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Song des Tages: Noah Cyrus & Benjamin Gibbard – „Every Beginning Ends“


Noah Cyrus und Benjamin Gibbard – das ist durchaus eine Paarung, welche man – selbst mit weniger Fantasie – so nicht unbedingt erwartet haben dürfte. Und dennoch haben sich Miley Cyrus‘ jüngere Schwester (von der bereits 2019 auf ANEWFRIEND die Schreibe war) und der Death Cab For Cutie-Frontmann für einen gemeinsamen Song zusammengetan.

„Every Beginning Ends“, die neueste Single aus Noah Cyrus‘ im September erscheinendem Debütalbum „The Hardest Part“ (das interessanterweise am selben Tag wie „Asphalt Meadows„, das neue Album von Death Cab For Cutie, veröffentlicht wird), wurde in Gibbards Studio in Seattle aufgenommen und ist eine reduziert-sanfte, mit Pedal Steel unterlegte Akustikballade, die das jähe Ende einer romantischen Beziehung dokumentiert. “You have to wake up every morning and choose to love someone“, singen Cyrus und Gibbard im Duett, nur um daraufhin gleich die bittere Kehrseite dieses löblichen Mottos zu liefern: „But I’m finding that harder the more that I’m falling out of love with you“. Heraus kommt ein zu Herzen gehender Call-and-Response-Tearjerker, der ebenso an diverse Alt.Country-Troubadoure denken lässt wie an den DCfC-Evergreen „I Will Follow You Into The Dark„.

Gegenüber dem „Rolling Stone“ lässt Noah Cyrus wissen, dass die Zusammenarbeit mit Gibbard (der mit 24 Jahren Altersunterschied glatt ihr Vater sein könnte) recht organisch verlief: „Das war so eine surreale Erfahrung! Ich war schon immer ein großer Fan von ihm, also war es im ersten Moment recht erfurchteinflößend, mit ihm in einem Raum zu sein. Aber als wir dann mit der Arbeit anfingen, fand sich alles ganz natürlich zusammen. Wir sprachen über vergangene Beziehungen, gescheiterte Beziehungen, die Beziehungen unserer Eltern und über Beziehungen, die ewig gehalten haben. Er erzählte mir, dass sein Vater ein Sprichwort hat: ‚Du musst jeden Tag aufwachen und dich dafür entscheiden, jemanden zu lieben‘, und das war der Auslöser für diesen Song über das nahende Ende einer Beziehung und den Widerwillen, zuzugeben, dass etwas seinen Lauf genommen hat. Ich kann das in vielerlei Hinsicht nachvollziehen, nicht nur bei mir, sondern auch in Hinblick auf die Beziehung meiner Eltern. Das Schreiben darüber hat mir mehr Verständnis gebracht.“

In seinem eigenen Kommentar gegenüber dem „Rolling Stone“ ist auch Benjamin Gibbard voll des Lobes und verglich die 22-jährige Cyrus etwa mit seiner Freundin und Musiker-Kollegin Jenny Lewis: „Ich bin immer wieder darauf zurückgekommen und habe mich einfach in ihrem Talent gesonnt. Es ist leicht, geheimnisvoll zu sein. Es ist leicht, unnahbar zu sein. Es ist leicht, cool zu sein. Doch es ist so viel schwieriger, ernsthaft zu sein, und sie [Noah Cyrus] gibt in vielen ihrer Songs einiges von sich Preis.“

„You went to sleep without saying you love me
I guess I thought you already knew
You′ve been so cold and far from me, darling
Someone’s at fault but I′m not blaming you

I can’t remember the last time you touched me
I can’t recall you making the move
Doesn′t seem all that long ago, darling
We′d go a whole weekend and not leave our room

You have to wake up every morning
And choose to love someone
But I’m finding that harder the more that I′m falling out of love with you

You used to kiss me without a reason
No one’s made me laugh like you do
We had some good times, didn′t we, honey?
But now, every beginning has ended with you

You have to wake up every morning
And choose to love someone
But I’m finding that harder the more that I′m falling out of love with you

That I’m falling out of love with you“

Rock and Roll.

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Das Album der Woche


Lars Bygdén – One Last Time For Love (2022)

-erschienen bei Massproduktion/Cargo-

Der Schwede Lars Bygdén steckte mitten im Entstehungsprozess eines Albums, als sich der Gesundheitszustand seiner Ehefrau verschlechterte. Die Diagnose: Krebs. Die Aussichten: finster. Während sie gemeinsam die Situation irgendwie zu meistern versuchten, ging es mühevoll weiter mit „Dark Companion„, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahr 2018 schließlich eine unwiderrufliche Botschaft musikalisch verarbeitete: Seine Frau war tot, verstorben am 11. November 2017. Bygdén und die Kinder mussten fortan alleine, ohne die Ehefrau und Mutter, durchs Leben gehen. Über drei schwierige Jahre später legt der Singer/Songwriter nach: „One Last Time For Love“ gerät zum Rückblick, zur in wunderschöne Folk-Noir-Songs gekleideten Trauerbewältigung und zum zaghaften Ertasten neuer Wege – und das auf nicht selten schmerzhaft-schöne Weise.

Bygdén, 1973 in Sundsvall geboren, mag zwar hierzulande etwas weniger bekannt sein als Landmänner wie Kristofer Åström oder Christian Kjellvander, gilt in seiner schwedischen Heimat jedoch als einer der Vorreiter des Alternative Country. Mit seiner Mitte der Neunzigerjahre gegründeten Band The Thousand Dollar Playboys und zwei veröffentlichten Alben sorgte Lars Bygdén für einen Aufschwung dieses Genres im Land der Tre Kronor. Nach deren Ende wagte der Musiker den Alleingang und veröffentlichte 2005 mit „Trading Songs For Happiness“ sein Solo-Debüt, das mit dem Song „This Road“ nicht nur ein feines Duett mit der norwegischen Folk-Sirene And Brun enthielt, sondern auch mit dem Manifest Award für das „beste Singer/Songwriter-Album“ sowie mit Platin ausgezeichnet wurde.

