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Das Album der Woche


Wednesday – Rat Saw God (2023)

-erschienen bei Dead Oceans-

Manchmal sind es die scheinbar unbedeutendsten Momente, an die man sich ein Leben lang erinnert, mit allen mannigfaltigen dazugehörigen Emotionen und Gerüchen in der Nase. Karly Hartzman hat diesen Momenten ein Lied gewidmet. „Chosen To Deserve“ heißt der Song ihrer Band Wednesday, ganz ungeschliffen erzählt sie darin vom Sex auf SUV-Rücksitzen, von ordentlichen Mengen Schnaps, Krankenhausaufenthalten aufgrund von Tablettenüberdosen und Wildpinkeleinlagen. Solche Sachen halt, und wenn die Nacht am Pool des Nachbargrundstückes endet, geht Frau am nächsten Tag direkt zum Unterricht in die Sonntagsschule. Obendrein wird das Ganze umrahmt von einem Gitarrenriff, für das Tom Petty eigentlich noch einmal aus seinem zu früh eingelassenen Grab steigen müsste, um es Wednesday in Rechnung zu stellen.

Fotos: Promo / Zachary Chick

Es geht auf „Rat Saw God„, dem neuen, fünften Album der Band aus Asheville, North Carolina, also um längst verstrichene Momente, die nicht im klassischen Sinne denkwürdig sind, von Wednesday aber denkwürdig verpackt werden. Vor allem durch die scheinbar überflüssigen Details wirkt die Platte so lebendig: Fanta ist in Hartzmans Texten nicht einfach gelb, sondern „pissefarben“, Menschen, die von Überdosen erzählen, tun das nicht irgendwo, sondern auf dem Parkplatz eines Fitnessstudios. „I want to remember anything“, sang die Musikerin auf dem vorherigen, 2021 erschienenen Wednesday-Langspieler „Twin Plagues“ (das 2022er Cover-Album „Mowing The Leaves Instead Of Piling ‚em Up“ einmal außen vor) – und scheint sich diesmal vielmehr um das „Everything“ kümmern zu wollen. Denn „Rat Saw God“ ist bis oben voll mit Zeilen, die sich wie verschwommene Erinnerungsschnipsel aus einer oft übersehenen Vorstadtjugend lesen, irgendwo zwischen Tristesse, Nostalgie und Trauma.

I sat on the stairs with a never-ending nosebleed„, singt Hartzman in „Bull Believer“, einem zweigeteilten, insgesamt knapp neunminütigen Song, der als Herzstück des neuen Langspielers fungiert. Ihr Gegenüber aber? Daddelt weiter ungerührt „Mortal Kombat“. Es geht also darum, nicht wahrgenommen zu werden, und das ausgerechnet in einem Lied, dass sich breit macht wie ein US-amerikanischer Flugzeugträger. Eine Ansage ist „Bull Believer“ aber nicht nur wegen seiner Ausmaße, sondern wegen seines aggressiven Endes. „Finish him!“, schreit Hartzman da mehrfach, „mach ihn fertig!“, wahrscheinlich noch einmal mit Blick auf das Prügelspiel „Mortal Kombat“. Immer weiter steigert sich die Intensität ihrer Stimme, und als sie das höchstmögliche Level erreicht, geht der Song erst richtig los. Ja, so klingt Schmerz, der befreit. 

Hilfe erhalten Karly Hartzman und ihre absolut alltäglichen Kurzgeschichten, in denen sie auch mal von ihrem Vater erzählt, der versehentlich ein Feld abgefackelt hat und einen Polizeieinsatz auslöste („Quarry“), oder die Chronik eines Roadtrips schildert („TV In The Gas Pump“), dabei von ihren vier Bandkollegen, die über die Jahre dazugestoßen sind und den Wednesday-Sound Stück für Stück weiter ausfüllen und bereichern. Anders als die prägendsten und oft auch beliebtesten Indie-Acts der letzten Jahre, bei denen es sich etwa um Solo-Künstlerinnen wie Phoebe Bridgers oder De-facto-Ein-Mann-Bands wie Tame Impala handelte, schöpfen Wednesday ihre emotionale Wucht nicht nur aus verträumter Melancholie, sondern aus, nun ja, musikalischer Wucht. Häufig explodieren ihre Songs so plötzlich, brachial und dissonant wie in den seligen Neunzigern (don’t call it Grunge!), wie die besten Pixies-Stücke, kombinieren Schrammliges mit schwerem Getrommel sowie Rückkopplungen von gefühlt jedem anderen Instrument – und enthalten statt konventioneller Zwischenparts etwas viel Besseres: sorgfältig konstruierten Lärm. 

