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Aufgetaucht – Lockerbie verschenken ihr neues Album „Kafari“


lockerbie

Island ist schon erstaunlich. Da hat der Inselstaat im Norden Europas gerade einmal soviel Einwohner wie – Obacht! – das beschauliche Bielefeld (nämlich knapp 330.000) und macht seit jeher doch so oft von sich reden.

Klar dürfte sich das Land aktuell am meisten durch seine erfolgreiche – und erstaunlich souveräne – Qualifikation für die Fussball-Europameisterschaft in Frankreich im kommenden Jahr ins Spiel und auf die Titelseiten der Nachrichtenmagazine gespielt haben – immerhin stach man in seiner Gruppe die bemitleidenswerte niederländische „Elftal“ aus. Nicht schlecht für ein Land, in dem – um noch einmal kurz beim Sport zu bleiben – Boxen erst seit 2002 wieder offiziell erlaubt ist (zuvor war es seit 1956 „zum Schutze der Gesundheit“ verboten).

Ansonsten? Klar, von Island aus platzte 2007 eine globale Bankenblase, deren Nachwehen sich bis heute noch von Buenos Aires bis hin nach Tokyo ziehen. Und zum Mythos von Geysiren, singenden Steinen und Elfen tragen die Walfleisch trocknenden Wollpulli-Isländer heutzutage in etwa ebenso sehr bei wie der Bundesdeutsche zum Ruf des Ausländer hassenden, schuhplattlernden PEGIDA-Gängers in Lederhosen. Irgendwelche Klischees hat ja im Grunde jede Nation.

Viel mehr hat sich Island jedoch in den letzten Jahrzehnten im Kultur- und Musikbetrieb einen hervorragenden internationalen Ruf erspielt. Auch da fallen bei den meisten zuerst die Namen der zwei, drei üblichen Verdächtigen: Björk, klar – die 49-jährige Musikerin steht – mittlerweile zum nationalen Heiligtum gereift – wie kaum eine andere Isländerin für jenen unangepassten nordischen Charme, mit dem immer und immer wieder Neues entsteht und Verflechtungen durch alle künstlerischen Bereiche – von Musik über Film bis hin zu höchst abstrakter „L’art pour l’art“ – gezogen werden. Oder Sigur Rós. Die Band um Frontmann Jónsi – mit der androgyn-entrückten Stimme eines Engels gesegnet – hat sich längst ihr eigenes (postrockendes) Genre erschaffen, das sie seit beinahe zwanzig Jahren und sieben Alben zurecht weltweit erfolgreich und einsam auf weiter Flur dastehen lässt. Oder eventuell noch Pop-Singer/Songwriterin Emilíana Torrini oder die Folker von Monsters Of Men. Island-Aficinatos dürften noch Agent Fresco, múm oder Múgison ins Feld werfen, oder eben das seit 1999 stetig wachsende, jährlich in der Hauptstadt Reykjavík stattfindende Festival „Iceland Airwaves“ anführen. Und dann noch einmal erwähnen, dass all diese Künstler aus einem Land kommen, dessen Bevölkerungszahl sich gerade einmal mit einer deutschen Großstadt im Regierungsbezirk Detmold im Nordosten Nordrhein-Westfalens messen kann. Dazu passt auch, dass Hannes Halldórsson, seines Zeichens Nationaltorwart der isländischen Fussballnationalmannschaft, den Großteil seiner fussballfreien Zeit als nicht eben unerfolgreicher Film- und Musikvideoregisseur (zum Beispiel zeichnete er sich in jüngster Vergangenheit für den Musikclip zu einem der isländischen Beiträge zum „European Song Contest“ verantwortlich) verbringt. In einem Land wie Island kennt eben übers Eck so ziemlich jeder jeden, bewegt sich eben alles in kleineren Bahnen…

