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Das Album der Woche


ARXX – Ride Or Die (2023)

-erschienen bei Grand Hotel Van Cleef/The Orchard/Indigo- 

Dass in Brighton im Süden Englands zwischen Sehenswürdigkeiten wie dem Palace Pier oder dem Royal Pavillon irgendetwas ungemein Kreativförderndes zu wirken scheint, dürfte schon lange als offen zur Schau getragenes Geheimnis gelten. Gleichzeitig ist das beschauliche und bunte Städtchen in East Sussex auch als eine der europäischen Hochburgen für die LGBTQIA+-Szene bekannt. In Fällen wie dem des Duos ARXX kommen diese beiden Brighton-Trademarks zusammen: Hanni Pidduck und Clara Townsend kredenzen auf ihrem Langspiel-Debüt „Ride Or Die“ schnörkellosen, herzerwärmenden und queeren Wohlfühl-Indie-Pop, der ebenso in der Garage zuhause ist, wie er polternd durch die lokalen Indiediskos fegt. ARXX setzen dabei ganz auf simple und eindeutige Songs, die sich jedoch trotz ihres direkten Zugangs den absolut komplizierten Emotionen widmen. Sie besingen fiesen Herzschmerz, geistige Gesundheit, amouröse Anwandlungen, aber auch queeres Selbstverständnis, und verpacken das alles ohne nennenswerte Ausfälle in hinreißende kleine Hits.

Ob die vergangenen Liebhaber*innen nun wie in „Baby Uh Huh“ zu dezent HAIM’schen Harmonien in eine bessere Zukunft verabschiedet werden oder sich die chaotische Affäre auf ihrem herausfordernden Höhepunkt befindet, das Duo setzt immer wieder klare Akzente: So zieren ARXX sich beispielsweise nicht, den gepflegten Dance-Punk im Titelstück durch eine schon beinahe Queen’eske Choreinlage zu unterbrechen, der sie im „Outro“ eine Reprise spendieren. In „What Have You Done“ grätscht ein geradezu unverschämtes Schweinerock-Riff durch den fluffigen Indie-Pop, während Pidduck sich aus dem Staub macht und wiederholt das ein oder andere verzweifelte „Sorry“ zurücklasst. Stücke wie „Deep“ hingegen lassen mit Polyrhythmen im Handgepäck den Rock’n’Roll zugunsten einer ausgelassenen, elektronischen Tanzflursause absichtlich links liegen. Dennoch wirkt „Ride Or Die“ wie aus einem Guss und fühlt sich nur selten nach einem jener aus hunderten Singles zusammengepuzzelten Debütalben an, wie sie in den Zweitausendern für britische Hype-Acts noch gang und gäbe waren. Pidduck und Townsend spielen, Newcomer hin oder her, die noch recht junge Essenz ihres musikalischen Schaffens gekonnt nach außen.

„It’s a long, long dance till the end of the night“: ARXX sind immer auf der Suche, browsen mit grellen Cocktails in den Händen durch Brightons Nachtleben, auf dass die nächste Romanze weniger an die Substanz gehen möge und irgendetwas von ihr bleibt. Damit sie wie in „Stuck On You“ dann höchstmelancholische Balladen über die Begegnungen schreiben können und keine angepissten Breakup-Songs benötigen. „Iron Lung“ schaltet am Ende trotzdem in den Riot-Grrrl-Modus und zertrümmert zwischen Crossover und Royal Blood pogend den ganzen Laden, was als Erinnerung dafür sorgt, dass man es hier aller Niedlichkeit und allen pointierten Synth-Einsätzen zum Trotz immer noch mit Alternative Rrrrrrock zu tun hat. „Ride Or Die“ erinnert mit massig Ohrwurmtauglichkeit und Abwechslungsreichtum in petto mitunter daran, was Tegan And Sara mit mehr Krach anstellen würden, oder angenehm an „Box Of Secrets“, das Debüt von Blood Red Shoes (oder meinetwegen an die frühen Gossip). Tanzbarer Indie Rock mit lediglich Schlagzeug und Gitarre aus dem Küstenstädtchen funktioniert 2023 nämlich noch genauso gut wie 2008. Es gilt weiterhin: Brighton bleibt stabil!

