Apathische Menschen, die nur noch auf ihre blinkenden Smartphone-Bildschirme starren und im konformen Gleichschritt dahintrotten. Gesichtslose Kultführer, die mit Virtual-Reality-Brillen vor dem Antlitz die gleichgeschaltete Realität ihrer Untertanen gestalten. Bildschirme, die wie Feuer in einer digitalen Steinzeit-Höhle leuchten. Kabelstränge, die am Boden wie Wucherungen einen Gebäudekomplex durchziehen – A Perfect Circle machen im Musikvideo zu „Disillusioned“ keinerlei Hehl daraus, dass sie im Heilsbringer Smartphone einen Gegenstand ausgemacht haben, der aus sozialen Wesen letztendlich digitale Zombies macht.
Nur eine Frau beschleicht beim Laufen durch die tristen Gänge ein ungutes Gefühl, sie öffnet eine Tür nach außen und entdeckt dort eine Gruppe von Menschen, die als Gemeinschaft ohne digitale Hilfsmittel beieinander sind – eine reale Welt, die vom Schwarz-Weiß des restlichen Clips plötzlich in Farbe umschlägt, als die Frauen ihre digitalen Kontaktlinsen herausnimmt. Mit den neuen Eindrücken kehrt sie zurück in den Smartphone-Tempel und will ihr Wissen weitergeben…
Für eine seit jeher ebenso kluge wie in den Zwischentönen kritische Band wie A Perfect Circle transportiert das Musikvideo zu „Disillusioned“ natürlich nur im ersten Moment eine überraschend eindeutige, direkt und ohne Vieldeutigkeiten präsentierte Botschaft (während der Text einmal mehr gewohnt kryptisch gerät). Das wundert einen allerdings kaum, wenn man außerdem weiß, wie wichtig Sänger Maynard James Keenan das Thema ist.
Mit der gekonnt zwischen rockiger Bedrohlichkeit und unheilvoller Sanftmut changierenden Teilzeit-Ballade „Disillusioned“ feierte im Januar bereits ein zweiter neuer Song das Veröffentlichungs-Comeback der US-Alternative-Rock-Band um Maynard James Keenan und Gitarrist sowie Hauptsongwriter Billy Howerdel nach mehrjähriger Abstinenz. Zusammen mit „The Doomed„, zu dem es ebenfalls ein Musikvideo gab, und „TalkTalk“ ist das Stück einer von bislang drei Vorabtracks des neuen A-Perfect-Circle-Albums „Eat The Elephant„, welches – endlich, endlich – am 20. April erscheinen wird.
„Dopamine On dopamine
We have been overrun by our animal desire Addicts of the immediate keep us obedient and unaware Feeding this mutation, this Pavlovian despair
We’ve become Disillusioned So we run Towards anything glimmering
Time to put the silicon obsession down Take a look around, find a way in the silence Lie supine away with your back to the ground Dis- and re-connect to the resonance now You were never an island Unique voice among the many in this choir Tuning into each other, lift all higher
Dopamine On dopamine
Willingly been re-wired by clever agents within Looping our reflections, our obsessions draw us in Fix and fixation, no sentience beyond
We’ve become disillusioned So we dive like crows towards anything glittering
Time to put the silicon obsession down Take a look around, find a way in the silence Lie supine away with your back to the ground Dis- and re-connect to the resonance now You were never an island
Unique voice among the many in this choir Tuning into each other, lift all higher…“
Würde man lediglich einen kurzen Blick auf die Veröffentlichungshistorie von A Perfect Circle werfen, man könnte fast glauben, deren Frontmann Maynard James Keenan habe mehr als eine Dekade auf der faulen Haut gelegen, schließlich hat das jüngste Album der Band, „Emotive„, bereits stolze 13 Jahre auf dem Buckel, und das letzte Werk mit eigenen Songs, „Thirteenth Step„, gar ein Jahr mehr („Emotive“ enthielt lediglich Coversongs). Das lange Warten auf neues Material machte freilich auch das eine neue Stück „By And Down“ nicht besser, welches 2013 auf der Werkschau „Three Sixty“ (nach nur drei Alben!) erschien…
Nein, ganz im Gegenteil: Keenan ist ein vielbeschäftigter Mann. Ob nun als passionierter Weinbauer und -produzent (Interessierte können diesen Weg mithilfe der Dokumentation „Blood Into Wine“ nachverfolgen), Buchautor (seine Autobiografie „A Perfect Union of Contrary Things“ erschien im Oktober 2016), glühender Kampfsport- und Lucha-Libre-Fan oder als Vorsteher seiner Drittband Puscifer, deren jüngstes Album „Money Shot“ es 2015 in ANEWFRIENDs Top 4 der „Alben des Jahres“ schaffte. Und auch bei seiner eigentlichen Hauptband Tool, deren letztes, 2006 erschienenes Werk „10,000 Days“ langsam aber sicher seinem Titel alle Ehre macht und Guns N’Roses‘ „Chinese Democracy“ längst die Krone des größten musikalischen Treppenwitzes abgenommen hat, wird in hoffentlich nahender Zukunft neue Musik folgen. Irgendwann? Irgendwann.
