Wednesday – Rat Saw God (2023)
-erschienen bei Dead Oceans-
Manchmal sind es die scheinbar unbedeutendsten Momente, an die man sich ein Leben lang erinnert, mit allen mannigfaltigen dazugehörigen Emotionen und Gerüchen in der Nase. Karly Hartzman hat diesen Momenten ein Lied gewidmet. „Chosen To Deserve“ heißt der Song ihrer Band Wednesday, ganz ungeschliffen erzählt sie darin vom Sex auf SUV-Rücksitzen, von ordentlichen Mengen Schnaps, Krankenhausaufenthalten aufgrund von Tablettenüberdosen und Wildpinkeleinlagen. Solche Sachen halt, und wenn die Nacht am Pool des Nachbargrundstückes endet, geht Frau am nächsten Tag direkt zum Unterricht in die Sonntagsschule. Obendrein wird das Ganze umrahmt von einem Gitarrenriff, für das Tom Petty eigentlich noch einmal aus seinem zu früh eingelassenen Grab steigen müsste, um es Wednesday in Rechnung zu stellen.

Es geht auf „Rat Saw God„, dem neuen, fünften Album der Band aus Asheville, North Carolina, also um längst verstrichene Momente, die nicht im klassischen Sinne denkwürdig sind, von Wednesday aber denkwürdig verpackt werden. Vor allem durch die scheinbar überflüssigen Details wirkt die Platte so lebendig: Fanta ist in Hartzmans Texten nicht einfach gelb, sondern „pissefarben“, Menschen, die von Überdosen erzählen, tun das nicht irgendwo, sondern auf dem Parkplatz eines Fitnessstudios. „I want to remember anything“, sang die Musikerin auf dem vorherigen, 2021 erschienenen Wednesday-Langspieler „Twin Plagues“ (das 2022er Cover-Album „Mowing The Leaves Instead Of Piling ‚em Up“ einmal außen vor) – und scheint sich diesmal vielmehr um das „Everything“ kümmern zu wollen. Denn „Rat Saw God“ ist bis oben voll mit Zeilen, die sich wie verschwommene Erinnerungsschnipsel aus einer oft übersehenen Vorstadtjugend lesen, irgendwo zwischen Tristesse, Nostalgie und Trauma.
„I sat on the stairs with a never-ending nosebleed„, singt Hartzman in „Bull Believer“, einem zweigeteilten, insgesamt knapp neunminütigen Song, der als Herzstück des neuen Langspielers fungiert. Ihr Gegenüber aber? Daddelt weiter ungerührt „Mortal Kombat“. Es geht also darum, nicht wahrgenommen zu werden, und das ausgerechnet in einem Lied, dass sich breit macht wie ein US-amerikanischer Flugzeugträger. Eine Ansage ist „Bull Believer“ aber nicht nur wegen seiner Ausmaße, sondern wegen seines aggressiven Endes. „Finish him!“, schreit Hartzman da mehrfach, „mach ihn fertig!“, wahrscheinlich noch einmal mit Blick auf das Prügelspiel „Mortal Kombat“. Immer weiter steigert sich die Intensität ihrer Stimme, und als sie das höchstmögliche Level erreicht, geht der Song erst richtig los. Ja, so klingt Schmerz, der befreit.
Hilfe erhalten Karly Hartzman und ihre absolut alltäglichen Kurzgeschichten, in denen sie auch mal von ihrem Vater erzählt, der versehentlich ein Feld abgefackelt hat und einen Polizeieinsatz auslöste („Quarry“), oder die Chronik eines Roadtrips schildert („TV In The Gas Pump“), dabei von ihren vier Bandkollegen, die über die Jahre dazugestoßen sind und den Wednesday-Sound Stück für Stück weiter ausfüllen und bereichern. Anders als die prägendsten und oft auch beliebtesten Indie-Acts der letzten Jahre, bei denen es sich etwa um Solo-Künstlerinnen wie Phoebe Bridgers oder De-facto-Ein-Mann-Bands wie Tame Impala handelte, schöpfen Wednesday ihre emotionale Wucht nicht nur aus verträumter Melancholie, sondern aus, nun ja, musikalischer Wucht. Häufig explodieren ihre Songs so plötzlich, brachial und dissonant wie in den seligen Neunzigern (don’t call it Grunge!), wie die besten Pixies-Stücke, kombinieren Schrammliges mit schwerem Getrommel sowie Rückkopplungen von gefühlt jedem anderen Instrument – und enthalten statt konventioneller Zwischenparts etwas viel Besseres: sorgfältig konstruierten Lärm.

Hart ist diese Musik, aber eben nicht im Sinne von Moshpits, Headbanging und Pommesgabel-Handzeichen, sondern so, wie es hart sein kann, aus einer speckigen Matratze wieder hochzukommen, in der man ganz tief versunken ist. Nach Shoegaze klingen Wednesday dann, diesem hypnotisierenden Rockmusik-Genre, in dem gelangweilt aussehen eine bewusste Entscheidung ist und man hinter Wänden aus E-Gitarren keine einzelnen Noten mehr heraushören kann. Es dröhnt auf dem innerhalb einer Woche aufgenommenen „Rat Saw God“, und nicht immer weiß man genau, woher es kommt. Muss ja auch nicht, soll wahrscheinlich auch nicht.
Und dann ist doch wieder Platz für Schönheit, die beinahe ganz ohne Krach funktioniert. Der Song „Formula One“ schunkelt weg vom Shoegaze Richtung Americana und Alt.Country, einem Einfluss, der sich auch im verschwitzten Zusammenspiel der Band und der Alltäglichkeit von Hartzmans Texten spiegelt. „Rat Saw God“ geht angenehm unkonventionell mit dieser Prägung um, sie zeigt sich im mitunter jodeligen Twang der Sängerin. Auch Xandy Chelmis setzt seine Lap- und Pedal-Steel-Gitarren so radikal ein, dass ihr Klang eher an Alarmsirenen als an ländliche Heimeligkeit made in Nashville erinnert. Spielt der Musiker Soli, dann nicht zusammen, sondern gleichzeitig mit dem E-Gitarristen Jake Lenderman. Wichtiger Unterschied, fürwahr.
Apropos Jake Lenderman: Letztes Jahr veröffentlichte der eben erwähnte Gitarrist sein Solo-Durchbruchsalbum „Boat Songs“ unter dem Namen MJ Lenderman. Auch bei ihm klang eine Mischung aus Indieästhetik und Country Rock angenehm roh, im Vergleich zu Wednesday jedoch humorvoller und wärmer – nicht zuletzt, weil sich der Song „You Are Every Girl To Me“ an seine Band- und Lebenspartnerin Hartzman richtete. Während Lenderman also voller Leichtigkeit über „Jackass“ und dämlich aussehende Hüte sang, heißt es bei Hartzman und Wednesday schwermütiger: „Every daughter of God has a little bad luck sometimes“ – wir alle unter Gottes Sonne haben eben auch mal Pech. Traurige Erkenntnis, aber absolut wahr.
Rock and Roll.