s)einen unheilvollen Schluss zubewegt: „I Know The End“, in dem Bilder vom Ende einer Beziehung zu Visionen der Apokalypse verschwimmen, während sich die hübsche Folk-Melodie langsam in eine Kakophonie aus klirrenden Akkorden, wirbelndem Lärm und menschlichen Schreien verwandelt. Es ist ein überraschendes, beängstigendes und doch irgendwie perfekt passendes Ende für eine Platte, die so todgeweiht ist wie das Leben am Ende selbst. Das mag sich zwar schwer oder deprimierend lesen, ist es jedoch ganz und gar nicht. „Punisher“ ist ehrlich, heftig, extrem melodiös – und der perfekte Soundtrack für dieses oder jedes andere Jahr. Kurzum: ein verdammtes Meisterwerk.
Liebe? Doof. Job? Doof. Finanzielle Lage? Doof. Soziale Kontakte? Doof. Und sonst so? Alles recht beschissen, danke der Nachfrage… Man wünscht Dylan Slocum – wie ja eigentlich jedem anderen Menschen – wirklich, dass er irgendwann seine mentale Gesundheit erlangt, auch wenn das wohl bedeuten würde, dass der Spanish Love Songs-Frontmann dann nicht mehr diese verdammt intensiven, dem eigenen Schicksal trotzenden Loserhymnen zur Selbsttherapie schreibt. Bis dahin macht die fünfköpfige Band aus Los Angeles auf „Brave Faces Everyone“ jedoch exakt dort weiter, wo „Schmaltz“ vor zwei Jahren endete: Sie vertonen seelische Abgründe und verpacken diese in maximal mitreißendem Punkrock, mit dessen gefühlter Intensität sie aktuell allein auf weiter Flur stehen. Zehn Fäuste für ein herzhaftes „Fick dich!“.
So wirklich still war es um Conor Oberst nicht in den letzten Jahren – siehe die tolle Platte mit Phoebe Bridgers als Better Oblivion Community Center, siehe das Comeback-Album mit den Radaubrüdern der Desaparecidos, siehe die jüngsten Alt.Country-meets-Indiefolk-Solo-Alben „Ruminations“ und „Salutations“ (ersteres war anno 2016 gar ANEWFRIENDs „Album des Jahres“). Trotzdem durfte man bei all der Umtriebigkeit seine Haupt- und Herzensband Bright Eyes schon ein kleinwenig vermissen… Nun, nach neun langen Jahren, hat sich Oberst endlich wieder mit Mike Mogis und Nate Walcott zusammengetan, und in der Trio-Formation strahlen seine Songs noch heller durch all die Dunkelheit hindurch, die sich seit jeher im Großteil seiner Texte offenbart. Dabei zieht das Dreiergespann alle zur Verfügung stehenden Register, dies ist längst mehr als folkender Indie Rock, es besitzt und besetzt (s)eine eigene Kategorie: Conor-Oberst-Songs eben. Also faszinierende Textkaskaden, betörende Melodien und spirituelle Suche in einem. Dance on through and sing!
„Baby, I’m scorched earth / You’re hearts and minds / Fuck everybody! / Woo!“ – ein Album, das mit solchen Worten endet, kann wahrlich kein schlechtes sein… Der dazugehörige Song fasst in gut sechs Minuten zusammen, warum Biffy Clyro seit eh und je eine der spannendsten Rock-Bands sind, die das an spannenden Bands wirklich nicht arme Schottland hervorgebracht hat. All ihre Klangelemente – von hektischen, an frühe Großtaten gemahnenden Rhythmen über mit sanften Strichen gemalte balladeske Klangbilder bis hin zu allumfassendem Pathos – finden sich aber nicht nur in besagtem Rausschmeißer „Cop Syrup“ wieder, sondern clever ausgespielt auf dem gesamten achten Album des Trios um Frontmann Simon Neil verteilt. Präsentiert sich „North Of No South“ zu Beginn als prototypischer Biffy-Clyro-Knüller, hadert „The Champ“ funky und elegant mit der Gegenwart: „A virtual dream and a virtual life / Well, I’m in love with the older kind / A Biblical truth and a cynical lie“. Derlei Beobachtungen ziehen sich zwar durch „A Celebration Of Endings“ und das Album wird außerdem vor dem Hintergrund des Brexit veröffentlicht, explizit politisch ist es jedoch nicht. Dafür aber sehr, sehr gut. Und das nicht nur, weil es wesentlich besser als sein mauer Vorgänger ist, dessen Pop-Exzesse hier lediglich dosiert stattfinden (etwa beim erstaunlich gelungenen Kitsch-Balladen-Ohrwurm „Space“). Mon the Biff!