Lockerbie_OlgusjorOb Davíð Arnar Sigurðsson, Guðmundur Hólm, Rúnar Steinn Rúnarsson, Þórður Páll Pálsson und Hafsteinn Þráinsson es indessen auch bereits mit dem runden Leder versucht haben, ist leider nicht überliefert. Vielmehr haben auch die fünf von Lockerbie, wie viele ihrer Landsleute (und nicht nur die), in frühen Jahren Sigur Rós für sich entdeckt und Jónsi und Co. schon alsbald später als Inspiration zur Gründung einer eigenen Band genommen. Gesagt, getan – Lockerbie waren geboren (der Bandname selbst bezieht sich zwar zu gleichen Teilen auf den Bombenanschlag im schottischen Lockerbie im Jahr 1988 sowie auf ein Gedicht eines ehemaligen Bandmitglieds, trotzdem ist die Band keineswegs politisch). Bald schon ließen Sänger Pórður Páll Pálson und seine Mitstreiter die Welt mit dem 2011 erschienenen Debüt „Ólgusjór“ erste Songs hören, die vielerorts – auch und vor allem außerhalb ihrer Heimat – auf offene Ohren stießen. Verspielter Postrock, gepaart mit Indiepop und vielen kleinen Experimenten – Spieluhren, Xylophone, Streicher etc. pp. Dazu Pálsons Kopfstimme, die Texte auf Isländisch – man kam kaum drum herum, Lockerbie als „Sigur Rós‘ kleinere Brüder“ zu bezeichnen.

Seitdem sind gut vier Jahre ins Land gegangen. Ganze zweieinhalb davon haben Lockerbie mit den Arbeiten am Nachfolger zu „Ólgusjór“ verbracht. Umso erstaunlicher, dass sie „Kafari“ (was übersetzt „Taucher“ bedeutet) nun einfach so, für lau einen warmen Dank und Umme auf ihrer Homepage verschenken. Doch selbst der geschenkteste Gaul ist nichts wert, wenn der Inhalt mau ist. Kann „Kafari“ also überzeugen? Nun, Freunde von Sigur Rós und Co. dürften auch beim Zweitwerk von Lockerbie gern mal ein, zwei Ohren riskieren, denn auch 2015 liegt das, was die in Hafnarfjörður/Reykjavík da in ihren zehn neuen Stücken anbietet, klanglich nah beim musikalischen Output der großen Vorbilder. Poppige Melodien treffen auf postrockige Instrumentalelemente treffen auf vermehrte Elektronik treffen auf einen insgesamt erwachseneren Gesamtklang. Klar findet der findige Hörer hier viele vermeintliche „Island-Sound“-Klischees bestätigt. Ist ja auch nichts Schlechtes dran. Und wer Gefallen an „Kafari“ gefunden hat, der kann der Band via Crowdfunding helfen, die Vinylveröffentlichung auf die Beine zu stellen.

Und bevor mir jetzt noch jemand gezieltes Bashing einer Stadt in Nordostwestfalen unterstellt – hier mal eine kleine Liste berühmter Söhne und Töchter Bielefelds: Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu“), Hannes Wader, Bernhard Schlink („Der Vorleser“), Hera „Superweib“ Lind, Ingolf Lück, Oliver Welke, Ralph Ruthe, Lena Gössling, Casper – hat ja schon fast isländische Qualitäten, dieses Bielefeld…

 

 

Hier gibt es „Kafari“ im Stream…

 

…und das Titelstück samt dazugehörigem Musikvideo, für das sich der französische Regisseur Timothée Lambrecq verantwortlich zeichnete:

 

Rock and Roll.