Hart ist diese Musik, aber eben nicht im Sinne von Moshpits, Headbanging und Pommesgabel-Handzeichen, sondern so, wie es hart sein kann, aus einer speckigen Matratze wieder hochzukommen, in der man ganz tief versunken ist. Nach Shoegaze klingen Wednesday dann, diesem hypnotisierenden Rockmusik-Genre, in dem gelangweilt aussehen eine bewusste Entscheidung ist und man hinter Wänden aus E-Gitarren keine einzelnen Noten mehr heraushören kann. Es dröhnt auf dem innerhalb einer Woche aufgenommenen „Rat Saw God“, und nicht immer weiß man genau, woher es kommt. Muss ja auch nicht, soll wahrscheinlich auch nicht. 

Und dann ist doch wieder Platz für Schönheit, die beinahe ganz ohne Krach funktioniert. Der Song „Formula One“ schunkelt weg vom Shoegaze Richtung Americana und Alt.Country, einem Einfluss, der sich auch im verschwitzten Zusammenspiel der Band und der Alltäglichkeit von Hartzmans Texten spiegelt. „Rat Saw God“ geht angenehm unkonventionell mit dieser Prägung um, sie zeigt sich im mitunter jodeligen Twang der Sängerin. Auch Xandy Chelmis setzt seine Lap- und Pedal-Steel-Gitarren so radikal ein, dass ihr Klang eher an Alarmsirenen als an ländliche Heimeligkeit made in Nashville erinnert. Spielt der Musiker Soli, dann nicht zusammen, sondern gleichzeitig mit dem E-Gitarristen Jake Lenderman. Wichtiger Unterschied, fürwahr.

Apropos Jake Lenderman: Letztes Jahr veröffentlichte der eben erwähnte Gitarrist sein Solo-Durchbruchsalbum „Boat Songs“ unter dem Namen MJ Lenderman. Auch bei ihm klang eine Mischung aus Indieästhetik und Country Rock angenehm roh, im Vergleich zu Wednesday jedoch humorvoller und wärmer – nicht zuletzt, weil sich der Song „You Are Every Girl To Me“ an seine Band- und Lebenspartnerin Hartzman richtete. Während Lenderman also voller Leichtigkeit über „Jackass“ und dämlich aussehende Hüte sang, heißt es bei Hartzman und Wednesday schwermütiger: „Every daughter of God has a little bad luck sometimes“ – wir alle unter Gottes Sonne haben eben auch mal Pech. Traurige Erkenntnis, aber absolut wahr.

Rock and Roll.

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Song des Tages: Mipso – „Modern Love“


Mipso, anyone? Nope, die Band war auch mir bis kürzlich kein Begriff, und auch nicht, dass sie eine tatsächlich verdammt schöne Interpretation des David Bowie-Evergreens „Modern Love“ in petto haben.

Das Quartett stammt aus Chapel Hill, North Carolina und trällert von da aus seit nunmehr einer Dekade Songs, die irgendwo zwischen Bluegrass, Alt.Country, Americana und Indie Folk angesiedelt sind. Außerdem verstehen sich Wood Robinson, Libby Rodenbough, Jacob Sharp und Joseph Terrell anscheinend ausgezeichnet aufs Covern von Stücken anderer Bands sowie Künstler*innen – egal, ob selbige nun von Death Cab For Cutie, Robyn, Paul Simon oder eben David Bowie stammen. Aber zurück zu „Modern Love“. Während der „Thin White Duke“ dem 1983 erschienenen Original – passend zum dazugehörigen Album „Let’s Dance“ – eher eine Nachtclub-Atmosphäre zuwies, siedeln Mipso ihre Version vielmehr im loungigen-entspannten Coffeeshop an (also da, wo’s tatsächlich nach Röstaromen rieht und lediglich die Kaffeemaschinen dampfen). Feine Sache, feine reduzierte Coverversion – die nicht nur den Text in ein etwas anderes, fast schon melancholisches Licht rückt, sondern außerdem beweist, dass Bowie auch abseits von irgendwelchen Pandemie-Memes zeitlose Relevanz besitzt.

(Hier findet man bei Interesse übrigens weitere tolle Coverversionen von allseits bekannten David Bowie-Gassenhauern…)

Rock and Roll.