Alben wie “Northern Blues”, „Loupita“ oder “So Much For Staying Alive” sind tatsächlich schon über eineinhalb Dekaden alt. Doch Singer/Songwriter Kristofer Åström lässt den Sound von damals mit seinem neuen Werk “Hard Times” wieder aufleben, als wären zwischen all diesen Langspielern gerade einmal wenige Wochen vergangen, denn in der Tat wären die acht neuen Songs auch damals schon gut auf diesen ausnahmslos tollen Kleinoden voll skandinavischer Herzschmerz-Melancholie aufgehoben gewesen. 2020 entfalten sie aber noch mal ihre ganz eigene Schönheit, auch wenn der Schwede betont, dass der fürs aktuelle Jahr überaus passende Albumname bereits vor der Corona-Pandemie feststand. Schon im Opener “Inbetweener” leidet der 46-jährige „Scandinavian Cowboy“ hörbar wie eh und je. “In The Daylight” erzählt eine lange vergangene, aber bis heute traumatische Liebesgeschichte. Und auch “Another Love”, das er gemeinsam mit Britta Persson in ein wunderschönes Duett packt, ist berührend und voller Liebeskummer: “The sun don’t shine on me and the night won’t leave me be”. Es sind einmal mehr die kleinen, jedoch schmerzenden Sätze, die so viel ausdrücken: “She kissed me and then she moved on” aus “Then She Moved On” ist nur ein weiteres Beispiel. “Nowhere In Sight” hat ebenfalls diese allumfassende Traurigkeit, mit der sich Åström vor inzwischen sehr vielen Jahren in der Singer/Songwriter-Szene etabliert hat. Glaubt mir: Wer’s liebt, der liebt’s auf Lebenszeit.
Jetzt ohne Band. Um sich endlich selbst zu verwirklichen? Eher nicht. Denn auch The National sind ganz Matt Berninger. Und hier wie dort leidet der heute 49-Jährige melodischer und melancholischer als jeder andere. Gewiss ist aber: „Serpentine Prison“, das späte Solodebüt nach acht Alben mit seiner Hauptband, ist viel mehr eine Songwriter-Platte als die letzten National-Alben. Uptempo-Indie-Rock, elektrische Gitarren, elektronisches Klackern, vertrackte Beats: nichts davon findet sich hier wieder. Und dass Berninger sein Mikro aus der Hand gibt, wie zuletzt reihenweise auf „I Am Easy To Find“ etwa an Mina Tindle und Sharon Van Etten, kommt auch nur einmal vor, wenn Gail Ann Dorsey (aus Bowies Band) im Song „Silver Springs“ eine Strophe singt. Stattdessen hört sich „Serpentine Prison“ fast schon überraschend traditionell und, ja, auch klassisch amerikanisch an. Akustische Gitarre, Bläser, irgendwo zwischen Americana und Indie Folk. Feine Klaviermelodien und Streicher bringen Kammerpop mit hinein. Und die bluesig-groovende Orgel im Song „Loved So Little“ geht ganz klar auf das Konto von US-Legende Booker T. Jones, der hier produziert und mitgespielt hat, und so hörbar seinen Sinn für erdig-ehrlichen Soul-Rock und einen klugen räumlichen Blick auf die eher spärlichen Arrangements einbringen kann. „I don’t see no brightness and I’m kind of startin’ to like this“, singt Berninger, ganz Schmerzensmann, in „Oh Dearie“. Das ist nah an der Selbstparodie, und wie er es sich so bequem macht in seinen kontemplativen, traurig-schönen Stücken, glaubt man’s ihm fast. Nach dem verloren flehenden „Take Me Out Of Town“ nicht mehr so. „Where are you, you said you’d be here by now“, fragt jemand. Und garantiert nicht im Titelsong. Leben inmitten von Frustration, Nationalismus, Zynismus – wie geht das? „Serpentine Prison“ schließt – ziemlich großartig – individuelle und kollektive Angst kurz, erzählt von Depression und einer Welt am Rand der Zerstörung. Resignation, Fatalismus? Hilft alles nicht: „I walk into walls and I lay awake / I don‘t want to give it to my daughter“. Dazu spielen Trompete und Mundharmonika. Und spätestens wenn man so samtig-schlichte Songs wie „One More Second“ hört ist klar, warum Berninger ein Soloalbum gemacht hat. Feinster Herbstblues mit Sonnenstrahlen.