Drei Jahre nach dem bislang letzten Album „Dark Companion“ öffnet der musizierende Witwer und Familienvater nun erneut den Vorhang zu seinem Seelenleben. Der Opener „A Bird And A Star“ beginnt als Gospel-Abschieds-Klage-Chor und geht in einer zarten und berührenden Indie-Folk-Noir-Ballade auf. Piano, Streicher, dezente Bandbegleitung – wer recht nah am Wasser gebaut ist, läuft hier bereits Gefahr, viele Tränen zu vergießen. Und sollte sich noch einige für den Rest des Albums aufheben. Zwar deuten Zeilen wie „There’s a light at the end of the corridor“ zaghaft Hoffnung an, doch ist die Lücke, die sich vor ihm auftut, noch immer übergroß. Auch in „Born Again“ rückt sein persönliches Empfinden der Situation in den Mittelpunkt: „My life never ends / I am born, born again“. Eine kraftvolle Feststellung, die in höchster Intensität vorgetragen wird. In „Forward“ blickt er sehnsuchtsvoll zum Himmel hinauf. „The sky is all clear / Wait for me there“, singt er da, „You are the moon / Oh, look at that moon“, um zu erkennen: „We are all alone again“. Kaum hat man sich jedoch auf die besinnliche Tonlage eingelassen, reißt das Zwischenstück „Back“ alles ruppig ein. Und Bygdén bespielt nun eine vielfältige Klaviatur seines Könnens. Fast beschwingt kommt das herausragende „Into The Light“ daher. „When it’s all over / And the future has begun / Our lives go on so quietly / In the shadow of the moon“ – diese Zeilen hinterlassen bei allem musikalischen Schwung aber auch einen mächtigen Kloß im Hals, der eine ganz ähnliche Tiefenwirkung entfalten mag wie jener, dem ein Nick Cave allen geneigten Hörern mit mächtig ins Gemütskontor schlagenden Alben wie „Skeleton Tree“ oder „Ghosteen“ (die beide den tragischen Unfalltod seines Sohnes verhandelten) vor nicht allzu langer Zeit verpasste.

„Das Album macht da weiter, wo mein vorheriges Werk ‚Dark Companion‘ endete: nach der Beerdigung meiner Frau. Wenn Verwandte und Freunde endlich wieder in ihr normales Leben zurückgekehrt sind, nachdem sie ihre Kräfte auf mich und die Trauer meiner Kinder konzentriert hatten. Wenn man alleine auf dem Sofa sitzt und versucht zu verstehen, was passiert ist. In den Songs geht es um Trauer und unendlichen Verlust, aber auch um die Befreiung, die der Tod bedeuten kann, sowohl für den Erkrankten als auch für die Hinterbliebenen. Es geht darum, dass wir die Dunkelheit brauchen, um das Licht sehen zu können und umgekehrt. Für mich geht es auch um die apokalyptischen Zeiten, in denen wir leben, und um den letzten Krieg, der kommen wird oder vielleicht schon da ist.“ (Lars Bygdén)

Immer wieder sind in den Texten Spuren der Erinnerung, Momente der Trauer, Einblicke in Bygdéns Seelenlage zu finden. „One Last Time For Love“, das Titelstück, unterstreicht seine Ratlosigkeit über das Schicksal, das ihm das Erlebte so unbarmherzig-kalt vor die Füße geworfen hat: „Maybe the beauty / Lies in the pain / Just keep moving / There is no plan“. Und dann sind da ja noch die Kinder, denen er in „Under The Bean Tree“ eine musikalische Brücke zur Mutter baut. „Your little son is the sweetest one / He looks just like you“ und „Your little girl, the kindest in the world / Through her your heart remains“: So betrachtet er durch die Augen des liebenden Vaters seinen Nachwuchs in einem wunderbaren Song, stilvoll von Emma Ahlberg-Ek auf der Violine begleitet. „Fall Into The Night“ liefert dann kurz vor Schluss noch einmal intensive Gänsehautmomente. Und wer wissen möchte, wie man sanfte Grandezza perfekt inszeniert, sollte sich „Amnezia“ zu Gemüte führen, den Abschluss eines sowohl im Coverbild als auch in den darin steckenden Tönen wahrlich somnambulen Albums, welches alle Zeit und Konzentration der Welt verdient hat.

Mit „One Last Time For Love“ hat Lars Bygdén seiner verstorbenen Ehefrau Ulrika ein weiteres musikalisches Denkmal gesetzt, welches dem düsteren Vorgänger dieses Mal etwas mehr vorsichtigen Optimismus sowie Glanz und Wärme entgegen stellt. Er hat all seinen Schmerz, all seine Trauer, all seine Emotionen in neun zu Herzen gehende Stücke von erhabener Schönheit gegossen und die Zuhörerschaft mit einem ungemein intensiven Album beschenkt, das nicht nur in der Tradition eines Nick Cave, sondern auch in der von Scandinavian Cowboys wie Christian Kjellvander (dem er auch stimmlich recht nahe steht), Kristofer Åström, Kristian Harting, Jonas Carping oder Madrugada steht. Ein wahrhaft großer Sänger und noch größerer Songschreiber, der uns auf ganz besondere Weise an seinem Schicksal teilhaben lässt und dabei doch immer wieder Spuren der Hoffnung auslegt, denen zu folgen ihm gewiss alles andere als leicht fällt. Wünschen wir ihm und seinen Kindern also alle denkbare Kraft, um das Leben auch weiterhin zu meistern – und uns noch möglichst viel Musik wie diese aus seiner Feder.

Rock and Roll.

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Song des Tages: The Delines – „Little Earl“


Gute Songwriter gibt es zuhauf, quasi wie den Sandstrand am weiten Meer. Die besten von ihnen schaffen es jedoch, eine ganze Kurzgeschichte innerhalb weniger Musikminuten zu verewigen und in Einklang mit den dazugehörigen Tönen ein wahres Roadmovie vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen. Der großer Bruce Springsteen etwa. Oder der ohnehin meisterliche Bob Dylan. Aimee Mann natürlich. Josh Ritter ebenso. Der seit Jahr und Tag sträflichst unter dem Radar des breiten Massengeschmacks musizierende Matthew Ryan. Neuerdings auch The Killers-Frontmann Brandon Flowers.