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Auf dem Radar: Ásgeir


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Keine Frage: Das Leben scheint es derzeit gut zu meinen mit Ásgeir Trausti Einarsson. Und man kann sich wohl nur im Entferntesten vorstellen, wie es ist, als mit 21 Jahren noch recht junger Mann jedoch Morgen seinen Kaffee in der Gewissheit zu schlürfen, dass sage und schreibe zehn Prozent der eigenen Landsleute eine – selbstredend bezahlte – Ausgabe des eigenen Debütalbums im heimischen Plattenregal stehen haben…

Da sind die Wichtigtuer, die kleinkarierten Nörgler freilich nicht weit, um diesen Zahlen sogleich die relative Richtigkeit zu verleihen. Denn – manch eine(r) ahnte es wohl bereits – Ásgeir ist Isländer und, runter gebrochen auf die nicht eben zahlreiche Einwohnerzahl der Vulkaninsel knapp südlich des nördlichen Polarkreises, würden diese zehn Prozent des im September 2012 erschienenen Debüts „Dýrð í dauðaþögn“ (was auf gut Deutsch soviel wie „Die Herrlichkeit der Totenstille“ bedeutet) „lediglich“ 320.000 verkauften Einheiten entsprechen. Trotzdem: Bestverkauftes Debütalbum in der isländischen Musikgeschichte, neun Wochen an der Spitze der Single-Charts, 2012 dazu ganze vier Auszeichnungen bei den „Icelandic Music Awards“ – das muss dem Newcomer, welchen man mit seinen Tätowierungen spontan wohl eher in der hardcore-lastigen Musikalienschiene verorten würde, erst einmal jemand nachmachen. Jedoch sind einem Künstler, allen Lorbeeren zum Trotz, auch heutzutage – und ganze 15 Jahre nach dem großen Sigur Rós-Werk „Ágætis byrjun“ – mit ausschließlich isländischem Text- und Liedgut (wenn man Sigur Rós‘ ans Isländische angelehnte „Hopelandic“-Fantasiesprache mal dazu zählt) vor dem internationalen Durchbruch gewisse Grenzen gesteckt…

Doch Gevatter Schicksal ließ auch hier Milde mit Ásgeir Trausti walten. So spielte der Isländer im vergangenen Jahr – neben Shows bei Sónar Festival in Barcelona oder beim deutschen Indie-Kuschelfestival Haltern Pop – beim prestigeträchtigen SXSW in Austin, Texas. Im Publikum befand sich bei diesem Stelldichein von Künstlern, Musikjournalisten und Musiklabels auch ein gewisser John Grant. Und da dem weltgewandten ehemaligen Czars-Frontmann mit den ebenso berührenden wie traurigen  Stimmbändern Ásgeirs Musik besonders gut gefiel, nahm er ihn als Support zuerst mit auf seine nächste Solo-Tournee, um ihm daraufhin vorzuschlagen, alle Texte, welche ursprünglich zum Großteil vom 72-jährigen Vater des Isländers, dem Dichters Einar Georg Einarsson, verfasst wurden, ins Englische zu übersetzen (welch‘ Fügung: Grant, der alte Polyglott, spricht – nebst Englisch, Russisch, Deutsch, Spanisch und Französisch – auch Isländisch!). So setzten sich Grant und Ásgeir erneut vor die Studiotür, bevor der 21-Jährige einmal mehr im Inneren verschwinden konnte, um alle Songs des Debüt auf Englisch aufzunehmen.