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Song des Tages: CVC – „Good Morning Vietnam“


Foto: Promo / Dan Hall

Klingt fast wie ein Witz, ist aber so: Ihren grandiosen US-Roots-Rock haben CVC in einem Kaff in Wales erdacht und eingespielt. Noch nicht eigentümlich genug? Dann wäre da nämlich noch etwas: David und Elliott, die beiden singenden Gitarristen der walisischen Newcomer-Band, heißen mit Nachnamen Bassey und Bradfield und sind tatsächlich mit Shirley „Goldfinger“ Bassey und James Dean Bradfield (Manic Street Preachers) verwandt, wenn auch nur entfernt. Da liegt doch glatt der Gag auf der Hand, Wales als eine Art britisches Saarland zu betrachten, in dem nicht nur jeder jeden zu kennen, sondern man auch miteinander verwandt zu sein scheint. Doch Schluss mit den Witzen, her mit der Anerkennung, denn anders als aus dem Saarland kommt aus Wales eine Vielzahl grandioser Bands und Künstler*innen – man denke nur an die Stereophonics, Feeder, Catatonia, The Joy Formidable, Funeral For A Friend oder die Super Furry Animals (nebst den bereits erwähnten Manic Street Preachers, freilich). Viele von ihnen eint dabei die Eigenart, sich musikalisch recht selten um das zu kümmern, was gerade in den musikalischen Metropolen des „großen“ Nachbarlandes, in London, Manchester oder Liverpool, so angesagt ist, sondern oftmals höchst eigene Wege zu gehen.

Und weil Traditionen manchmal über die Muttermilch weitergegeben werden, folgt das Sextett CVC, zu welchem noch Sänger Francesco Orsi, Bassist Ben Thorne, Schlagzeuger Tom Fry sowie Keyboarder Daniel `Nanial‘ Jones gehören, ebenjener. Die Abkürzung steht für „Church Village Collective“ – Sektenalarm ausgelöst? Mitnichten, dezente Entwarnung: Das Kirchendorf Church Village, etwa 15 Kilometer nord-westlich von Cardiff gelegen, ist lediglich die Heimat der Band, gut 5.000 Menschen leben hier, alles ist zu Fuß erreichbar, man hat seine Ruhe – manchmal sogar wohl mehr, als einem lieb sein mag. CVC machen aus dieser Abgeschiedenheit – ganz nach walisischer Tradition – das Beste. 2019 gründet sich die Band, seitdem bastelt sie an einem Sound, der wie aus der Zeit gefallen scheint. Wer nicht wüsste, dass CVC aus einem beschaulichen Kaff bei Cardiff stammen, würde wohl viel sauer Erspartes auf eine Herkunft aus den US of A verwetten. Das just erschienene „Get Real“ ist nach einer EP (aus dem vorherigen Jahr) das erste Album der Band, es klingt aber so reif, dass man kaum an ein Debüt glauben mag. Diese Verwunderung mag auch im recht zeitlosen Sound begründet liegen, denn beeinflusst sind CVC von Westcoast-Rock-Bands mit ihren sonnigen Harmonien aus dem Laurel Canyon, aber auch die Americana-Virtuosen von The Band oder mehrstimmiger Harmoniegesang der Marken Beatles, Beach Boys oder Neil Young haben hier deutliche Spuren hinterlassen. Dass die erste Single – ein stampfendes Soul-Rock-Stück mit minimalen Disco-Anleihen im Refrain – den Titel „Good Morning Vietnam“ trägt, fügt sich da nur wie ein weiteres Puzzleteil ins Bild ein. Auch der Song „Music Stuff“ verrät viel über den Ansatz dieser Band: „Get Real“ klingt nach einem Album, das die Musik ganz selbstverständlich zur wichtigsten Sache der Welt erklärt und dementsprechend ernst nimmt. Also lieber „Größer, besser, weiter!“ als britisches Understatement? Gut möglich, schließlich meinte die Band unlängst selbstbewusst, dass sie rasch große Arenen füllen will, auch vom Privatjet mit Bandlogo war die Rede. Klar, das ist 2022 (noch) augenzwinkernde Ironie. Andererseits ab und an gar nicht mal so schlecht, in dieser Zeit eine Band mit dem großspurigen Mindset à la Oasis vorzufinden, eine, die noch an das große Heilsversprechen einer Rockbandgründung glaubt – und alles dafür tut, dass diese vielleicht doch wahr werden. Warum auch nicht? Das erste Album der Kings Of Leon war vor knapp zwanzig Jahren schließlich eine ähnlich coole, nerdige und großartige Roots-Rock-Platte. Der Rest ist keinesfalls ein Witz, sondern Geschichte…

Rock and Roll.