Überlastete Live-Streams, volle Hallen, ratzfatz ausverkaufte Tourneen (selbstredend in der Vor-Corona-Zeit): Ist Gerard Crosbie, der hinter dem Künstlernamen Gerry Cinnamon steckt, der größte Star, den – hierzulande – (fast) niemand kennt? So ähnlich zumindest wird der Singer/Songwriter gern schonmal vorgestellt. Oder besser der „Sangster-Sangwriter“, wie man es in seiner schottischen Heimat zu sagen pflegt. Cinnamon nämlich singt, wie viele seiner Landsleute auch, keineswegs in feinstem Oxford-Englisch, sondern auf „Glaswegian“, einem Dialekt, der nach der größten Stadt des Landes benannt ist: „Glesga“ (Glasgow). Es ist denn auch dieser Dialekt in Verbindung mit seiner prägnanten Stimme, die den Charme seiner Songs und von „The Bonny“, seinem zweiten Album, ausmachen. Mit rauchigem Gesangsorgan, das mutmaßlich schon in einigen Pubs und vernebelten Clubs erklang, singt der 36-Jährige seine persönlichen Geschichten über Liebe, Hoffnung und Erinnerungen. „Sun Queen“ etwa kommt als lockere Pop-Leichtigkeit daher, die einer verflossenen Liebe gedenkt, deren Namen er, bildlich, in einen Regenbogen schnitzte. „Dark Days“ erzählt vom Entkommen aus dunklen Zeiten. Wenn das Leben ein Spiel und das Glück für Verlierer ist, „dann gewinne ich wieder“ ist da zu hören. Musikalisch ist Cinnamon vornehmlich ganz der spartanischen Instrumentierung verpflichtet: seine Akustikgitarre, Mundharmonika und Stimme bilden den Rahmen der zwölf Songs. Schlagzeug und Bass zimmern ein rhythmisches, teils höchst eingängiges Gerüst für die Songs. „Where We‘re Going“ etwa klingt wie das Beste aus der munteren Pop-Phase von The Cure, „Mayhem“ wie ein sehr starker Non-Album-Song von Travis und das Titelstück nach einer feucht-fröhlichen Nacht an einem schottischen Highland-Lagerfeuer. Trotz aller hörbaren Einflüsse und Querverweise behält der hagere Schotte mit der Oasis-Britpop-Gedächtnis-Topfschnitt-Frisur seine Eigenständigkeit und liefert ein unterhaltsames Album ab, bei dem sich selbst Liam Gallagher zu einem seiner zugegebenermaßen recht seltenen, da diss-freien Komplimente hinreißen lässt: „Ein Top-Mann macht völlig natürliche Sachen.“ Will was heißen, heißt auch was.
2020 hätte ein weiteres großes Konzertjahr für die Grunge-Rock-Band aus Seattle werden können, ja: sollen. Dieses neue Album (das erste seit immerhin sieben Jahren), das der Tour den Rahmen und den Anlass gegeben hätte, ist keineswegs unwichtig, aber auch nicht der zentrale Kern der Unternehmung – Pearl Jam würden auch ohne eine neue Veröffentlichung im Rücken die Stadien und die Gelände rund um den Globus füllen. Nun jedoch gab es keine Konzerte, was zur Folge hat, dass „Gigaton“ unerwartet und ungewohnt erhöht auf einem Podest im Raum steht, als exklusiver Beitrag von Eddie Vedder und Co. in diesem (Musik)Jahr. Es ist daher davon auszugehen, dass so manch treuer Fan diese Platte häufiger gehört haben als die soliden Vorgänger. Und die meisten der Hörer werden beglückt festgestellt haben, dass das Gros der zwölf neuen Stücke diesem Anspruch genügt. Die Band erzählt auf „Gigaton“ – vom unerhört funky Vorboten „Dance Of The Clairvoyants“ einmal abgesehen – freilich wenig Neues, aber das ist nun wirklich keine allzu große Überraschung. Was Pearl Jam leisten, ist eine absolut solide Ausdifferenzierung ihrer hinlänglich bewiesenen Könnerschaft. Ein Song wie „Who Ever Said“ zum Beispiel läuft mehr als fünf Minuten lang und verbindet in dieser Zeit Virtuosität und Kraftmeierei, Melancholie und Melodien, Achtsamkeit und Sehnsucht. Viel mehr kann man von massentauglicher, aber nicht stromlinienförmiger Rockmusik nicht erwarten, weder im Jahr 2020 noch vor genau drei Jahrzehnten, als sich die Band gründete. Die „elder statesmen des Grunge“ liefern.