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Das auf den feinen Titel „In The Silence“ hörende Ergebnis erfuhr nun vor wenigen Tagen, Ende Januar, seine internationale Veröffentlichung. Und trotz der Tatsache, dass der Isländer seine Songs nun auf Englisch vorträgt, meint man, dass man all die isländischen Klischees noch immer aus den zehn Stücken heraushören kann: die Einsamkeit inmitten der Naturgewalten, die Weite rund um das 40-Seelen-Kaff Laugarbakki, in welchem der Musiker aufwuchs, die schroffen Klippen, die Geysire und Nebelfelder. Andererseits: Wieso sollte sich Ásgeir auch verbiegen (lassen), gar: seine Herkunft verleugnen? Hört man jedoch auf „In The Silence“ genauer hin, so könnte man fast meinen, dass das Balsam-Falsett nicht ihm, sondern Justin „Bon Iver“ Vernon gehöre. Und auch musikalisch ist das Ganze zu großen Teilen gar nicht mal so weit von Werken wie „For Emma, Forever Ago“ der US-Indiefolk-Band aus Wisconsin – also: Bon Iver (obwohl Vernons Zweitband Volcano Chor auch schon ums Eck lugt) – entfernt: melancholische Akustikgitarrenballaden, deren Weg mal von rhythmischer Schlagzeugbegleitung, mal von einem sacht aufspielenden Piano gekreuzt wird. Damit all das nicht zu beschaulich gerät, erlauben sich Ásgeir und seine Mitmusiker freilich auch kleine Experimente, lassen elektronische Dub- oder Minimal Beat-Verweise oder 8-Bit-Rhythmik einfließen (man höre den Beinahe-Dance-Track „King And Cross“), während andere Nummern durch ihr marschierendes Schlagzeugspiel (die Single „Torrent“) oder ihre jubilierenden Fanfaren („In Harmony“) so beileibe auch von den Landsmännern von Sigur Rós stammen könnten. Kings Of Convenience meets Bon Iver meets James Blake meets Nick Drake meets Sigur Rós meets Simon & Garfunkel meets Patrick Wolf. Dass Ásgeir all diese Vergleiche und Querverweise, die sich während der 40 Minuten des Debütalbums wohl unweigerlich auftun, im Grunde kaum nötig hat, spricht wohl nur für das Naturell des Isländers, der – hallo x-te Klischeefalle! – zu allem Überfluss auch noch auf dem Label One Little Indian – und damit auf dem gleichen Plattenlabel wie Vorzeige-Island-Sirene Björk – veröffentlicht. Nö, der Newcomer reist nun freilich lieber um die Welt und singt seine ebenso spartanisch ausgeleuchteten wie edel verzierten Lieder über die Liebe, das Leben, die Harmonie, über die Natur und die Heimat: „I lift my mind to the sky / And I let it take flight / The wind carries to my ears / Precious songs of life“. Und wenn man ganz genau hinschaut, dann wird man durch die Nebelschwaden vielleicht die Sonnenstrahlen aus seinem Allerwertesten wahrnehmen. Keine Frage: Das Leben scheint es derzeit gut zu meinen mit Ásgeir Trausti Einarsson…

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Da Isländer bekanntlich weder Schotten noch Schwaben sind, kann man sich hier Ásgeirs 2013 in den Londoner Tos Rag Studios aufgenommene Drei-Song-Akustik Session gleichen Namens anhören und kostenlos aufs heimische Abspielgerät herunterladen…

 

…sich hier die Musikvideos der Singles „King And Cross“ sowie „Torrent“, welche frecherweise eben nicht für ihre acht Albumkumpane von „In The Silence“ Pate stehen können, ansehen…

 

…und die Songs des Isländers in mal mehr, mal weniger reduzierten Sessions-Varianten begutachten:

 

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Sigur Rós – Kveikur (2013)