 

 

 

Rock and Roll.

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Song(s) des Tages: Ren – „Jenny’s Tale“ / „Screech’s Tale“


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Ren mag zwar bereits über 82.000 Facebook-Likes und mehrere Millionen YouTube-Streams vorweisen können, ich allerdings bin dieser Tage erst durch den Vorschlagsalgorithmus von zweiterer Plattform auf den jungen Künstler aus dem englischen Brighton gestoßen. Und zitiere denn gleich mal galant die Selbstbeschreibung auf Facebook:

„Sänger, Songschreiber, Produzent, Rapper, Multiinstrumentalist. Musik ist Rens Liebe. Als er noch ein Teenager war, erkrankte Ren an einer mysteriösen Krankheit, die ihm fünf Jahre seines Lebens kostete und ihm seinen Traum nahm. Nachdem bei ihm schließlich Borreliose diagnostiziert wurde, unterzog er sich einer Stammzelltransplantation, die ihn in die Welt der Lebenden zurückbrachte. In einer Zeit, in der er jahrelang in seinem Schlafzimmer feststeckte, wandte sich Ren dem Schreiben und Produzieren zu, was ihm nach seinen Worten ‚das Leben rettete‘. Er schrieb viel über Krankheit, Isolation und Depression, und seine Worte, verbunden mit markantem Gesang und einem einzigartigen Musikstil, fanden bei vielen Menschen auf der ganzen Welt großen Anklang. Seine schnell wachsende treue Fangemeinde spornte Ren dazu an, nicht nur seine rohe und echte Musik weiter zu verbreiten, sondern auch seine eigenen visuellen Inhalte zu konzipieren und mit Hilfe seines besten Freundes und einer Kamera zu inszenieren.“

af49b84936be605c7145793035f87b25.400x400x1Hat man erst einmal ein klein wenig Luft aus der Pathos-Blase gelassen, dann findet man unterm Strich einen recht talentierten jungen Musiker, der vor allem auf seiner im vergangenen Jahr erschienenen EP „The Tale of Jenny & Screech„, dem Nachfolger zum 2015 veröffentlichten, stellenweise sehr persönlichen Debütalbum „Freckled Angels„, Songs aufbietet, die den urbanen Lokalkolorit eines Mike „The Streets“ Skinner, die Akustikgitarren-Klampfereien von Jack Peñate und die theatralisch anmutenden „Dreigroschenoper“-Moritat-Erzählungen von Brecht und Weill in sich vereinen. Modernes Großstadtdrama mit einer Menge freibeuterischem Punk-Spirit, das erst gar nicht den Versuch unternimmt, sich an irgendein Genre zu ketten…

 

 

 

„It was a quiet, dark night on an empty street
Somewhere in London City
Jenny walked alone, she was dragging her feet
She was heading back home to sleep
Well, she knew this town, she knew this floor
Because she’d walked it about a thousand times before
She wanted to escape, can you blame?

Well on the very same night, in a different place
There walked a hooded young youth by the name of James
He was 14 years old and out of his brain
He’d been smoking ganja with the boys
James, he grew up to be a kid of the street
His mates called him Screech, he was quick on his feet
He was a liar, a thief at fourteen years old
The devil had set his sights on his soul

As Jenny walked home all alone, she felt scared
Usually she was alright
But it was like there was something in the air
A divine intervention telling her to beware?
Or maybe intuition bugging her and making her so scared?
Sirens sound in the distance to the beat of Jenny’s feet
A symphony of the night that echoes crime on London’s streets
Jenny turns a corner, their eyes, they meet
Our poor girl Jenny and a boy named Screech

‚Give me all your money bitch, give it to me
If you co-operate, then you’ll soon be free
I want your purse, your phone
Don’t fucking look at me
I mean it bitch, are you listening to me?‘
Jenny freezes, statue like, a lady shaped stalagmite
Fear like liquid nitrogen in the dark night
She tried to find strength to move
But stayed as still as a statue in high heeled shoes