Fürs kommende Jahr jedoch legt Maynard James Keenan zunächst den Fokus auf A Perfect Circle. Denn scheinbar hat des der stets enigmatisch auftretende 53-jährige vielgeschäftige Musiker tatsächlich geschafft, gemeinsam mit Hauptsongwriter Billy Howerdel (Gitarre), Ex-Smashing-Pumpkin James Iha (Gitarre), Matt McJunkins (Bass) und Jeff Friedl (Schlagzeug) neue Songs aufzunehmen. Plus: Im kommenden Jahr wird die kalifornische Band gar auf ausgedehnte Tour gehen.
Einen ersten Vorgeschmack aufs für 2018 angekündigte neue Album liefern A Perfect Circle mit dem Song „The Doomed„, welches nun auch ein von Jeremy Danger und Travis Shinn gedrehtes Musikvideo spendiert bekommen hat. Gehalten in intensivem Scharz-Weiß-Kontrast blicken Sänger Maynard James Keenan (einmal mehr mit einer eindrucksvollen Perücke ausgestattet, dieses Mal mit Flechtzöpfen) und der Rest der Band fast völlig ausdrucks- und emotionslos in die Kamera, die wenigen Bewegungen geschehen wie in Zeitlupe. Ab und an wechselt der Hintergrund von Schwarz zu Weiß, zudem flackern manchmal einzelne Bildteile kurz wie bei einer Störung.
Der Effekt ist eindrucksvoll: Der ohnehin apokalyptische Song mit seinem Text um die dem Untergang geweihten Guten wirkt so noch abgründiger und bedrohlicher. Dass sich Keenan und seine Mitstreiter überhaupt im Clip zeigen, ist dabei erstaunlich genug: Bei dessen anderer Band Tool zeigen sich die Musiker nie in ihren Videos (und auch bei Puscifer taucht Keenan, wenn überhaupt, nur mit heftiger Maskerade auf).
Scheint also ganz so, als dürften sich alle Freunde von Maynard James Keenans Haupt-, Zweit- und Drittband auf vergleichsweise veröffentlichungsreiche Monate gefasst machen…
„Behold a new Christ Behold the same old horde Gather at the (altar)ing [ALTERING] New beginning, new word And the word was death And the word was without light The new beatitude: ‚Good luck, you’re on your own‘
Blessed are the fornicates May we bend down to be their whores Blessed are the rich May we labour, deliver them more Blessed are the envious Bless the slothful, the wrathful, the vain Blessed are the gluttonous May they feast us to famine and war
What of the pious, the pure of heart, the peaceful? What of the meek, the mourning, and the merciful? All doomed All doomed
Behold a new Christ Behold the same old horde Gather at the (altar)ing [ALTERING] New beginning, new word And the word was death And the word was without light The new beatitude: ‚Good luck…‘
What of the pious, the pure of heart, the peaceful? What of the meek, the mourning, and the merciful? What of the righteous? What of the charitable? What of the truthful, the dutiful, the decent?
Doomed are the poor Doomed are the peaceful Doomed are the meek Doomed are the merciful For the word is now death And the word is now without light The new beatitude: ‚Fuck the doomed, you’re on your own'“
Zum Anfang sei einfach einmal folgende Behauptung in den Raum gestellt: Maynard James Keenan ist ein dauerbeschäftigter Workaholic. Während die einen nun wohlmöglich panisch beginnen, diesen Namen zu googeln um so ihre vermeintliche Wissenslücke zu schließen (was wären wir nur ohne das Internet und seine kleinen Helfershelfer), schüttelt der grob kundige Rockhörer ungläubig den Kopf…
Und das ist an sich auch erst einmal kaum verwerflich. Denn das letzte akustische Lebenszeichen von Keenans Hauptband Tool liegt in Form des bislang letzten Albums „10,000 Days“ – Tourneen und vereinzelte Konzerte einmal außen vor – bereits satte sieben Jahre zurück. Und auch seine kaum weniger bekannte und erfolgreiche Zweitband A Perfect Circle lässt die Fans seit dem 2004 erschienenen (Beinahe-)Cover-only-Album „eMOTIVe“ auf ein neues Studiolebenszeichen warten. Was zur Hölle bringt den Schreiberling dieser Zeilen also zu seiner tollkühnen Behauptung? Viel wichtiger noch: Was zur Hölle hat Keenan seitdem gemacht?