Sigur Rós - Kveikur (Cover)-erschienen bei XL/Beggars/Indigo-

Mal ehrlich: Was kommt einem zuerst in den Sinn, sobald das schöne Stichwort „Island“ fällt? Wunderschöne Natur inmitten von Vulkanen, Geysiren und Arschkälte? Check. Reykjavik, Fischfang und Bankenpleite? Check. Trolle, Elfen und Feen? Check. Björk, Emiliana „Jungle Drum“ Torrini? Ja, sicher – check! Immerhin halten sich nur eben jene Klischees länger, denen auch eine Bestätigung gegenübersteht – und auch die Isländer scheren sich freilich einen feuchten Wal darum, etwas davon zu widerlegen. Immerhin profitiert der Tourismus von all diesen plakativen Bildern und Mythen. Und der Festigung einer eigenen Identität mag’s auch zuträglich sein… Halldór Laxness, der isländische Literaturnobelpreisträger, brachte die Faszination  Islands einst gekonnt auf den Punkt: „Island zwingt Sie, sich auf sich selbst zu besinnen. Und Sie müssen mit sich allein sein können.“ Doch die Insel unweit des nördlichen Polarkreises hat in der Tat in puncto Kultur einiges mehr zu bieten. Zum Beispiel eine seit vielen Jahren florierende und höchst eigene Musikszene – abseits der gedankenlos an die Wand der Kreativität geklatschte – man bitte meine Wortwahl zu entschuldigen – „Kunstscheiße“ einer Björk Guðmundsdóttir. Zum Beispiel das „Iceland Airwaves“ Festival, welches seit 1999 jährlich im Oktober in einem Hangar am Flughafen Reykjavík stattfindet und in der Vergangenheit, neben nationalen Künstlern, auch internationalen Größen wie Roger Waters, Bloc Party, den Kaiser Chiefs, den Flaming Lips, Fatboy Slim oder TV On The Radio eine Bühne bot. Und, last but not least, dürfte die wohl erfolgreichste und bekannteste Formation dieses Eilands mit der lachhaften Bevölkerungs“dichte“ von gerade einmal 3 Einwohnern pro km² jedem Musikfreund ein Begriff sein: Sigur Rós.

Sigur Rós #1

Dass die Band ebenso typisch isländisch ist wie Walfang, heiße Quellen und Holzhäuschen inmitten weiter Flächen, dürfte wohl kaum einer bestreiten. Immerhin kultivieren Frontmann und Stimme Jónsi Birgisson (auch Gitarrist) und seine Mitmusiker Georg Hólm (Bass) und Orri Páll Dýrason (Schlagzeug) bereits seit Gründung der Band vor beinahe zwanzig Jahren einen höchst eigen- wie einzigartigen Stil, den zu umschreiben wohl der Zappa’schen Vergleich vom „Schreiben über Musik“ und dem „Tanzen zu Architektur“ verdammt nahe käme. Die Musiker selbst geben sich gleichsam normal, bodenständig und unnahbar, die Musikvideos und songbegleitenden Visualisierungen sind kleine große Kunstwerke innerhalb von klanglichen Kunstwerken, die textliche Bedeutung der Stücke selbst lässt sich für jeden der isländischen Sprache unkundigen Ausländer seit jeher nur erahnen (wobei die Anekdote, welche sich 1998 im Zuge der Veröffentlichung des zweiten Albums „Ágætis Byrjun“ zugetragen haben soll, als ein englischsprachiger Journalist, zur Vorbereitung auf ein nahendes Interview mit der Band, die neuen Texte zur Übersetzung an einen befreundeten Isländer übergab – unwissend, dass Jónsi zu diesem Zeitpunkt in der von ihm erdachte Fantasiesprache „Hopeländisch“ sang – noch immer nicht in Gold aufzuwiegen scheint…). Um zu verstehen, was genau die Faszination der im vergangenen Jahr zum Dreiergespann geschrumpften Band (der multiinstrumentale Keyboarder Kjartan Sveinsson verließ nach 14 gemeinsamen Jahren Sigur Rós, um sich neuen Projekten zuzuwenden) ausmacht, muss man also zwangsläufig eines tun: zuhören. Denn bei allen umschreibenden Worten, die ich hier über die Isländer verlieren könnte, bleibt am Ende doch jenes Kopfkino, das wohl nur bei wenigen weiteren Bands weltweit derart automatisiert die Synapsen und Windungen der Gefühlsregionen des Hörers anwirft, außen vor.