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Auf dem Radar: Dreamtigers


Was Musik und Wein gemeinsam haben? Nun, sieht man von den üblichen, stets lediglich auf irgendwelche gottverdammten Trendzüge aufspringenden Eintagsfliegen im Musikbusiness und der leidigen Gut-und-günstig-Tetrapack-Plörre aus dem Ums-Eck-Discounter des Vertrauens einmal ab und beschäftigt sich wirklich intensiv damit, kommt man wohl unweigerlich zu dem Ergebnis: recht viel. Denn mancher Wein entfaltet erst nach langer Lagerung im edlen Barrique-Fass seinen einzigartigen Geschmack. Gutes Zeug will Weile haben. Und gemäß dieser Losung verhält es sich eben auch mit so manchem Langspieler…

Recht formidable Beispiele hierfür dürften die beiden Platten von Dreamtigers sein. Dream…who? Eben. Denn obwohl es der US-Indie-Rock-Band weder an Vitamin B noch an Szene-Kredibilität zu mangeln scheint, ist die Kombo, welche sich nach einem Buch des argentinischen Autoren Jorge Luis Borges benannt hat, hierzulande noch immer sträflichst unbekannt. Mag’s daran liegen, dass Dreamtigers bislang den großen Medienrummel gescheut haben wie der Teufel das Weihwasser? Dass sie selbst um ihre Alben keinerlei vernehmbares Getöse gemacht haben, dass nicht einmal zum bloßen Marketing aufgeblähtes Namedropping betrieben wurde? In jedem Fall: sympathisch, dass die Band aus Massachusetts vielmehr ihre Musik für sich sprechen lässt. Und umso überraschender, denn den Kern der Truppe dürfte manch eine(r) durchaus kennen, schließlich treten Jake Woodruff und Joe Longobardi sonst bei den US-Melodic-Hardcore-Krawallmachern von Defeater an Gitarre und Schlagzeug in Erscheinung. Dazu gesellen sich neben Andrew Gary, der dritten festen Konstante, noch Mitglieder von – zumindest für Szene-Kundige – kaum weniger bekannten Bands wie Caspian, Polar Bear Club oder Balmorhea. Und nun mal Mic Drop beim Namedropping.

Wer jedoch erwartet, dass sich Woodruff, Longobardi und Co. auch bei Dreamtigers in eine ähnlich krawallige Richtung wie bei den jeweiligen Hauptbands bewegen, der irrt. Denn das, was bei der Band – nach einigen EPs und Split-Singles seit 2009 – schließlich in den beiden Langspielern „Wishing Well“ (2014) und „Ellapsis“ (unlängst im Februar 2022 erschienen) kumulierte, tönt ebenso vielfältig wie einnehmend, manchmal auch leise und bedacht. Das Dreamtigers’sche Klangkonstrukt mag es eher nachdenklich als wütend, hinterfragt zaghaft und zweifelnd, untermalt tendenziell eher mit zarterer Instrumentierung denn mit Pauken und Trompeten zum Barrikadensturm anzusetzen oder die Tür durch die Mauer hindurch einzutreten. Protest – so man dies hier als einen solchen bezeichnen mag – muss eben nicht immer laut und ausufernd sein, er muss sich noch nicht einmal neu erfinden, denn genau genommen ist dieses „Singer/Songwriter-Ding“, ebenso wie die bestens bekannte „Indie-Rock-Schiene“, halt auch schon ein paar Tage alt. Doch keine Angst, muffig abgehangen und altbacken klingt hier mal eben gar nichts. Vielmehr bietet die Band vor allem auf „Wishing Well“ eine feine Melange aus bodenständigem Indie Rock, von fern winkender Americana und melancholischem Folk, welche obendrein mit Versätzen aus Post Rock und dem guten alten Neunzigerjahre-Emo-Rock, mit sakraler Orgel und schwelgerischen Streichern garniert wird – und als buntes Potpourri aus Atmosphäre, Emotionen und großer Kunst so wohlbekömmlich gerät, dass man nur allzu gern einen Nachschlag nimmt.

Dennoch werden die Alben, bei denen sich das von Will Yip (La Dispute, Pianos Become The Teeth, Title Fight) produzierte „Ellapsis“ noch etwas mehr in Richtung Full Band beziehungsweise Post Rock entwickelt, vor allem all jenen mehr Appetit machen, die sie nicht nur mal eben so nebenbei hören oder verzweifelt auf der Suche nach unmittelbar erkennbaren Instant-Hits sind, denn sie möchten mehrmals genossen werden, wollen mit all ihren großen kleinen Songs die Chance bekommen, sich in Ruhe in den Gehörgängen und Hörerherzen einzunisten. Wer nur besoffen werden mag, darf weiter zum Fünf-Liter-Tetrapack aus dem Discounter greifen, möge aber bitte auch die Finger von diesen Perlen lassen. Und während die Kunstbanausen am Folgetag wohlmöglich über übles Kopfweh klagen werden, summen Connaisseure hier leise mit, während sie sich in so großartige Songs wie „Empty Roads, Pt. 2“ oder „I See The Future“ immer tiefer, jedes Mal aufs Neue verlieben. Sie werden genießen, schweigen und all den Kretins ums Verrecken nicht verraten, was Balsam für ihre armen Seelen sein könnte…

Hier findet man „Wishing Well„…

…und „Ellapsis“ im Stream:

Rock and Roll.