Oder Willy Vlautin. Eventuell dürfte der 55-Jährige vielen als Frontmann der US-Alternative-Rock-Band Richmond Fontaine ein Begriff sein. Diese lösten sich 2016 auf, nachdem ihnen in den immerhin zwanzig Jahren ihres Bestehens fortwährend der große Erfolg verwehrt blieb. Vlautin hatte sich da bereits zwei neue kreative Standbeine geschaffen. Einerseits hatte er bis dahin schon vier Romane veröffentlicht, in denen er das schriftstellerische Augenmerk auf die Loner und Loser, auf die von der Gesellschaft, Gott und Fortune Verlassenen richtete, andererseits bereits ein neues Band-Kollektiv am Start: The Delines. Für selbige rekrutierte er neben einigen ehemaligen Richmond Fontaine-Kollegen auch Sängerin Amy Boone, während Vlautin selbst sich nun fürs Gitarrenspielen und Texten verantwortlich zeichnete. Das 2014 erschiene Debütalbum „Colfax„, welches die neu formierte Band einspielte, nachdem sie gerade einmal eine Woche miteinander verbracht hatte, brachte der fünfköpfigen Truppe aus Portland, Oregon und ihrer Mischung aus Alt.Country, Americana und Soul einiges an Kritikerlob ein und bewies, dass Vlautins schreiberische Fähigkeiten nun noch mehr aufs musikalische Geschichtenerzählen abfärbten.

Noch besser wurde es auf dem 2019 erschienenen Nachfolger „The Imperial“ – obwohl es diesen beinahe nicht gegeben hätte. Drei Jahre zuvor hatte Amy Boone einen schlimmen Unfall, war über Wochen und Monate ans Krankenbett gefesselt, sodass Willy Vlautin mittlerweile ernsthafte Zweifel daran hegte, dass seine Frontstimme jemals wieder ans Mikro würde treten können. Doch Boone kämpfte sich ins Leben zurück – und klang auf den folgenden Stücken wohl auch deshalb kraft- und seelenvoller als je zuvor.

Böse Zungen mögen übrigens behaupten, dass es nicht schadet, für den Genuss der Songs von The Delines bereits das dreißigste, besser noch das vierzigste Lebensjahr vollendet zu haben (Don’t call it „Dad Rock“!), sprechen die Stücke doch vornehmlich all jene an, die auf die Wankelmütigkeit des Lebens nur noch mit einem routinierten Schulterzucken reagieren. Bestes Beispiel ist dieser „Charlie“ aus dem eröffnenden Stück von „The Imperial“: Die Frau ist weg, der Job bald auch, aber irgendein gutmütiger Freund wird sich finden, der ihm den nächsten Drink spendiert. In diesem Fall ist das Amy Boone, die, unterstützt von ihrer potenten Backing-Band, jenem „Charlie“ gleich noch ein paar nützliche Weisheiten in den biergetränkten Vollbart countryrockt. Dazu braucht es eine samtige Orgel und glitzerndes Fingerpicking auf der Vintage-Gitarre und ganz viel Balsam aus Boones Stimme. Wenn dann noch die gesamte Band zu einem leutseligen Chor anstimmt, scheint der gute, von allen verlassene „Charlie“ fürs Erste wohl gerettet.

Mit festem Blick und gewappneter Stimme berichtet Boone (beziehungsweise Vlautin, der ja die textliche Grundlage liefert) von den „ordinary people“, auch auf „The Imperial“ von ganz alltäglichen Zeitgenossen. Das vom Schicksal hart rangenommene Menschenkind „Holly The Hustle“ etwa weiß selbst nicht, was genau sie falsch macht. Dass sie bei einem angezählten Trunkenbold landet, scheint in der Erzählweise der Delines genauso tragisch wie unausweichlich. Im Titelsong wiederrum nimmt Boone die Rolle der erzwungenermaßen starken Frau ein, der Liebste sitzt im Knast, ausgestattet nur mit den Erinnerungen an diese magischen, gemeinsam verbrachten Nächte im namensgebenden Motel „The Imperial“. Die nüchternen Geschichten dieser Band sind das eine, was sie jedoch an anrührender Musik drumherum zaubern, scheint einfach unerhört. Besagter Titelsong schwebt erst arglos dahin, doch dann schält sich ein Über-Refrain in Technicolor heraus, der einen unumwunden ins Mark trifft. Selten wurde man derart durchgeschüttelt und gleichzeitig sanft gestreichelt. Oder wie sich in „Where Are You Sonny“ zunächst die sinistre Orgel voran tastet, im bluesigen Interieur dann jedoch Platz für herrschaftliche Bläser freigeräumt wird… Ein ganz zarter Erweckungsmoment, bei dem man nie genau weiß, ob es sich nun um einen Triumph oder einen finalen Abgesang handelt.

Schaut man sich Bilder dieser Band an, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass hier das Leben ebenfalls bereits deutliche Spuren hinterlassen hat: Falten rahmen die wachen Augen, im männlichen Haupthaar dominiert – so denn noch vorhanden – sattes Grau. Dies scheint den Delines jedoch genau die Autorität zu verleihen, über die Eitelkeit in einer knospenden Teenagerliebe wie in „Eddie & Polly“ zu berichten. Die leidenschaftlichen Irrfahrten dieser Jungspunde werden mit Gelassenheit, jedoch ebenso viel Mitgefühl aufgezeichnet, ohne Hast, aber mit Herz. Überhaupt: das Herz. Was „The Imperial“ vor gut zwei Jahren einmal mehr zu einem allzeit wundervollen Begleiter machte, ist der Mut der Delines, ihr ganzen Vertrauen auf die Wirkmacht dieser Alltagsgeschichten und wundervollen Melodien zu legen. Man muss nicht zwanghaft modische Brüche oder Kanten einbauen, wenn das Erzählerische sowie das Grundgerüst mit seinem Schönklang so weit tragen. The Delines liefern in aller Abgeklärtheit Geschichten aus der Mitte, ohne diese Mitte betonen zu müssen. You may call it Folk Rock, Alt.Country or Americana, may even call it Dad Rock – in jedem Fall besitzen die Stücke ein unerschütterliches Fundament und geraten in ihren besten Momenten unheimlich anrührend. Es braucht keine kompositorischen Tricks – eine Band erzählt ihre Geschichten und spielt ihre Lieder, ganz einfach.