‚What the hell you playing at? You playing games with me?
I swear to fucking god, I’ll slice the rosy off your cheeks
You think I don’t mean it girl? You don’t know me
The last thing you see will be a boy called-‚
Screech reached for the sheath of the blade with the teeth
That could bite through steel and slice concrete
And he swung possessed, with the devil in his chest
And the statue she was turned to, butter in a breath

It was a quiet dark night on an empty street
Somewhere in London city
Jenny laid still on the cold concrete
She’s found somewhere to sleep
Well, she knew this town, she knew this floor
Because she’d walked it about a thousand times before
I guess that she escaped, it’s such a shame“

 

 

„A story, it starts
Right at the end of the life of poor Jenny
Clocked out like Big Ben
This Screech, dear boy, where did he go
He melted into the black night, just like snow

*Knocking on wooden door*

Patrick, man, let me in, please open the door
I think I fucked up, Patrick, really fucked up, man, I’m not sure
I got crazy, left a lady laying still on the floor
I think I killed her, Patrick, come on man, I can’t knock no more

But Screech kept on knocking, ‚till his knuckles became sore
But there’s no sign of Patrick, down at number 54
No refuge for our villain, for the bitter hands of faith
Have something far more sinister in mind, that does await

*Phone ringing*

[Spoken: Woman & Screech]
Hello?
Hi babe, you in?
Nah, nothing really, I’m just a bit tired
Listen, can I swing around yours for a few minutes?
I just really miss you, babe
What the fuck you mean you’re busy?
You fucking bitch, for fucks sake

Sirens sound approaching like a Banshee in the night
The shrill cry of justice cutting like the sharpest knife
But Screech was never one to run, not one to miss a fight
One hand upon his blade, he turned to face the blue light

Come on then, you fucking cunts, lets fucking have you then
I am Screech, I’m the boss here, I’m the ender of man
You think that uniform you’re wearing means that you own these streets
Well these are my fucking streets and they call me fucking Screech

Richard was an officer, who stood at 6 foot 3
Working London on the night shift, what he didn’t think he’d see
Was a boy running at him, like an animal possessed
With no time to hesitate, he fired four bullets at Screech’s chest

A story it ends, right at the start
Young Screech and poor Jenny, lying one street apart
An officer shaken, by the boy that he claimed
Two body’s lay lifeless, and it’s such a shame
It’s such a shame“

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Cultdreams – „We Never Rest“


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Seit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Seafoam“ vor zwei Jahren hat sich im Leben von Lucinda Livingstone und Conor Dawson einiges getan. Allem voran, dass die gemeinsame Band nun nicht mehr Kamikaze Girls, sondern Cultdreams heißt. Aber auch die politisch wie gesellschaftlich schwierige Situation in ihrer englischen Heimat bewog sie dazu, mit dem im August erschienenen Nachfolge-Langspieler „Things That Hurt“ neue Wege zu gehen.

a2840046055_16Ihre DIY-Harcore- und Postpunk-Wurzeln im hallverhangenem Unterholz Brightons sind unüberhörbar – auch wenn Conor Dawson mittlerweile in Belgien lebt. Visuell gehen die singende Gitarristin und der Schlagzeuger diesen Weg mit Martyna Wisniewska, die unter anderem im Musikvideo zur Underdog-Hymne „We Never Rest“ die Atmosphäre zum Ausdruck bringt. Zur gesanglichen Verstärkung holten sich Cultdreams für den Song Katie Dvorak und David F. Bello (The World is a Beautiful Place & I Am No Longer Afraid to Die) an Bord. Apropos Underdog: schon mit dem sehr intim-introvertierten Album-Opener „Born An Underdog, Still Living One“ und seinem wunderschönen emotionalen Spannungsbogen ist die Stoßrichtung der Platte sofort vorgegeben. „Things That Hurt“ ist ein Album für und über all jene gesellschaftlichen Gruppen, die heute beinahe täglich als Primärziele alter weißer Populisten herhalten müssen. Die zweite Auskopplung „Not My Generation“ bringt all die angestaute Wut über so viele Missstände lautstark auf den Punkt:

„Put myself into the light
Become an advocate for one thing
Get ignored for all the rest
After years of aggravation
In a scene where women are shamed
Victims are blamed
And older white men reign over minorities
Whilst we’re all made their property
We see men ignore misogyny
As if it’s not their problem to act upon their sisters
When they get touched inappropriately
Everyone ignores me unless I’m on a stage talking
Because they put me on a pedestal
And pretend I’m just performing“

Seien es LGBTQ, psychisch kranke Menschen – Sängerin Lucinda Livingstone schreibt aus eigener Erfahrung – oder die Unterdrückten des „Besser! Effizienter! Mehr!“-Konsumdrucks, Cultdreams erzählt persönliche Geschichten als Stimme für alle, die in der Masse der Gesellschaft oft als anders oder schwach gelten. Im Fahrtwind ganz ähnlicher Bands wie Petrol Girls oder Apologies I Have None ist „Things That Hurt“ mit seiner bewusst rohen Produktion, unter der sich allerhand schroffe Liedperlen verstecken, eine mahnende, unbequeme „Political Uncorrectness“-Plakette für die Indie-Kultur. Nur geben sich Cultdreams dabei eben nicht mehr martialisch, wie es ihr früherer Bandname suggerierte, sondern reflektieren öffentliche Entwicklungen mehr im Inneren – und schenken der Musikszene so zehn neue widerhakende Hymnen für ein starkes Streben nach Selbständigkeit und Autonomie. Venceremos.

 

 

„Take my meds on time, don’t smoke too many cigarettes
Dress appropriately for the binary I’m meant to have
Get a job, behind a desk, pay my dues and be oppressed
Be forgiven, be forgotten, burn it out until the end
We never rest

Just don’t worry
Keep on going (We never rest)
Everything is fine

I’ll line up with all the rest
Pretend it’s the best I’ve ever had
Say yes to love outside closed doors ‚cause it doesn’t have to be suppressed
We are the means and you are the end
We are the ones with better sense
Be forgiven, be forgotten, burn it out and make amends
We never rest

Just don’t worry
Keep on going (We never rest)
Everything is fine
(We never rest)
Just don’t worry
Keep on going (We never rest)
Everything is fine“

 

Rock and Roll.

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Song des Tages: Orchards – „Peggy“


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Der Name „Peggy“ ruft durchaus lebhafte Erinnerungen an meine DDR-Kindheit hervor.

268x0wDiese wiederum dürften Orchards wohl kaum haben. Denn zum einen ist das britische Quartett wohl ein paar Lenze jünger als der Schreiberling ebenjener Zeilen, zum anderen stammen Frontfrau Lucy Evers und ihre Jungs (Sam Rushton an der Gitarre, Dan Fane am Bass und Will Lee-Lewis am Schlagzeug) aus der englischen Küstenstadt Brighton. Trotzdem ist deren „Peggy“ ein feines, gut vierminütiges Stuck fluffig-tanzbarer Math-Pop, der zwar bereits 2016 erschien, nichtsdestotrotz auch zwei Jahre – und einige mehr via Bandcamp ins weltweite Netz gestreute Singles später – noch auf der Höhe des indie-affinen Hipster-Zeitgeistes umher schwirrt (und nur eine gefühlte Hüpfburg neben Bands wie Minus The Bear hoppelt). Quasi also die wohl bisher tanzwütigste „Peggy“ des 21. Jahrhunderts….

Und da Orchards den ersten Langspieler jedoch bislang schuldig geblieben sind (und für Juli zunächst die „Losers/Lovers EP“ angekündigt haben), darf man weiterhin gespannt sein…

 

 

„let’s take the dark road to the far side of the station
can you stop complaining about your lies yesterday?
i don’t know where you’ve been but i can see the tension
are we gonna crumble through the cracks that we share?

don’t you know, that you’re living a lie?
don’t you know, that you’re wasting my time?
make it worth it – can you stay for the night?
all i want is to be perfectly fine

i can feel it the air that you breathe
the silence, it haunts me
can’t you see that i don’t want you to leave? (so)

let’s take the long road and forget where were going
living dreams through echos, conversations in my head
i don’t know where you’ve been, always searching through this mess
are we gonna crumble through the cracks that we share?

don’t you know, that you’re living a lie? 
don’t you know, that you’re wasting my time? 
make it worth it – can you stay for the night?
all i want is to be perfectly fine

only you can hurt me
only you can help me
fly

i can feel it the air that you breathe
the silence it haunts me…

can’t you see that i don’t want you to leave?

i can feel it the air that you breathe
the silence, it haunts me
can’t you see that i don’t want you to leave? (go)“

 

Rock and Roll.