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Song des Tages: Nullmillimeter – „Nö Du“


„Jede Band ist die Summe ihrer einzelnen Teile und sie baut sich in ihren eigenen Farben eine Welt…“

Misst man auf dem musikalischen Radar, so mögen Nullmillimeter zwar kaum den Startblock verlassen haben, „Newcomer“ im klassischen Sinn sind die fünf Musiker der in Hamburg und Berlin ansässigen Band jedoch keineswegs, schließlich traten selbe in der Vergangenheit bereits als Teile der Begleitbands von Gisbert zu Knyphausen, Kid Kopphausen oder Staring Girl in Erscheinung. Japp, Kenner der deutschen Indie-Musikszene schnalzen nun wohl beglückt wissend mit der Zunge…

„Nullmillimeter sind ein zur Musik gewordener Freundeskreis, in dessen Mitte ein gemeinsames Herz schlägt. Mit schildkrötigem Tempo – null Millimeter pro Sekunde – entwickelten sie in ihrem Proberaum-Kosmos jahrelang Songs, die eine Ehrlichkeit besitzen, die beinahe erschlägt.” (Berlin Underground Music)

Abseits von Konzerten und diesseits des Internets und der einschlägigen Streaming-Portale ließen Nullmillimeter bislang jedoch wenig von sich hören – das dürfte sich in Kürze ändern. Nachdem die Crowdfunding-Kampagne fürs Debütalbum erfolgreich über die Bühne ging, nahmen Frontfrau Naëma Faika, über die niemand Geringeres als Tom Liwa sich mit Zeilen wie „Naëmi leuchtet im Dunkeln und ihre Musik ist die vielleicht letzte Tankstelle vor der Autobahn“ bereits zu einer ungewöhnlich formulierten Lobeshymne hinreißen ließ, und ihre Mannen den Erstling auf, welcher nun fertig gemastert ist und im April unter dem feinen Titel „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“ beim Hamburger Indie-Label Fressmann erscheinen wird. Da dieses vor nunmehr zehn Jahren vom (übrigens kaum weniger formidablen und uneingeschränkt empfehlenswerten) Liedermacher Wolfgang Müller ins Leben gerufen wurde, hat selbiger im Zuge der Veröffentlichungsankündigung des Albums unlängst auch einen ausführlichen, verdammt lesenswerten Begleittext verfasst:

„Die Hamburger/Berliner Band Nullmillimeter um Frontfrau Naëma Faika veröffentlicht ihr Debütalbum ‚Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd‘. Das ist über eine Stunde lang und nichts für schwache Nerven. Wer sich also auf das hundertste Wohlfühl-Pop-Album einer ambitionierten Newcomer-Band mit szenigem Twenty-Something-Front-Girl gefreut hat, mit Hooklines zum Mitklatschen und Textzeilen tief wie ein Teller – bitte weitergehen, dann gibt es hier nichts zu sehen. Oder zu hören.

Denn diese zwölf Songs, kaum einer kürzer als fünf Minuten, sind nichts anderes als raues, Musik gewordenes Leben. Vermutlich hat sich zuletzt in den Siebzigern eine Band getraut, ihre Lieder so auszuformulieren wie Nullmillimeter das tun, und jeder einzelne Song hat seinen eigenen Charakter, seine eigene Geschichte, seine eigene Stimme, und will gehört werden. Denn nein, Naëmi ist nicht mehr zwanzig, und auch nicht mehr dreißig, obgleich das niemand glauben würde, der sie erlebt. Denn diese Geschichten, die die Wahl-Berlinerin hier auf die Bühne bringt, sind voll ungezähmter Energie und Rastlosigkeit, und die persönlichen Erfahrungen darin sind bis in die Fingerspitzen spürbar und bringen alles zum Beben. Doch der Weg hierhin war weit.

In der Indie-Szene ist Naëma Faika keine Unbekannte. Ob als Sprecherin und Background-Sängerin für Olli Schulz, als Begleitung von Tom Liwa oder Special Guest bei ‚TV Noir‘: Über die letzten Jahre tauchte ihr Name immer wieder auf, wie die Rückenflosse eines Tümmlers, der in der Tiefe auf der Suche nach etwas Namenlosen ist und darauf wartet, dass seine Zeit kommt. Und natürlich waren da immer: Songs. Aber wer sich jetzt dieses Album anhört wird verstehen, dass es Zeit brauchte, um diesen Geschichten eine Form zu geben, besonders dann, wenn man nebenbei noch zwei Kinder alleine groß zu ziehen hat. Viel Zeit, aber zum Glück war Naëmi nicht alleine. Lennart Wohlt am Schlagzeug kennt vermutlich noch kaum jemand, aber das dürfte sich bald ändern. Marcus Schneider, Gitarrist u.a. bei Tim Bendzko oder Jochen Distelmeyer ist dabei, genauso wie Gunnar Ennen und Frenzy Suhr aus der alten Gisbert zu Knyphausen Band. Die Bootsmannschaft sozusagen.