Nun, der regelmäßige ANEWFRIEND-Leser wird sich an Maynard James Keenan wohl als den Typen erinnern, der es doch tatsächlich wagte, im staubigen Wüstenboden Arizonas Wein anzubauen (zu sehen in der noch immer tollen Dokumentation „Blood Into Wine„) – und damit auch noch Erfolg hatte. Und auch die Musik verlor der 49-Jährige keineswegs aus den Augen: Mit seinem „Musikprojekt“ Puscifer widmet er sich bereits seit 2007 in losen Abständen jenen mal rocklastig bombastischen (man höre deren Queen-Coverversion von „Bohemian Rhapsody„!), mal derbst verspulten elektronischen Grenzbereichen, für die in seinen anderen Bands eben nie ausreichend Platz schien. Ganz nebenbei bewies Keenan, ob nun während der Puscifer-Bühnenshows oder in den Covergestaltungen, sein Talent für schwarzhumorige Comedy und dafür, sich auch mal selbst auf die Schippe zu nehmen. Fraglos: Nicht alles an Puscifer gelang ebenso großartig wie die zurückliegenden Veröffentlichungen von Tool oder A Perfect Circle, jedoch merkte man dem Mann an, dass er seine selbstgeschaffene (künstlerische) Freiheit in vollen Zügen genoss. Und wo blieben dabei eben jene erwähnten Tool und A Perfect Circle? Die hock(t)en in den jeweiligen Proberäumen (respektive: Startlöchern) und schienen nur auf ein Zeichen ihres charismatischen Frontmanns zu warten. Schon irre: Da hat man je eine Auswahl von Ausnahmemusikern beisammen (Adam Jones, Danny Carey und Justin Chancellor auf der Tool-Seite, Billy Howerdel als Songwriter-Konstante bei A Perfect Circle), und trotzdem sind diese immer noch dermaßen auf ihre Frontstimme (Keenan) angewiesen, dass sie es nicht wagen, ohne ihn weiterzumachen. Dumm nur, dass für diese Stimme weder nervenaufreibende Aufnahmesessions noch Promoterin noch Endlostourneen in der Zukunftsplanung eine Rolle spiel(t)en. Winzertum, lose Veröffentlichung mit Puscifer – null Bock aufs musikalische Rattenrennen nach den Regeln der Plattenindustrie seitens Keenan…
Umso erstaunlicher ist es, dass sich nun – gefühlt – die Ereignisse zu überschlagen scheinen. So durfte man sich anhand der Meldungen, dass sich der Frontmann nun doch und tatsächlich bereit erklärt habe, einem neuen (!) Tool-Album (!) seine Stimme zu leihen, völlig zu recht ungläubig die Augen gerieben und ein Tränchen der Vorfreude beiseite gewischt haben. Und als dann auch noch A Perfect Circle eine neue Veröffentlichung ankündigten, war der ein oder andere kundige Alternative Rock-Gegustinato wohl völlig der Ohnmacht nahe… Obwohl: „neu“? Natürlich, dass opulente, „A Perfect Circle Live: Featuring Stone And Echo“ betitelte Box Set ließ bereits vermuten, dass es sich hier „lediglich“ um die freundliche Resteverwertung bereits bekannten Songmaterials handele. Und trotzdem war die Box, welche exklusiv über die bandeigene Homepage angeboten wurde, in Windeseile ausverkauft. Doch damit der Rest der Hörerschar nicht in die leere Tonröhre schaut, bietet die Band den Audioteil der Box – also exklusive der heiligenden Live-DVD – nun zumindest zum Download an…
Und der hat es in sich! Nicht weniger als vier (!) komplette Konzerte ihrer drei beziehungsweise zwei Jahre zurückliegenden „Comeback-Minitournee“ haben A Perfect Circle darauf archiviert. Zum einen wäre da das namensgebende „Stone and Echo: Live at Red Rocks„, aufgenommen im August 2011 im Red Rocks Amphitheatre in Morrison, Colorado, welches auf einer Stunde und vierzig Minuten Länge einen Zwanzig-Song-Querschnitt durch die (bislang) drei erschienenen A Perfect Circle-Studioalben bietet, dabei zwar den Fokus auf Coverversionen wie „Imagine“ (John Lennon), „What’s Going On“ (Marvin Gaye) oder „Gimmie Gimmie Gimmie“ (Black Flag) – und damit auf das letzte Album „eMOTIVe“ – legt, jedoch auch kaum einen der anderen starken Fanfavoriten auslässt. Ob nun „Weak And Powerless“, „Blue“, das tolle „The Noose“ oder „Orestes“ – am Ende steht eine