Es ist das dritte Soloalbum von Brian Fallon, und mit jedem scheinen The Gaslight Anthem weiter weg. Wenn man sich seine heutigen Sachen und diese lediglich acht um Akustik-Klampfe, Klavier, Bass und Schlagzeug gezimmerten Stücke anhört, kann man sich auch nicht so recht vorstellen, was er bei seiner alten Band noch finden sollte. Die großen Kämpfe der Jugend, der Punk Rock, das unbedingte Drama scheinen vorbei zu sein. „Ich bin 40, habe zwei Mädchen, eine Frau, ein Haus – das ist, was ich heute bin“, sagt er selbst. Die federnde Folkrock-Ballade „When You’re Ready“ hat Fallon denn auch für seine Töchter geschrieben. „In this life there will be trouble, but you shall overcome“, singt er da. Das modern-radiopoppig produzierte „21 Days“ überblendet Sucht- und Beziehungsende, in „I Don’t Mind If I’m With You“ blitzen die alten Dämonen, die gefochtenen Kämpfe noch einmal für Momente auf, im Angesicht der Liebe aber werden sie klein und kleiner. „Horses“ erzählt ebenso von Vergänglichkeit wie von Erlösung ohne Theatralik: „In this life change comes slowly, but there is time to be redeemed“. „Hard Feelings“ ist einer jener Songs, die Fallon noch immer wie kaum ein Zweiter aus dem Ärmel schüttelt: eine Mischung aus hemdsärmeliger Americana und von Nostalgie durchwehter New-Jersey-Romantik, in der immer ein „slow song“ aus einem „baby blue Mercedes“ spielt. Und „You Have Stolen My Heart“ könnte am Ende schon fast wieder eine der Balladen auf „American Slang“ sein. „Local Honey“, das sind Songs über die Zeit, wenn die Jugend vorbei ist und das Alter noch weit weg scheint. Es gehe zu „einhundert Prozent ums Alltagsleben“, so Fallon, „und wenn das mein Leben ist, dann ist es wahrscheinlich auch das vieler anderer Leute.“ Wirklich spektakulär ist hier nichts, langweilig jedoch auch nicht. Ergo: kein „Nebraska“, aber definitiv auch kein Reinfall.
Jay McAllister aus Braintree ist ohne Zweifel einer der sympathischsten Klampfenbediener der britischen Inseln. Und einer der talentiertesten. Und einer der umtriebigsten. Seit zig Jahren haut der 40-jährige englische Indie-Musiker pünktlichst zu seinem Geburtstag im Dezember ein neues Album unters Hörervolk, auf dem er jeweils aus seinen zurückliegenden Monaten erzählt und in den Songs vom trubeligen Leben um ihn herum berichtet. In selbigen kommt seit einiger Zeit nicht nur seine kleine Tochter vor, sondern auch der wachsende Unmut über soziale Ungerechtigkeiten oder den Brexit. Umso tiefer sollte man seine Kopfkappe ziehen, dass Mr. Beans On Toast all das nicht mit kaltschnäuziger Pumpe tut, sondern mit jeder Menge Witz, Hirn und Herz. Und dass bei einem Teil der doppelten Veröffentlichung dieses Jahres (denn immerhin feierte der Mann ein rundes Wiegenfest) ein gewisser Buddy namens Frank Turner unter die Indie-Arme gegriffen hat, macht das Ganze nun auch nicht weniger sympathisch… Spitzentyp, der Beans!