Denn auch wenn die Musik, diese irre Mischung aus Americana, New Wave, Blumfeld, Flowerpornoes und purem Wahnsinn, wie ein Wirbelsturm durch das Zimmer fegt, sobald man die Platte auflegt, sollte man sich nicht täuschen lassen, wer hier die Zügel in der Hand hat und alle Fäden zusammen hält: Es sind die Erzählungen und zarten, kleinen Geschichten, die diesen tosenden Sound vor sich her treiben wie ein Engel die Reiter der Apokalypse. Kleinigkeiten sind es, die hier stellvertretend für die großen Dramen die Richtung vorgeben, und das Innere erzittern lassen.

‚Hallo Liebe, halt die Fresse, stell dich in die Ecke und heul doch. Hallo Liebe, du beleidigter Hungerhaken, ich hab‘ dir deine Koffer zum Bahnhof getragen‘ heißt es in ‚Unstet‘, um einmal kurz klar zu machen, wer hier der Boss ist – und gleich darauf wieder weich zu werden und die Musik wie eine Liebende zu umschlingen: ‚Ich habe dir in mir eine Welt gebaut, wir sind uns ziemlich ähnlich, manchmal zu leise, und dann wieder viel zu laut‘ singt Naëmi in ‚Zwillingsschwester‘, und wenn man dann am Ende des Liedes versteht, dass dieser Zwilling vor langer Zeit nur wenige Stunden gelebt hat, haut es einem das Gemüt von oben nach unten durch wie von einer Axt gespalten. Es ist diese unfassbare Bandbreite und Tiefe, von radikaler Zärtlichkeit bis hin zu zerfließender Weichheit, kompromissloser Offenheit gepaart mit breitschultriger Verletzlichkeit, textlich wie musikalisch, die das Debütalbum von Nullmillimeter zu einem Meilenstein bei, nun ja, Kilometer Null macht. Das muss man erst mal hinbekommen. Zeit nehmen allerdings muss man sich, um diesen geheimen Garten zu durchwandern, der hier gerade zu blühen beginnt. Aber in diesem Licht darf man auch mal die Floskel aller Floskeln verwenden, einfach nur weil sie wahr ist:

Das Warten hat sich gelohnt.

Schön geschrieben, oder? War bei einem wie Wolfgang Müller, der in jedes musikalische Projekt – sei es sein eigenes oder eben von befreundeten Künstler*innen wie Bands – stets einhundertundzehn Prozent Herzblut steckt, aber auch nicht anders zu erwarten…

Bereits jetzt lassen Nullmillimeter mit „Nö Du“ einen ersten Song aus „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“ hören. Und spätestens beim dazugehörigen Musikvideo wird’s vor allem für mich kurz recht persönlich, denn die bewegten Bilder zum beinahe sechsminütigen Stück wurden ausgerechnet in meiner alten sächsischen Heimat Riesa aufgenommen. *hach* Kommt recht selten vor, dass ich ein Musikvideo schaue und dann noch nahezu jede Straße, jedes Haus, jede gefilmte Ecke (er)kenne wie meine Westentasche. Von dem Zehnerturm, von welchem die Band da springt, habe ich vor – gefühlt – ewig langer Zeit meine ersten Sprünge gewagt… In jener Konzerthalle, vor welchem sich Teile von Nullmillimeter da die Sonne ins Gesicht scheinen lassen, habe ich Ende der Neunziger meine ersten größeren Konzerte erleben dürfen… Sehr, sehr schön, wenn tolle neue Musik und sanfte Nostalgie zusammenfinden – macht mächtig Böcke auf das kommende Album! Spätestens jetzt befindet sich diese Band auf meinem Radar.

Rock and Roll.

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Song des Tages: The Delines – „Little Earl“


Gute Songwriter gibt es zuhauf, quasi wie den Sandstrand am weiten Meer. Die besten von ihnen schaffen es jedoch, eine ganze Kurzgeschichte innerhalb weniger Musikminuten zu verewigen und in Einklang mit den dazugehörigen Tönen ein wahres Roadmovie vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen. Der großer Bruce Springsteen etwa. Oder der ohnehin meisterliche Bob Dylan. Aimee Mann natürlich. Josh Ritter ebenso. Der seit Jahr und Tag sträflichst unter dem Radar des breiten Massengeschmacks musizierende Matthew Ryan. Neuerdings auch The Killers-Frontmann Brandon Flowers.