Und es muss schon mit dem Teufel zugehen, sollte das sich auf dem dritten, im Februar erscheinenden Album „The Sea Drift“ ändern. Nach „Past The Shadows“ haben The Delines mit „Little Earl“ bereits einen zweiten Vorboten daraus hören lassen. Und der wirft alle Zuhörer in medias res für gut vier Minuten hinein ein eine neue Roadmovie-Kopfkino-Kurzgeschichte zweier Brüder auf der Flucht. Little Earl sitzt am Steuer des Autos ihres Onkels auf einem Kissen, damit er die Straße sehen kann, auf dem Sitz neben ihm Bier und Pizza, auf dem Rücksitz der Bruder, weinend, blutend. Ohne Klimaanlage macht die Hitze den beiden schwer zu schaffen, kein Krankenhaus weit und breit, es wird bereits dunkel. Was passiert ist kann man ebenso erahnen wie all jene, die ihnen bereits auf den Fersen zu sein scheinen… The Delines befinden sich in dem neuen Stück einmal mehr ganz in ihrem cinematografischen Element, Amy Boone besingt die aussichtslose Lage ohne Pathos, und obwohl das Ende offen bleibt, ist an ein Happy End bei bestem Willen nicht zu denken.

“’Little Earl‘ war einer der ersten Songs, die ich zu den Proben für das neue Album mitbrachte, und wie sich herausstellte, derjenige, der dazu beitrug, den Sound und das Gefühl des gesamten Albums zu schaffen. Es ist ein von Soul und Tony Joe White inspirierter Groove, und Cory Grays Bläser- und Streicherarrangements geben den filmischen Ton für zwei Brüder vor, die in einem Mini-Mart außerhalb von Port Arthur, Texas, in einen missglückten Ladendiebstahl verwickelt werden. Ich liebe Songs, die einen einfach mitten in eine Szene versetzen, und genau das haben wir hier versucht zu erreichen.” (Willy Vlautin)

„Little Earl is driving down the Gulf Coast
Sitting on a pillow so he can see the road
Next to him is a twelve pack of beer 
Three frozen pizzas and two lighters as souvenirs

Little Earl’s brother is bleeding in the backseat 
It’s been twenty miles and he can’t stop crying
Passing the houses on stilts on Holly Beach 
The AC don’t work and Earl’s sick in the Gulf Coast heat

Little Earl’s uncle is gonna go through the roof
But he’s working out of town until the end of June
They ain’t supposed to use his car  
Or do anything that lets people know he’s gone

Little Earl don’t know what to do
He’s looking for a hospital even though his brother don’t want him to
He’s starting to panic he’s too scared to stop
He’s never driven at night and he keeps getting lost“

Rock and Roll.

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Der Jahresrückblick – Teil 1


Was für Musik braucht man in einem so eigenartigen Jahr wie diesem? Solche, bei der die Halsschlagader wild pocht und der ganze gerechte Zorn auf diese ganze verdammt verrückte und aus den Angeln geratene Welt ein brodelndes Ventil bekommt. Solche, die einem sanft über den Kopf streicht und einem die Hoffnung einhaucht, dass alles schon besser, „normaler“, gewohnter werden wird – irgendwann, irgendwie. Und auch solche, die einen in ihrer Euphorie einfach gnadenlos mitreißt, und einen – im besten Fall – alles andere – das Gute wie das Schlechte – für Momente vergessen lässt. Eine Zuflucht. Eine Ton und Wort gewordene zweite Heimat. Zwischen diesen drei Fixpunkten ist in meiner Bestenliste der persönlich tollsten Alben des Musikjahres 2021 einmal mehr recht wenig zu finden, an den Endpunkten dafür umso mehr. Bühne frei und Vorhang auf für ANEWFRIENDs Alben des Jahres!

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Cleopatrick – BUMMER

2021, ein Jahr, welches rückblickend im Schatten dieser vermaledeiten Pandemie an einem vorbeizog. Januar… Corona… Dezember. War irgendwas? Habe ich irgendetwas verpasst? Nope? Okay, gut – ich leg’ mich mal wieder hin. 

Trotzdem musste es auch in den zurückliegenden zwölf Monaten – und fern aller Kontakbeschränkungen, Li-La-Lockdown-Hin-und-hers, Impfdiskussionen und Wutbürgereien (alles so Begriffe, die kaum einer noch hören oder lesen mag, jedoch längst in unseren sprachlichen Alltag übergegangen sind) – ja irgendwie weitergehen. Während der große Musikfestival- und Konzerttross auch 2021 – allen Lösungs- und Anschubversuchen der Beteiligten zum Trotz – im Gros zum Stillstand verdonnert war, durfte der musikalische Veröffentlichungskalender das ein oder andere Highlight für sich verbuchen, welches es eventuell ohne Fledermaus, menschliche Dummheit und eben Corona nie gegeben hätte. Wäre, wäre, Fahrradkette – klar.

Ebenso auffällig ist, dass sich die ANEWFRIEND’sche Alben-Jahresbestenliste in 2021 wieder auffällig vom Konsens anderer Musikmagazine und -portale unterscheidet, nachdem ich 2020 noch – völlig berechtigt – in die Jubelfeier von Phoebe Bridgers’ großartigem Werk „Punisher“ einstimmen durfte. Denn während andernwebs gefühlte Konsens-Platten von Turnstile oder Little Simz abgefeiert, hochjubiliert und über den grünen Kritikerklee gelobt werden, finden diese hier so gar nicht statt. Hab’s versucht, habe reingehört – just not my cup o’tea. (Dass jedoch weder die neue Platte von The War On Drugs, noch die von etwa The Notwist oder Mogwai – um nur eben die paar Beispiele zu nennen, welche mir gerade einfallen – Erwähnung finden, ist wohl vielmehr dem simplen Fakt geschuldet, dass ich bei all den tollen neuen Tönen des Musikjahres noch nicht zum Hören dieser Alben gekommen bin.) Andererseits findet mein persönliches Album des Jahres andernwebs (beinahe schon erschreckend) wenig Erwähnung. Verehrte Kritiker-Kolleg*innen – was’n da los?