Und doch ist „Kveikur„, das dieser Tage erschienene siebente Studioalbum von Jónsi & Co. ANEWFRIENDs „Album der Woche“. Wie also über eine Platte schreiben, die sich scheinbar erneut jeglicher passender Wortwahl entzieht? Nun, beginnen wir am besten ein Jahr zuvor. Als Sigur Rós „Valtari„, Album Nummer sechs, auf den Markt schmissen, durfte man als langjähriger Fanboy der Formation berechtigtermaßen enttäuscht aus der Musikwäsche schauen. Natürlich waren auch diese 55 Minuten mit allerhand Trademarks und Feingeist unterlegt – aber so viel Schönklang, so viel Ambiente, dass die acht Songs nicht einmal bei Großmutters sonntäglicher Kaffeetafel unangenehm aufgefallen wären? Immerhin lernte man Sigur Rós als eine Band kennen und lieben, die zwar Anmut in kursiver Blockschrift an jede Wand zu schreiben wusste, diese jedoch inmitten des Schaffensprozesses auch zu gern mit einem hämisch wissenden Grinsen und Vorschlaghämmern bewaffnet bearbeitete – die Zuckerbrot-und-Peitschen-Band des groß angelegten Post Rock, quasi. Dafür hatten sie sich mit den fraglos meisterlichen Alben „Ágætis Byrjun„, „( )“ und „Takk…“ zwischen 1998 und 2005 in eine eigene Liga gespielt, die es ihnen erlaubte, große Kunst in ihrer eigenen Nische zu schaffen, und ihnen fortan auch zaghafte popmusikalische Vorstöße wie das in den Londoner Abbey Road Studios aufgenommene, 2008 erschienene Werk „Með suð í eyrum við spilum endalaust“ ermöglichte. Mit der abendfüllenden Dokumentation „Heima“ setzen Sigur Rós – unter Zuhilfenahme des Regisseurs Dean DeBlois – sich selbst, ihrer Musik und ihrer Heimat ein ebenso klischeebeladenes wie monumental rauschhaftes filmisches Denkmal. Frontmann Jónsi tobte sich für anderweitige musikalische Interessen derweil zusätzlich beim gemeinsamen Kunstprojekt Jónsi & Alex, welchem noch sein Lebensgefährte Alex Somers angehört, auf seinem 2010 veröffentlichten Solodebüt „Go“ sowie dem Soundtrack zu Cameron Crowes letzten Kinofilm „Wir kaufen einen Zoo“ aus. Alles gut also – Friede, Freude, Walfischfleisch? Nun, einzig „Valtari“ ließ vermuten, dass Sigur Rós in all den Jahren der Biss – sprich: die Eier – abhanden gekommen waren…

Sigur Rós #2

Umso erstaunter – im ausdrücklich positivsten Wortsinn – dürfte man reagiert haben, als vor einigen Wochen „Brennisteinn“, der erste Albumvorbote, welcher nun auch „Kveikur“ eröffnet, mitsamt dem dazugehörigen Musikvideo das Licht des weltweiten Netzes erblickte. Knarzende Bassschläge und mannigfaltige Gitarren brechen sich durch dröhnende Warnsirenen ihre Bahn, während Jónsi dem Song in der ihm schönsten entrückten Art seine Stimme leiht. Eine wahre Katharsis, eine knapp achtminütige Explosion im Kleinen! Hoppladihopp, sie sind zurück! Doch glücklicherweise belässt es das Trio nicht dabei und schafft es, innerhalb der 48 Minuten eine dermaßen dichte Atmosphäre aufzubauen, in der die neuen neun Stücke – vielleicht sogar erstmals seit dem bereits 15 Jahre zurückliegenden Meisterwerk „Ágætis byrjun“ – vor allem als eines funktionieren: als großes Ganzes, im Gesamtverbund. Denn egal, ob die Band Industrial- (das Titelstück „Kveikur“) oder Elektronik-Bezüge („Yfirborð“) in ihren Klangkosmos einwebt, mit melancholischer Euphorie gen Firmament zu entschwinden versucht („Ísjaki“) oder zu triballastigem Schlagzeugrhythmen einfach alle Zweifler im Marsch überrennt (das Doppel aus „Rafstraumur“ und „Bláþráður“) – schon lange fiel es nicht mehr so leicht, der isländischen Band hoffnungslos zu verfallen. Freilich dürfte ein Album wie „Takk…“ die im Zweifel eingängigeren Einzelsongs besitzen, dürfte „( )“ mystischer erscheinen, dürfte „Með suð í eyrum við spilum endalaust“ höher und hoffnungsvoller gen Himmel weisen. Jedoch bindet „Kveikur“ alles festgezurrt zusammen, was Sigur Rós im besten Sinne ausmachen mag: das Opulente, das Mystische, das Umarmende, das Zupackende – im direkten Infight mit kleinen, beherzten Nackenschlägen und fiesen dampfwalzengleichen Tritten in die Magengegend. Und zwar immer dann, wenn man drauf und dran sein möchte, der Band ihre eigene postrock’sche Spährigkeit zur Last zu legen. Und wem all das noch nicht reichen sollte, darf im sanften Piano-und-Streicher-Abschluss „Var“ gern noch ein paar Herzen beim Zerbrechen zuhören…