Oder Willy Vlautin. Eventuell dürfte der 55-Jährige vielen als Frontmann der US-Alternative-Rock-Band Richmond Fontaine ein Begriff sein. Diese lösten sich 2016 auf, nachdem ihnen in den immerhin zwanzig Jahren ihres Bestehens fortwährend der große Erfolg verwehrt blieb. Vlautin hatte sich da bereits zwei neue kreative Standbeine geschaffen. Einerseits hatte er bis dahin schon vier Romane veröffentlicht, in denen er das schriftstellerische Augenmerk auf die Loner und Loser, auf die von der Gesellschaft, Gott und Fortune Verlassenen richtete, andererseits bereits ein neues Band-Kollektiv am Start: The Delines. Für selbige rekrutierte er neben einigen ehemaligen Richmond Fontaine-Kollegen auch Sängerin Amy Boone, während Vlautin selbst sich nun fürs Gitarrenspielen und Texten verantwortlich zeichnete. Das 2014 erschiene Debütalbum „Colfax„, welches die neu formierte Band einspielte, nachdem sie gerade einmal eine Woche miteinander verbracht hatte, brachte der fünfköpfigen Truppe aus Portland, Oregon und ihrer Mischung aus Alt.Country, Americana und Soul einiges an Kritikerlob ein und bewies, dass Vlautins schreiberische Fähigkeiten nun noch mehr aufs musikalische Geschichtenerzählen abfärbten.

Noch besser wurde es auf dem 2019 erschienenen Nachfolger „The Imperial“ – obwohl es diesen beinahe nicht gegeben hätte. Drei Jahre zuvor hatte Amy Boone einen schlimmen Unfall, war über Wochen und Monate ans Krankenbett gefesselt, sodass Willy Vlautin mittlerweile ernsthafte Zweifel daran hegte, dass seine Frontstimme jemals wieder ans Mikro würde treten können. Doch Boone kämpfte sich ins Leben zurück – und klang auf den folgenden Stücken wohl auch deshalb kraft- und seelenvoller als je zuvor.

Böse Zungen mögen übrigens behaupten, dass es nicht schadet, für den Genuss der Songs von The Delines bereits das dreißigste, besser noch das vierzigste Lebensjahr vollendet zu haben (Don’t call it „Dad Rock“!), sprechen die Stücke doch vornehmlich all jene an, die auf die Wankelmütigkeit des Lebens nur noch mit einem routinierten Schulterzucken reagieren. Bestes Beispiel ist dieser „Charlie“ aus dem eröffnenden Stück von „The Imperial“: Die Frau ist weg, der Job bald auch, aber irgendein gutmütiger Freund wird sich finden, der ihm den nächsten Drink spendiert. In diesem Fall ist das Amy Boone, die, unterstützt von ihrer potenten Backing-Band, jenem „Charlie“ gleich noch ein paar nützliche Weisheiten in den biergetränkten Vollbart countryrockt. Dazu braucht es eine samtige Orgel und glitzerndes Fingerpicking auf der Vintage-Gitarre und ganz viel Balsam aus Boones Stimme. Wenn dann noch die gesamte Band zu einem leutseligen Chor anstimmt, scheint der gute, von allen verlassene „Charlie“ fürs Erste wohl gerettet.

Mit festem Blick und gewappneter Stimme berichtet Boone (beziehungsweise Vlautin, der ja die textliche Grundlage liefert) von den „ordinary people“, auch auf „The Imperial“ von ganz alltäglichen Zeitgenossen. Das vom Schicksal hart rangenommene Menschenkind „Holly The Hustle“ etwa weiß selbst nicht, was genau sie falsch macht. Dass sie bei einem angezählten Trunkenbold landet, scheint in der Erzählweise der Delines genauso tragisch wie unausweichlich. Im Titelsong wiederrum nimmt Boone die Rolle der erzwungenermaßen starken Frau ein, der Liebste sitzt im Knast, ausgestattet nur mit den Erinnerungen an diese magischen, gemeinsam verbrachten Nächte im namensgebenden Motel „The Imperial“. Die nüchternen Geschichten dieser Band sind das eine, was sie jedoch an anrührender Musik drumherum zaubern, scheint einfach unerhört. Besagter Titelsong schwebt erst arglos dahin, doch dann schält sich ein Über-Refrain in Technicolor heraus, der einen unumwunden ins Mark trifft. Selten wurde man derart durchgeschüttelt und gleichzeitig sanft gestreichelt. Oder wie sich in „Where Are You Sonny“ zunächst die sinistre Orgel voran tastet, im bluesigen Interieur dann jedoch Platz für herrschaftliche Bläser freigeräumt wird… Ein ganz zarter Erweckungsmoment, bei dem man nie genau weiß, ob es sich nun um einen Triumph oder einen finalen Abgesang handelt.