An Luke Gruntz und Ian Fraser alias Cleopatrick kann’s keinesfalls liegen, denn die beiden Kanadier zerlegen mit ihrem Langspiel-Debüt „BUMMER“ in weniger als einer halben Stunde in bester Duo-Manier mal eben alles, was gerade noch unbehelligt im eigenen verranzten Proberaum in Coburg, Ontario im Weg stand. The Black Keys sind euch zu bluesmuckig? Royal Blood sind mittlerweile – und spätestens mit ihrem diesjährigen dritten Album „Typhoons“ – zu sehr in Richtung Indiedisco gehüpft? Bei den White Stripes hat die so schrecklich eintönig neben dem Beat trommelnde Meg White eh schon immer genervt? Dann sind diese zehn Stücke euer persönlicher Hauptgewinn! Im Grunde gibt’s über diese Platte im tiefen Dezember auch gar nicht mehr zu berichten als das, was ich knapp sechs Monate zuvor in meiner Review zum Ausdruck gebracht habe (oder zum Ausdruck bringen wollte). Das Ding rockt wie die im Lockdown ganz fuchsteufelswild gewordene Sau! Mehr juvenile, am Zeitgeist zwischen Blues’n’Indierock- und Hippe-di-Hopp-Gestus gewachsene Pommesgabel brauchte es 2021 nicht. Hat leider kaum ein grunzendes Nutztier mitbekommen, macht’s für mich selbst aber keineswegs schlechter. Geil, geiler, Cleopatrick on fuckin’ repeat.

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2. The Killers – Pressure Machine

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 1: Brandon Flowers und seine Killers durfte man eigentlich – nach immerhin vier im Großen und Ganzen (n)irgendwohin musizierenden Alben zwischen 2008 und 2020 (also alle nach „Sam’s Town“) – schon ad acta legen. Umso überraschender, dass dem Bandkopf der Las-Vegas-Alternative-Poprocker ein solches qualitativ dichtes, tatsächlich zu Herzen rührendes Werk wie „Pressure Machine“ in den kreativen Schoß fiel, während Flowers – wie viele seiner Kolleg*innen auch – dazu verdonnert war, konzertfrei zu Hause herumzusitzen. Er machte das Beste daraus und zog sich gedanklich nach Nephi zurück, einem 5.000-Seelen-Örtchen im Nirgendwo von Utah, Vereinigte Staaten, wo er als zehn- bis 17-Jähriger lebte, bevor es ihn wieder in seine Geburtsstadt Las Vegas verschlug. Die daraus resultierenden Tagträumereien sind jedoch keineswegs biografisch verklärter Hurra-US-Patriotismus, sondern ein ehrlicher, scheuklappenfreier Tribut an die oft von der Gesellschaft vergessenen „einfachen Leute“, an ihre Leben, Lieben und persönlichen Geschichten. Dass diese irgendwo zwischen auf Balladeskes im Heartland Rock und – ja klar, gänzlich können es Flowers und seine drei Bandkumpane auch hier nicht lassen – schillernde Festivalhauptbühnendiscokugel pendelnden elf Songs ebenjene „einfachen Leute“ zwischendrin auch selbst zu Wort kommen lassen, macht das Gesamtergebnis eben nur noch dichter, tiefer und zu einem Konzeptwerk-Erlebnis, welches selbst die größten, wohlwollendsten Killers-Freunde anno 2021 kaum mehr erwartet haben dürften. Großes Breitwandformatkino für die Ohren.

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3.  Torres – Thirstier

Man einem Künstler, manch einer Künstlerin verleiht das Glück der Liebe ja keine kreativen Hemmschuhe, sondern vielmehr tönende Flügel – das beste aktuelle Beispiel dürfte Mackenzie Ruth „Torres“ Scott sein. Deren fünfte Platte bestätigt zudem, dass die im wuseligen Big Apple beheimatete US-Musikerin längst aus der Indie-Singer/Songwriterinnen-Sadcore-Nummer früherer Tage heraus gewachsen ist. Für die zehn Stücke von „Thirstier“ setzt sie auf raumgreifende Rock-Hymnen, welche selbst kleine Alltäglichkeiten immer etwas glänzender darstellen, als man sich das zunächst denken würde. „Before my wild happiness, who was I if not yours?“ konstatiert Torres beispielsweise in „Hug From A Dinosaur“. Oft genug stellt man sich beim Hören der Songs selbst die Frage: Wie schön – zum Himmel, zur Hölle – kann man bitte über die Liebe singen?!? Exemplarisch etwa das sanft startende und in einem fulminanten Feuerwerk endende fantastische Titelstück: „The more of you I drink / The thirstier I get“ – Zeilen fürs von Herzen umrahmte Poesiealbum, ebenso das Zitat aus dem manischen Finale des Albumabschlusses „Keep The Devil Out“, welches passenderweise die Auslaufenrillen der A- und B-Seiten der Vinylversion ziert: „Everybody wants to go to heaven / But Nobody wants to die to get there“. Bei Torres sind diese gefühligen Momente anno 2021 meist mit donner-dröhnenden Gitarrenteppichen unterlegt, die sich so mit ihrer mahnend bis sehnsüchtig-zerrenden Stimme verbinden, dass man nur jubilieren möchte: Endlich mehr Liebe, endlich mehr Epos! Ihr bisher gelungendstes Werk, ohne Zweifel.

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4.  Moritz Krämer – Die traurigen Hummer

Moritz Krämer macht mit „Die traurigen Hummer“ ein nahezu lupenreines „Moritz-Krämer-Album“ und beweist, dass er noch immer der besten bundesdeutschen Liedermacher ist. Dass dieses irgendwie ja vor dem zweiten Album „Ich hab’ einen Vertrag unterschrieben“ entstand? Dass der Berliner Musiker, den man sonst als ein Viertel von Die höchste Eisenbahn kenn kann, hier einmal mehr den Blick auf die abseitigen kleinen Alltagsmomente legt und für jene Sätze findet, auf die man selbst in abertausend Leben nicht gekommen wäre, die aber nun plötzlich ebenso richtig wie wichtig scheinen? Dass Krämer sich in den zehn Songs einmal mehr als wohlmöglich größter Kauz des deutschen Indie Pops erweist? Alles erfreulich, alles ebenso unterhaltsam wie kurzweilig, genau wie dieses Album.

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5.  Gisbert zu Knyphausen & Kai Schumacher – Lass irre Hunde heulen

Hätte ich nie erwartet, ist aber tatsächlich passiert – Teil 2: Gisbert zu Knyphausen, seines Zeichens – neben dem gerade erwähnten Moritz Krämer – ein anderer großer deutscher Liedermacher, und Kai Schumacher, mit Talent gesegneter Pianist und hier der andere kongeniale Part, kommen mit Neuvertonungen von Franz Schubert-Stücken ums Eck. Was im ersten Moment – und ohne einen der Töne von „Lass irre Hunde heulen“ im Gehörgang zu haben – anmuten könnte wie die nervtötende siebente Stunde im Deutsch- oder Musik-Leistungskurs, gerät überraschenderweise derart faszinierend, dass es eine wahre Schau ist. Gisbert zu Knyphausen und Kai Schumacher transportieren etwa 200 Jahre alte Stücke ins 21. Jahrhundert als wäre dieses Kunststück das kleinste der Welt. Romantik meets Moderne, und man selbst hört fasziniert träumend zu.