runde Setlist, auf der zwar Überraschungen ausbleiben (das Fehlen des großartigen Dauerbrenners „Judith“ liegt wohl darin begründet, dass Keenans Mutter, die Inspirationsquelle des Stückes, kurz vorher verstarb), aber dennoch beinahe jeder Wunsch – mit dem Abschluss „By And Down“ sogar der nach einem neuen Song – erfüllt wird. Wichtiger noch: Das Konzert gerät zu keiner Minute zur bloßen Pflicht- und/oder Geldeintreibeveranstaltung. Man merkt Maynard James Keenan, dem ehemaligen Nine Inch Nails-Gitarrentechniker, Leadgitarristen und musikalischen Hauptsongwriter Billy Howerdel, Ex-Smashing Pumpkin James Iha an der zweiten Gitarre, Bassist Matt McJunkins und Alround-Schlagzeuger Josh Freese jederzeit an, dass sie tatsächlich Bock auf ein paar mehr gemeinsame Shows hatten. Die Musik strömt so druckvoll wie klar aus den Boxen, Howerdel gibt zwar auch auf der Bühne den mannschaftsdienlichen Gitarrenschattenboxer, gönnt sich jedoch – im Vergleich zu den Studioversionen – die ein oder andere gröbere Note sowie ein kleines eingestreutes Minisolo oder sporadische Variationen dann und wann. Und Keenan? Dessen Gesangsorgan steht eh über allem, packt die Töne an ihren Wurzeln, wirbelt sie ins Besucherrund und zieht alle in seinen Bann. Da verzichtet man nur all zu gern auf großartige Publikumsinteraktion…
Doch das Box Set bietet sogar noch mehr: Wer mit „Stone and Echo: Live at Red Rocks“ noch nicht ausreichend versorgt ist, der kann sich alle drei A Perfect Circle-Alben als komplette (!) Liveaufführungen, welche während einer ein Jahr zuvor (also: 2010) absolvierten Mini-Tournee mitgeschnitten wurden, aufs heimische Abspielgerät laden. Wie schon bei der „Stone And Echo“-Revue kommen auch „Mer de Noms – LIVE„, „Thirteenth Step – LIVE“ und „eMOTIVe – LIVE„, zusammengefasst unter dem mysteriösen „Trifecta“-Banner, in glänzendem Livegewand daher, bieten sogar mit dem David Bowie-Cover „Ashes To Ashes“ (auf „Mer de Noms – LIVE“), dem längst legendären Ozzy Osborne-/The Cure-Doppelcover „Diary Of A Madman“ sowie dem damals erstmals live präsentierten neuen Song „By And Down“ (beide auf „eMOTIVe – LIVE“) das ein oder andere interessante Fan-Gimmick.
Freilich sind zumindest die beiden ersten beiden A Perfect Circle-Alben, dreizehn („Mer de Noms„) beziehungsweise zehn Jahre („Thirteenth Step„) nach ihrem Erscheinen, noch immer über jeden Zweifel erhaben. Klar mögen Tool jederzeit versierter und größer zu Werke gegangen sein. Dennoch kann sich der kundige Alternative Rock-Freund ein Zungenschnalzen zur wohl auf ewig zeitgemäßen Mystik eben jener Alben kaum verkneifen, während auf „eMOTIVe“ A Perfect Circles Inspirationen offenbar wurden. Und obwohl man, wenn schon nicht geahnt, dann doch zumindest immer gehofft hatte, dass jene (einmaligen?) Comeback-Shows eines Tages ihre Veröffentlichung erfahren würden, so ist es doch umso toller, diese nun tatsächlich hören zu dürfen. Fans greifen also digital zu, und ziehen den gut dreistündigen Live-Rundumschlag damit der parallel erscheinenden Werkschau „Three Sixty“ vor, die Neulingen zwar einen recht guten Überblick über die lediglich drei veröffentlichten Alben bietet, Neues jedoch „nur“ in Form der – nichtsdestotrotz tollen – Studioversion des Songs „By And Down“ bereit hält (ohnehin erfüllte die Band damit lediglich ihren Plattenvertrag). Der Workaholic-Motor des erfolgreichen Hobby-Winzers und musikalischen Grenzgängers Maynard James Keenan, er läuft also tatsächlich auf Hochtouren. Hoffen wir, wenn schon nicht auf ein neues A Perfect Circle-Album, dann doch wenigstens auf ein neues Tool-Gesamtkunstwerk in baldigster Zukunft…
Hier gibt es den kompletten (!), 15 Songs straken Auftritt von A Perfect Circle beim diesjährigen Lollapalooza-Festival für Augen und Ohren…
…sowie das neue Stück „By And Down“, einmal als Liveversion, mitgeschnitten in diesem Jahr in Brasilien…