Schaut man sich Bilder dieser Band an, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass hier das Leben ebenfalls bereits deutliche Spuren hinterlassen hat: Falten rahmen die wachen Augen, im männlichen Haupthaar dominiert – so denn noch vorhanden – sattes Grau. Dies scheint den Delines jedoch genau die Autorität zu verleihen, über die Eitelkeit in einer knospenden Teenagerliebe wie in „Eddie & Polly“ zu berichten. Die leidenschaftlichen Irrfahrten dieser Jungspunde werden mit Gelassenheit, jedoch ebenso viel Mitgefühl aufgezeichnet, ohne Hast, aber mit Herz. Überhaupt: das Herz. Was „The Imperial“ vor gut zwei Jahren einmal mehr zu einem allzeit wundervollen Begleiter machte, ist der Mut der Delines, ihr ganzen Vertrauen auf die Wirkmacht dieser Alltagsgeschichten und wundervollen Melodien zu legen. Man muss nicht zwanghaft modische Brüche oder Kanten einbauen, wenn das Erzählerische sowie das Grundgerüst mit seinem Schönklang so weit tragen. The Delines liefern in aller Abgeklärtheit Geschichten aus der Mitte, ohne diese Mitte betonen zu müssen. You may call it Folk Rock, Alt.Country or Americana, may even call it Dad Rock – in jedem Fall besitzen die Stücke ein unerschütterliches Fundament und geraten in ihren besten Momenten unheimlich anrührend. Es braucht keine kompositorischen Tricks – eine Band erzählt ihre Geschichten und spielt ihre Lieder, ganz einfach.

Und es muss schon mit dem Teufel zugehen, sollte das sich auf dem dritten, im Februar erscheinenden Album „The Sea Drift“ ändern. Nach „Past The Shadows“ haben The Delines mit „Little Earl“ bereits einen zweiten Vorboten daraus hören lassen. Und der wirft alle Zuhörer in medias res für gut vier Minuten hinein ein eine neue Roadmovie-Kopfkino-Kurzgeschichte zweier Brüder auf der Flucht. Little Earl sitzt am Steuer des Autos ihres Onkels auf einem Kissen, damit er die Straße sehen kann, auf dem Sitz neben ihm Bier und Pizza, auf dem Rücksitz der Bruder, weinend, blutend. Ohne Klimaanlage macht die Hitze den beiden schwer zu schaffen, kein Krankenhaus weit und breit, es wird bereits dunkel. Was passiert ist kann man ebenso erahnen wie all jene, die ihnen bereits auf den Fersen zu sein scheinen… The Delines befinden sich in dem neuen Stück einmal mehr ganz in ihrem cinematografischen Element, Amy Boone besingt die aussichtslose Lage ohne Pathos, und obwohl das Ende offen bleibt, ist an ein Happy End bei bestem Willen nicht zu denken.

“’Little Earl‘ war einer der ersten Songs, die ich zu den Proben für das neue Album mitbrachte, und wie sich herausstellte, derjenige, der dazu beitrug, den Sound und das Gefühl des gesamten Albums zu schaffen. Es ist ein von Soul und Tony Joe White inspirierter Groove, und Cory Grays Bläser- und Streicherarrangements geben den filmischen Ton für zwei Brüder vor, die in einem Mini-Mart außerhalb von Port Arthur, Texas, in einen missglückten Ladendiebstahl verwickelt werden. Ich liebe Songs, die einen einfach mitten in eine Szene versetzen, und genau das haben wir hier versucht zu erreichen.” (Willy Vlautin)

„Little Earl is driving down the Gulf Coast
Sitting on a pillow so he can see the road
Next to him is a twelve pack of beer 
Three frozen pizzas and two lighters as souvenirs

Little Earl’s brother is bleeding in the backseat 
It’s been twenty miles and he can’t stop crying
Passing the houses on stilts on Holly Beach 
The AC don’t work and Earl’s sick in the Gulf Coast heat

Little Earl’s uncle is gonna go through the roof
But he’s working out of town until the end of June
They ain’t supposed to use his car  
Or do anything that lets people know he’s gone

Little Earl don’t know what to do
He’s looking for a hospital even though his brother don’t want him to
He’s starting to panic he’s too scared to stop
He’s never driven at night and he keeps getting lost“

Rock and Roll.

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