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Auf dem Radar: Rag’n’Bone Man


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Mal ein kleines Experiment: Schaut euch den Herrn auf dem Bild an. Welchem musikalischen Genre würdet ihr ihn ganz spontan und per erstem optischen Eindruck zuordnen? HipHop vielleicht? Elektronische Gefilde gar? Bildet euch eure eigene Meinung… Und dann schaut euch das Musikvideo zur aktuellen Single „Human“ an (welches ihr auch weiter unten findet) – und seid wohlmöglich ebenso überrascht wie ich…

 

Ganz klar: Das Optische mag bei Rory Graham aka Rag‘n’Bone Man trügen. Die Stimme keinesfalls. Denn mit seinem herrlich rauen Gesangsorgan und einem umwerfenden Gespür für den richtigen Groove changiert der aus dem englischen Brighton stammende Newcomer scheinbar mühelos zwischen Blues, Soul, HipHop oder Funk hin und her.

Überhaupt: das Phänomen Blues. Entstanden in der afroamerikanischen Gesellschaft der USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in den folgenden Jahrzehnten von jeder Musikergeneration immer wieder neu interpretiert, verändert, wiederbelegt, modernisiert, aufgehübscht, recycled und wieder auf seine wesentlichen Bestandteile reduziert (u.a. wären da Gun Club, die White Stripes, die Black Keys, Kanye West oder Kendrick Lamar zu nennen), ist die amerikanische Ur-Musik, aus der einst Soul, Jazz, Rock’n’Roll, Jazz oder HipHop erwuchsen und immer mehr mit dem popkulturellen Massengeschmack verschmolzen, auch 2016 lebendig wie eh und je. Immer wieder widmen sich junge Musiker auf der ganzen Welt der Aufgabe, das musikalische Erbe der Muddy Waters, John Lee Hookers, Bo Diddelys, Howlin‘ Wolfs, Son House oder Big Bill Broonzys in der Gegenwart fortzuführen und dem Genre neue Wege in die Zukunft weisen. Einer der großen Hoffnungsträger und Erneuerer diesseits des Atlantiks trägt – ganz stilecht bluesig – den Namen Rag’n’Bone Man (deutsch: Lumpensammler).

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Zu seinem Künstlernamen ließ sich Graham von der britischen TV-Serie „Steptoe & Son“ inspirieren, welche in Großbritannien in den Sechzigern und Siebzigern gezeigt wurde. An diese Zeit erinnern auch seine vielen Tätowierungen, die man auch im bereits erwähnten Musikvideo zu „Human“ bestauen kann (auf den Knöcheln seiner Hände sind übrigens die Worte „Soul“ und „Funk“ unter die Haut gebracht). Der Song, welcher mit einem schleppenden Beat und Südstaaten-Blues-Samples startet, ist der erste Vorgeschmack aus dem Major-Debütalbum, das in Kürze erscheint (mit „Wolves“ erschien 2014 bereits sein Indie-Einstand, welchem 2015 die „Disfigured EP“ folgte). Dass der Mann Einiges an in die Wiege gelegtem Talent (die Mutter ist selbst Sängerin, der Vater Gitarrist), Charisma und Live-Präsenz mitbringt, welche sich kaum auf ein Genre beschränken mag, war ebenso beim Hamburger „Reeperbahn Festival“ im vergangenen Jahr zu sehen wie im kürzlich stattgefundenen „Montreux Jazz Festival„.

Ganz klar: Menschlichkeit hat viele Gesichter. Das von Rory „Rag’n’Bone Man“ Graham lehrt uns, einen Menschen nicht gleich auf dem ersten Eindruck fest und ad acta zu legen, während seine Stimme hoffentlich dafür sorgen wird, dass man ihn so schnell nicht wieder vergisst.