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6.  Biffy Clyro – The Myth Of The Happily Ever After

Mal Butter bei die Fische: Jene Band, die einst mit „Infinity Land“ und „Puzzle“ auch meinen eigenen musikalischen Kosmos im Sturm eroberte, gibt es längst nicht mehr. Sie wird wohl auch kaum mehr wiederkommen, da brauchen sich selbst innigst Hoffende wenig vormachen. Zu breit ist die Fanbasis geworden, die sich Biffy Clyro mit den darauffolgenden Alben in den vergangenen zehn Jahren erschlossen haben, zu mainstreamig fällt das Festival-Publikum aus, das die Headlines-Auftritte der drei Schotten mittlerweile besucht. Und doch gibt „The Myth Of The Happily Ever After“ endlich wieder berechtigten Grund zur Hoffnung – und all jenen die Hand, die einst Songs wie „Wave Upon Wave Upon Wave“ erlagen. Wenngleich Biffy Clyro recht wenig Interesse daran haben, die Uhren so weit zurückzudrehen. In Ansätzen gab bereits der letztjährige Vorgänger „A Celebration Of Endings“ den neuen Glauben an die Band zurück, allen voran durch den ruppigen Schlusstrack „Cop Syrup“. Aber erst sein in Lockdown-Eigenregie entstandenes Geschwister-Album, mit Fleisch gewordenem Alternative Rock in „A Hunger In Your Haunt“, einer Gänsehaut erzeugenden Verneigung vor einem zu früh verstobenem Freund in „Unknown Human 01“, der aufbäumenden Ehrerbietung für ein unterentwickeltes japanisches Rennpferd namens „Haru Urara“ und einem erneut aggressiv schäumendem Finale, lässt das 2016er Werk „Ellipsis“ endgültig als elektropoppigen Solitär in der Vita einer der größten und sympathischsten Stadionbands der Gegenwart erscheinen. Mon the Biff!

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7.  Sam Fender – Seventeen Going Under

Seventeen Going Under“, das Nachfolgewerk zu Sam Fenders bockstarkem Debütalbum „Hypersonic Missiles“ (welches seinerzeit, 2019, den Spitzenplatz der ANEWFRIEND’schen Jahrescharts erobern konnte), ist eine klassische Coming-Of-Age-LP. Der Musiker aus North Shields, einer kleinen Stadt im Nordosten Englands, berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Teenager, die oft genug von Angst, Wut und Problemen handeln – „See, I spent my teens enraged / Spiralling in silence“ wie es im eröffnenden Titelstück heißt. Trotz der sehr persönlichen Geschichten schafft es Fender, die Themen – schwierige Beziehungen mit Familie und Freunden, Umgang mit Erwartungshaltungen, Erfahrungen mit Alkohol und Gewalt, Gefahren toxischer Männlichkeit – universell zugänglich und nachfühlbar für alle Hörer*innen zu machen. So handelt „Get You Down“ davon, wie eigene Unsicherheiten Partnerschaften beeinflussen, oder „Spit Of You“ von der schwierigen Beziehung von Vätern und Söhnen. Aber auch seine politische Seite zeigt der Engländer wieder, wenn er etwa in „Aye“ seinem Ärger über die gegenwärtigen Zustände Luft macht und zu dem Schluss kommt: „I’m not a fucking patriot anymore, […] I’m not a fucking liberal anymore“. In eine ähnliche Richtung geht „Long Way Off“, in dem es heißt: „The hungry and divided play into the hands of the men who put them there“. Beim Sound wird Fender seinem Ruf als „Geordie Springsteen“ oder als einer Art „britischer Antwort auf The War On Drugs“ weitgehend gerecht. Klassischer, hymnisch orientierter Rock-Sound trifft in den elf Songs (in der Deluxe Edition sind’s sogar fünf mehr) auf treibende Gitarrenriffs und Saxofon-Einlagen, der jedoch wegen seiner kraftvollen Produktion und dem pumpenden Schlagzeug dennoch alles andere als gestrig tönt. Und: Der 27-Jährige und seine Band variieren und spielen auch – etwa, wie bei „Spit Of You“, mit Country-Einflüssen oder Piano-Balladen-Interpretationen („Last To Make It Home“ und „The Dying Light“). Fast ein bisschen experimentell klingt „The Leveller“ an, wenn sich hämmernde Drums mit Streichern auf Speed verbinden. Alles in allem mag „Seventeen Going Under“ zwar im ersten Hördurchgang nicht dieselbe Sogwirkung entwickeln wie der Erstling, geht jedoch dennoch als würdiger Nachfolger von „Hypersonic Missiles“ durch, der einen trotz der ernsten, gesellschaftskritischen Themen mit einem zwar melancholischen, jedoch durchaus guten Gefühl entlässt. Oder, wie Sam Fender es selbst recht passend zusammenfasst: „It’s a celebration of life after hardship, and it’s a celebration of surviving.“

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8.  Manchester Orchestra – The Million Masks Of God