Mit „Kveikur“ melden sich Birgisson, Hólm und Dýrason zurück zu alten Stärken, kehren dem Dream-Pop-Ambiente des Vorgängers den Rücken und wenden sich den Shoegazing- und Post Rock-Stärken früherer Alben zu, kultivieren ihre Ausnahmestellung aus Islands liebste Sonderlinge und machen sich so wohl selbst das größte Geschenk. Und obwohl man erneut – anhand der Übersetzungen der Songtitel „Kveikur“ („Docht“), „Brennisteinn“ („Schwefel“), „Yfirborð“ („Oberfläche“), „Stomur“ (Sturm“) oder  „Bláþráður“ („dünner Faden“) – allenfalls erahnen kann, wovon dieses Männchen aus dem hohen Norden da tatsächlich singt, kann genau das einem genau das doch herzlich egal sein. „Kveikur“ ist wie eine Wanderung durch ebenso eisige wie majestätische Berglandschaften, nur um bei Nacht und Sternenhimmel im wohlig warmen Geysir zu baden. „Kveikur“ reißt Elfen heimtückisch die kleinen Flügelchen aus, schlägt Harpunenpfeile durch Trollherzen und hängt die Kadarver zum Ausbluten in die Sonne direkt vor der einsamen Blockhütte. „Kveikur“ ist wie ein Spaziergang durchs arschkalte Reykjavík, immer mit dem Wissen, dass der schönste Sonnentag des Jahres in den nächsten Minuten beginnt. „Kveikur“ ist Freude, Euphorie, Empathie, Pathos, Zartheit, Intensität und Melancholie – ein in sich verankertes Höllenspektakel, ein manisch schöner Tanz mit den Engeln. „Kveikur“ ist der Tanz zur Architektur vor den heiligen Hallen des Kopfkinos. Und ich? Habe versucht, Klischee Klischee bleiben zu lassen und über Musik zu schreiben… Dabei gilt bei „Kveikur“ mehr denn je: einfach zuhören!

tracklist

 

 

Für all jene, die’s auf ANEWFRIEND verpasst haben sollten, gibt’s hier noch einmal „Brennisteinn“ in Bild und Ton:

 

Und da Sigur Rós zwar eine durchaus virtuose Studioband sind, in jedem Fall jedoch auch ein hervorragendes Liveerlebnis, sei jedem hier der feine, 2011 erschienene Konzertfilm „Inni“ ans Herz gelegt, der im Paket einen 75-minütigen Auftritt im Londoner Alexandra Palace in Bild (der in Schwarz-weiß gehaltene Konzertfilm auf Blue-ray/DVD ) und Ton (eine CD liegt bei) enthält:

 

Rock and Roll.

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