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Hier gibt’s das Musikvideo zur aktuellen Single „Human“…

 

…zum ebenfalls tollen Song „Bitter End“…

(alternativ hier ein Vimeo-Link)

 

…sowie selbiges Stück noch einmal in einer Live-Session-Varinate, mitgeschnitten während dem letztjährigen „Reeperbahn Festival“:

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Tall Ships – Everything Touching (2012)

Tall Ships - Everything Touching (Cover)-erschienen bei Big Scary Monsters/Alive-

Die zufälligen Bekanntschaften sind mitunter keinesfalls die schlechtesten. Jene, an die man vollkommen frei und frisch und vorurteilsfrei unbelastet herangeht und dafür umso mehr belohnt wird…

So geschehen vor wenigen Tagen: ein Freund wollte uns Karten für das in etwa zwei Wochen hier im niederländischen Maastricht stattfindende Konzert der Iren Villagers (ANEWFRIEND wird berichten!) sichern und wurde vom Betreiber der Lokalität (genauer: der Maastrichter Muziekgieterij) gefragt, ob er denn nicht obendrauf noch Freikarten für die kommende Zwei-Tages-Konzertreihe haben möchte? Schleppender Vorverkauf als absolut kostengünstige Unterhaltungsoption? Na, aber gern doch! Und während sich der erste Abend noch folkloristisch selig gestaltete, spielte als zweite Gruppe des zweiten Abends eine englische Band groß auf, von der ich zwar vor nicht allzu langer Zeit einmal gelesen, die jedoch – man wird ja heutzutage im weltweiten Netz unweigerlich der Zerstreuung preisgegeben – mein Kurzzeitgedächtnis wieder verlassen hatte. Umso stärker drängten sich Tall Ships, dieses Brighton-Cronwall’sche Dreiergespann aus Richard Phethean (Gitarre, Gesang), Matt Parker (Bass, Sampler) und Jamie Bush (Schlagzeug), das auf der Bühne noch im einen Keyboarder erweitert wurde, auf. Diese Energie! Diese juvenile Atmosphäre, diese Sounddichte, dieses Gefühl! Fürwahr – die Band, die auf der „Insel“ bereits 2010 mit ihren beiden EPs (die selbstbetitelte Debüt-EP und die „There Is Nothing But Chemistry Here EP“) sowie der 2011er Vorab-Single „Hit The Floor“ für Furore in Indierock-Kreisen gesorgt hatte, hatte ich – bisher – zu unrecht überhört. Dabei weiß ihr nach dem Konzert erstandenes und mittlerweile signiert mein Plattenregal zierendes Debütalbum „Everything Touching“ – dem schlichten Cover zum Trotz – durchaus zu überzeugen…