Dass Manchester Orchestra, bei genauerem Hinhören seit einiger Zeit eine der faszinierendsten Bands im Alternative-Rock-Kosmos, kein Album zweimal schreiben, macht den Sound des US-Quartetts aus Atlanta, Georgia irgendwie aus und lässt ihre Werke bestenfalls zu von Hördurchgang zu Hördurchgang stetig wachsenden Klang-Kaleidoskopen werden wie das 2017er Album „A Black Mile To The Surface“. Auf „The Million Masks Of God“, seines Zeichens Langspieler Nummer sieben, entfernt sich die Band um Frontmann Andy Hull noch weiter von ihren frühen Emo-Rock-Einflüssen zugunsten eines poppigen, noch weiter aufgefächerten Indie-Sounds, der hier vor allem um Einflüsse aus Americana, Alt. Country und sogar Gospel erweitert wird. Wer’s böse meint, der könnte behaupten, dass es wohlmöglich das „amerikanischste Album“ sei, dass Manchester Orchestra je (oder zumindest bisher) geschrieben haben. So versetzt etwa „Keel Timing“ alle Hörer*innen direkt in eine Midwest-Szenerie, die einem einen Güterzug vors innere Auge pinselt. Wer noch mehr zu kriteln haben mag, der darf gern behaupten, dass dem Album in Gänze – zumindest im ersten Moment – jener „Pop-Approach“ fehlen mag, welchen einzig „Bed Head“, ein nahezu perfekt geschriebener Popsong mit hohem Suchtfaktor, liefert. Stattdessen verlagern Andy Hull und Co. das Faszinosum hier weiter ins Detail und hinein in die stilleren Töne, wenngleich es mit „The Internet“ auch einen kleinen Rückblick auf den Vorgänger „A Black Mile To The Surface“ gibt. Mit dem hat „The Million Masks Of God“ dann noch etwas anderes gemein: Einmal mehr benötigt ein Manchester Orchestra-Langspieler mehr Zeit, mehr Hördurchgänge, um zu wachsen, um in Tiefe wirklich erfasst werden zu können. Freunde der Band aus Zeiten vor dem ähnlich einnehmenden „Simple Math“ wird es jedoch wohl nur schwerlich begeistern können. 

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9.  Thrice – Horizons / East

Spätestens seit ihrer Rückkehr nehmen Thrice verlässlich Platten von großmeisterlicher Souveränität auf – „Horizons / East“ bildet da erfreulicherweise keine Ausnahme. Dass Frontmann Dustin Kensrue dieses Mal eindringlich von bröckelnden Gewissheiten singt, darf dennoch als Hinweis an alle durchgehen, die sich vor der Altersmilde einer ehemaligen Sturm-und-Drang-Band fürchten. Klar, behagliche Gitarren-Ströme beherrscht das US-Quartett genauso mühelos wie aufbrandende Refrains, das macht Songs wie das erst anmutig torkelnde und schließlich explodierende „Dandelion Wine“ oder die knackige Deftones-Hommage „Scavengers“ jedoch nicht weniger beeindruckend. Schuld daran sind Details in den Texturen – die verdrehten Riffs in „Scavengers“ etwa – oder rhythmische Haken, die den umliegenden Wohlklang bestenfalls schaumig schlagen. Andere Songs experimentieren stilistisch, „Northern Lights“ mischt zum Gefrickel unruhigen Bar-Jazz, „Robot Soft Exorcism“ wiederum integriert thematisch passend synthetische Sounds. Im Finale „Unitive / East“ lösen sich Thrice gar spektakulär in einer fluoreszierenden Soundpfütze auf, in welche ein klimperndes Piano tröpfelt – mit dem Versprechen, bald mit den Nachfolger „Horizons / West“ zurückzukehren.

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10. Julien Baker – Little Oblivions

„Everything I get, I deserve / You whisper to me ‚Don’t you like when it hurts?’…“ Niemand leidet so schön wie Julien Baker. Die Musik der Singer/Songwriterin aus Tennessee ist ein offenes Buch, das in wunderschönen Worten von Depressionen, Alkoholismus, Zweifeln an der eigenen Spiritualität und zerbrochenen Beziehungen erzählt. Schon auf ihrem 2015er Debüt kümmerte sich Baker herzlich wenig darum, geneigten Hörer*innen Oden von der Freude vorzuträllern – ist schließlich ihr Album, sind ihre Probleme, also ist all das ihre Therapie. Und all jene, die den Werdegang der mittlerweile 26-jährigen US-Musikerin genauer verfolgen, wissen: daran hat sich über die Jahre nichts – und wenn, dann lediglich in Detailfragen – geändert. Auch „Little Oblivions“, ihr nunmehr drittes Album, erzählt von recht ähnlichen Problemen in ebenso schönen Worten – und trifft einen damit erneut mitten ins Herz. Was sich allerdings geändert hat, ist die Art, wie Baker das Lecken ihrer Wunden musikalisch aufbereitet. Wo „Sprained Ankle“ und „Turn Out The Lights“ in ihrer Spärlichkeit und desolaten Klanglandschaften fast schon nihilistisch wirkten (was umso ironischer gerät, wenn man weiß, wie offen Julien Baker ihren Glauben zur Schau stellt), erklingen in „Little Oblivions“ erstmals detaillierte, organische Orchestrationen, die den tröstenden Silberstreifen verbildlichen, der sich im Laufe der Platte immer wieder flüchtig manifestiert. „Little Oblivions“ beschreibt diesen Moment, sucht danach – und macht darin am Ende doch vieles wieder kaputt. Man lausche nur dem fulminanten Finale von „Hardline“! Baker findet immer wieder kurz Halt, nur um erneut vom destruktiven Strudel aus Selbstzweifeln und der schlichten Unfähigkeit, glücklich zu sein, hinabgerissen zu werden. „It doesn’t feel too bad / But it doesn’t feel too good either“ – Ihre Songs sind bittersüße Umarmungen, ein wohltuendes Bad in den eigenen Tränen, das auf „Little Oblivions“ mehr denn je dazu einlädt, kopfüber einzutauchen, während Julien Baker einem klammheimlich das Herz aus der Brust reißt. Katharsis und Destruktion, Erlösung und Zweifel lagen 2021 selten näher beieinander. 

…auf den weiteren Plätzen:

Kevin Devine – Matter Of Time II mehr…

Jim Ward – Daggers mehr…

Slut – Talks Of Paradise

Danger Dan – Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt mehr…

Wolfgang Müller – Die Nacht ist vorbei mehr…

Rock and Roll.

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Song des Tages: Cat Power – „I’ll Be Seeing You“


Foto: Promo / Mario Sorrenti

Chan Marshall aka Cat Power covert oft und gerne Das hat sie bereits mit ihren 2000 beziehungsweise 2008 erschienenen Alben „The Covers Record“ und „Jukebox“ bewiesen. Von The Velvet Underground über Bob Dylan und Joni Mitchell bis hin zu neuen Versionen ihrer eigenen Songs – aus jedem Stück bastelt sie eine verdammt eigene, aber dafür absolut unnachahmliche Cat Power-Version. Anfang nächsten Jahres folgt mit „Covers“ das dritte Coveralbum und vollendet somit die Trilogie.