Tall Ships #1

Der Opener „T=0“ legt schonmal dynamisch vor. Zu einem Fahrt aufnehmendem Schlagzeugbeat gesellt sich erst ein repetitives Gitarrenriff, dann Keyboardgeklimper und schließlich eine komplette Tasten-‚Wall Of Sound‘, bevor Phetheans Gesang einsetzt und vom wundersam süßen Gefühl der zweisamen Unverwundbarkeit kündet: „When I’m with you we are invincible / Together as one our worries come undone“. Bereits das folgende, quasi instrumentale „Best Ever“ zieht darauf besagte ‚Wall Of Sound‘ noch ein Stück weit nach oben, lässt eine kurze Verschnaufpause trügerisch aufglimmen und setzt noch ein paar mehr derbe Klangsteine. Die maritime Realitätsfluchtfantasie „Phosphorescence“ könnte in ihrer hymnischen Verspielheit auch dem Proberaum der Foals schallen, während einen Stücke wie der sich bestätig steigende, melancholische Winterrocker „Oscar“ oder die feinfühlige, mit naturwissenschaftlichen Motiven („Within you every particle is perfect /…/ You are a triumph of natural selection / Every mutation leading to your perfection“) changierende Liebesode „Ode To Ancestors“ einen wohl unweigerlich an die Kanadier von Wintersleep denken lassen. Das zu großen Teilen forsch drauf los polternde „Gallop“ hätte keinen anderen – und besseren! – Titel verdient gehabt, während Frontmann Richard Phethean in einer dezent an Depeche Mode-Fronter Dave Gahan erinnernden gewaltigen Stimmlage von der jähen Vergänglichkeit der Jugend singt: „And before you know, you’re getting old / And losing touch / But life keeps marching on and on, and you’re hung up on things you haven’t done / And all now you have are regrets, and you’re heavy with emotional debts / To the ones you love“ – ein düsterer Funke in einem Meer aus Träumereinen. Apropos „Träumereien“: in eben jenen darf der Hörer im sechsminütigen, Sigur Rós in den Indierock verschleppenden „Idolatry“ ausgiebigst baden, bevor Phetheans Gesangszeile „I can’t build these statues anymore“ gen Himmel entschwindet. Das Doppel aus dem einmütigen, atmosphärischen Instrumentalstück „Send News“ und „Books“, bei welchem erneut – textlich – naturwissenschaftliche mit philosophischen Motiven („I’ve wandered this library for years now / Killing time whilst time slowly killed me / But I know / Time, time is precious / And time will forget us“) und – musikalisch – die isländischen Post Rock-Heroen mit modernem britischem Indierock hervorragend unter einen Hut gebracht werden. Der abschliessende Neunminüter „Murmurations“ setzt zuerst mit einem befremdlich wie stoisch im Hintergrund pumpendem Beat und einsamen, sanften Gitarren ein, steigert sich im Verlauf jedoch  in einen beinahe rauschhaften Full-Band-Zustand, an dessen Spitze ein aus etwa vierzig Freunden, Familienangehörigen und Fans bestehender und in der örtlichen Grundschule aufgenommener Chor die (fast) letzten Zeilen von „Everything Touching“ singt: „Stay with me, for just a while / Hold me close, confirm my denial / You’re all I have, you’re all I need / Settle now, you’re something to believe“. Das Album läuft sanft aus, bis nur noch von fern eine friedvolle Kinderstimme trällert…

Tall Ships-Press shots 29-05-11

Tall Ships schaffen auf ihrem Langspiel-Erstling „Everything Touching“ eine 44 Minuten andauernde dichte Indierock-Atmosphäre, die in Momenten mit (An)Zug an die Landsmänner Foals, die Schotten von We Were Promised Jetpacks oder die US-Mathrocker Battles erinnert, während der Hörer bei den gelegentlichen melancholischen Ruhepolen hingegen nicht selten an Wintersleep oder Sigur Rós denken muss. Dabei bauen Richard Phethean & Co. jedoch keineswegs auf dumpfen Ripoff-Sand, sondern verzieren diese musikalischen Eckpfeiler mit klugen, tiefgründigen Texten und ausreichend Eigenständigkeit und Abwechslungsreichtum, um sich eine gute Zukunftsperspektive zum soeben angesetzten „großen Sprung“ zu erabeiten, denn die Band spielte etwa kürzlich beim renommierten US-Festival „South By Southwest“ und befindet sich gerade auf ausgedehnter Tournee. Und auch wenn Tall Ships die auf den Bühnenbrettern der Maastrichter Muziekgieterij dargebotene Live-Energie (noch) nicht ins Studio und das – nichtsdestotrotz ausgesprochen formidable – Debüt „Everything Touching“ transportieren konnten, so steht eines doch fest: mit diesen Briten ist in Zukunft zu rechnen! Und: ich liebe Zufallsbekanntschaften!

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Wie (fast) immer lässt euch ANEWFRIEND nicht ohne Hörproben im Regen (den man beim gerade zart aufkeimenden warmen Wetter nun wirklich nicht nötig hat!) nicht ohne Hörproben stehen und bietet euch hier das komplette Album im Stream…

…sowie die 2011 veröffentlichte Vorab-Single „Hit The Floor“…

 

…und die Videos zum Albumopener „T=0″…

 

…dem energetischen „Gallop“…

 

…sowie dem selben Song in einer reduzierten ‚Outdoor Acoustic Session‘-Variante…

 

…und als Teil der letztjährigen Session von Tall Ships in den ehrwürdigen „Maida Vale“-Studios der BBC:

 

Rock and Roll.

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