Aus jenem Werk, ihrem mittlerweile elften Studioalbum und der Nachfolger zum 2018er „Wanderer„, hat die wandelbare 49-jährige US-Musikerin nun, nach Interpretationen von Frank Oceans „Bad Religion„, The Pogues‘ „A Pair Of Brown Eyes“ und Dead Man’s Bones‘ „Pa Pa Power„, den nächsten Vorgeschmack veröffentlicht. „I’ll Be Seeing You“ ist ihre persönliche Version des oft mit Jazz-Ikone Billie Holiday assoziierten Standards. Gewählt hat sie ihn, um den ihr nahestehenden Menschen zu gedenken, die sie in jüngster Zeit verlieren musste, unter anderem den 2019 auf tragische Weise verstorbenen Cassius- und French-House-DJ Philippe Zdar, der unter anderem auch ihr 2012er Album „Sun“ produzierte. Die Auswahl begründet Chan Marshall selbst wie folgt:

“When people who you love have been taken from you, there’s always a song that holds their memory in your mind.  It’s a conversation with those on the other side, and it’s really important for me to reach out to people that way.” 

Auch das dazugehörige Musikvideo ist eine Art Tribut an die Holiday’sche Variante, welche immerhin bereits amtliche 77 Jahre auf dem musikalischen Buckel hat (das Original ist gar noch älter und stammt von 1938). Um die von Nostalgie getränkte Atmosphäre vergangener Tage in den bewegten Bildern einzufangen, performt Chan Marshall in Frack und Zylinder auf einer kleinen Bühne eines dunklen Kabarett-Saals im Stil der 1940er Jahre, während nur ein kleines, scheinbar elitäres Publikum und die Mitarbeiter*innen der samtigen, zugleich zurückhaltend zärtlich und doch kraftvollen Stimme von Cat Power lauschen.

Das Cover ist übrigens der B-Part der Doppelsingle “Unhate / I’ll Be Seeing You”. In “Unhate” covert die Musikerin sogar sich selbst, indem sie ihren Song “Hate” aus dem 2006 erschienenen Album “The Greatest” in ein neues Gewand taucht. Einen besseren Soundtrack für den eigenen Winterblues mag man sich kaum vorstellen…

Rock and Roll.

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Song des Tages: Band Of Horses – „Crutch“


Auch wenn man von ihnen überraschend wenig gehört hat: Was waren das für durchaus turbulente vergangene sechs Jahre bei den Southern-Indierockern von Band Of Horses… War da am Anfang ein recht steiler Aufstieg in den Rockolymp, der vor allem durch die ersten drei, zwischen 2006 und 2010 erschienenen Alben „Everything All The Time„, „Cease To Begin“ und „Infinite Arms“ sowie Songs wie „The Funeral„, „Is There A Ghost“ oder „No One’s Gonna Love You“ begründet war, folgten mit „Mirage Rock“ und „Why Are You Ok“ 2012 beziehungsweise 2015 zwei weitere Langspieler, die dem ursprünglich aus Seattle, Washington und nun in Charleston, South Carolina beheimateten Fünfergespann schließlich den Ruf der zwar nicht überlebensgroßen (siehe auch: Coldplay, Muse, Kings Of Leon), jedoch definitiv größere Hallen füllenden Etwas-für-jedermann-Rockband einbrachten. Dies allerdings auch, indem Band Of Horses einen Soundwandel vollzogen, der weg vom rauen, direkten Gitarrensound der Anfangstage ging und oft genug die Abfahrt in Richtung voluminös-satter Stadionsound nahm. Manch einer mochte die zu Herzen gehenden Immergrün-Hymnen vermissen, der Erfolg gab ihnen dennoch recht.

Doch dann wurde es plötzlich ruhig um die Band um Frontmann Ben Bridwell. Nach ausgedehnten Konzertauftritten und Tourneen zu „Why Are You Ok“ setzte sich – mag sich kurios lesen, aber so ist’s eben manchmal – ein Rad in Bewegung, das lange Zeit still stand. Denn während die Band Of Horses-Mitglieder in ihrer Anfangszeit, bis auf Bridwell, fast jährlich wechselten, setzte Gefüge ab 2007 eine Verstetigung ein. Mit Bridwell als Sänger und Creighton Barrett als Schlagzeuger kamen in jenem Jahr als Keyboarder Ryan Monroe, Bill Reynolds am Bass und Tyler Ramsey als Gitarrist und Backgroundstimme hinzu.

Satte zehn Jahre sollte diese Bandkonstellation so bleiben und für den Erfolg der Band stehen, bis schließlich Anfang Mai 2017 Tyler Ramsey und Bill Reynolds über ihre sozialen Kanäle die Trennung der beiden mit der Band bekannt gaben. Was zu diesem Zeitpunkt stark nach Bandauflösung roch, sollte erst in einem immer leiser werdenden Rhythmus der Band übergehen und letztendlich zeitweise sogar zum kompletten Verstummen der Kommunikation führen. Vielleicht auch Dank der durch die Pandemie verursachte Alles-steht-still-Langeweile haben Band Of Horses seit diesem Jahr in leicht veränderter Besetzung (Matt Gentling am Bass und Ian MacDougall an der Gitarre sitzen neu im Sattel) wieder die Zügel in die Hand genommen und nun mit „Crutch“ ihr erstes musikalisches Lebenszeichen seit 2015 veröffentlicht.

Und diese tönende Rückmeldung kann sich durchaus hören lassen! Denn mit dem neuen Song kehrt die Band ein stückweit zu den Anfängen zurück und gibt sich wieder herrlich rau, direkt und schrammelig. Dabei erinnert wirklich so einiges auf „Crutch“ an die ersten beiden Alben und wird durch die schnellen Gitarren, den hohen Gesang Bridwells und dem immer wieder unterbrechenden, fast schon staccato-artigen Verstummen des Schlagzeugs aufgerissen. Ohne Umwege treiben die feinen Gitarren den unverschämt eingängigen Refrain in den Gehörgang, wo er dann lange rotiert. Besser noch: Mit „Crutch“ kündigen Band Of Horses zudem ihr sechstes Studioalbum „Things Are Great“ an, das am 21. Januar 2022 erscheinen soll. Und wie man hört, dürfen Freunde der Band sich auf ein Werk freuen, das den Wandel zu alten Stärken vollzogen hat und damit durchaus die Hörerherzen vieler Fans der Anfangstage zurückerobern könnte. In jedem Fall: Schön, dass die Herren der Pferdeband wieder da sind.

Rock and Roll.

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