Bruce Springsteen – High Hopes (2014)
-erschienen bei Columbia/Sony-
„Ach, es ist doch ein Kreuz! Man(n) kann es eben nicht allen recht machen…“ Dieser Ausspruch wird dem „kleinen Mann“ am Fließband der Bochumer Opel-Werke wohl ebenso dann und wann über die Lippen kommen wie einem erfolgsverwöhnten Sportmillionär wie Franck Ribéry – den einen tadelt der Schichtleiter für vermeintlich schlechte Produktionszahlen, der andere darf den für die „Weltfußballer 2014“-Trophäe auf dem häuslichen Kamin freigeräumten Platz nun erst einmal anderweitig ausfüllen… Irgendwo zwischen Alltagsnöten und Luxuspetitessen ordnet sich auch Bruce Springsteen ein.
Zugegeben: Würde sich der mittlerweile 64-jährige Musiker je über sein Leben beschweren, so wäre es in der Tat Jammerei auf sehr hohem Niveau. Im Jahr 2014 kann Bruce Frederick Joseph Springsteen auf eine Weltkarriere zurückblicken, die einen einstmals rebellischen Herumtreiber aus Freehold, New Jersey zig Male rund um die Welt spülte, ihn in den größten Stadien und Arenen auftreten ließ, während ebenso Staatsmänner wie Filmstars und Musikerkollegen zu seinen treuen Fans zählen wie – aufgepasst, das Phrasenschwein bekommt Kilometergeld! – der „einfache Mann“ mit 9-to-5-Job oder die Supermarktkassiererin von Kasse drei. Keine Frage: Springsteen emotionalisiert, Springsteen verbindet. Und so liegen sich bei seinen – freilich oftmals ausverkauften – Konzerten Menschen mit selig glänzenden Augen in den Armen, die im „wahren Leben“ wohl so niemals zusammen gefunden hätten, prosten sich Börsenhaie und Anarcho-Irokesen bierselig grinsend zu. Doch während der „Boss“ und seine famose E Street Band gerade live und auf den Bühnen dieser Welt eine echte Bank sind und mit dem Alter sogar noch qualitativ zuzulegen scheinen (der Mann spielte auf der kürzlich beendeten „Wrecking ball“-Tour in finnischen Helsinki mit schlappen vier Stunden und sechs Minuten gar das bislang längste Konzert seiner Karriere!), nehmen seine Studioalben eine ganz andere Marschrichtung. Wobei… Auch hier setzt der Erbsenzähler den kritischen Rotstift freilich an einem verdammt hohen Punkt an, denn wer die jüngsten Veröffentlichungen Springtsteens mit über (beinahe) jeglichen Zweifel erhabenen Klassikern wie „Born To Run
“ (1975), „The Wild, The Innocent & The E Street Shuffle
“ (1973), „Darkness On The Edge Of Town
“ (1978) oder „The River
“ (1980) vergleicht, geht ganz klar ein hohes Wagnis ein. Dennoch: All diese Diskografie-Meilensteine liegen lange zurück, und vieles, was danach kam (das dunkle, mehr als zwanzig Jahre umspannende Soloalbumtrio aus „Nebraska
„, „The Ghost Of Tom Joad
“ und „Devils & Dust
“ mal außen vor), geriet in der Tat zum qualitativen Tanz auf der Rasierklinge. Ganz gleich, ob nun auf Alben wie „The Rising
“ (2002), „Magic
“ (2007) oder (vor allem) „Working On A Dream
“ (2009) – viele der Songs wären auf den einstigen Studiogroßtaten der Siebziger wohl dem kritischen Schnittmesser des Rockmusikers zum Opfer gefallen. Da war die Erleichterung nach den ersten Hördurchgängen des bislang letzten, 2012 erschienenen „Wrecking Ball
“ umso größer, bewies Springsteen doch selbst seinen schärfsten Kritikern, dass er es nach all den mediokren Jahren auch auf Albumlänge noch drauf hat! Die elf Stücke klangen frisch und unverbraucht, interessant und – im besten Sinne – rockig, während der „Boss“ zwischen den Zeilen Studioneuland betrat und sich muskelgestählt und pathosbeladen von seiner wohl besten Seite präsentierte. Doch selbst dieses Album konnte keinesfalls darüber hinweg täuschen, dass Bruce Springsteen und seine so wichtige Haus-und-Hofkapelle, die E Street Band, vor allem – und zumeist ausschließlich – auf den Konzertbühnen ein Erlebnis sind, denn erst dort finden seine Songs den Raum, um sich zu entfalten, die Energie elektrifizierter Gitarren zu atmen und zu wirken. Das liest sich vielleicht abgedroschen nach kopierter Null-Acht-Fünfzehn-Schreibe, ist jedoch einfach so…
Nun also stellt Bruce Springsteen mit „High Hopes“ sein mittlerweile 18. Studioalbum in die Regale. Und: Er betritt damit erneutes Neuland. Denn zum ersten Mal in seiner mehr als vierzigjährigen Karriere ist eine seiner Platten, vom 2010 erschienenen „The Promise
„, welches viele teils hervorragende Outtakes der „Darkness On The Edge Of Town“-Sessions versammelt, ist eine seiner Platten komplett aus liegengebliebenen Albumüberbleibseln, Neuaufnahmen und Coverversionen aufgebaut. Und: Der oscarprämierte zwanzigfache Grammy-Gewinner nahm die zwölf Stücke nicht etwa als wohlverdiente Pause zwischen zwei Schaukelstuhlmußestunden auf der heimischen Veranda in New Jersey auf, sondern in mehreren kurzen Auszeiten seiner „Wrecking Ball“-Welttournee und irgendwo zwischen Australien, New Jersey, Atlanta, New York City und Nashville. Vom Personal her dürfte dem kundigen Musikfreund die größte Überraschung von „High Hopes“ bereits beim Lesen der Trackliste entgegen springen, vertritt doch bei gut der Hälfte der Songs niemand Geringeres als der ehemalige Rage Against The Machine-Gitarrist und erklärte Springsteen-Bewunderer Tom Morello den eigentlichen E Street Band-Saitenschwinger Steven Van Zandt, der während der Australienkonzerte und Albumaufnahmen für die norwegische (!) TV-Serie „Lillyhammer“ vor der Kamera stand. Da kann man es denn schonmal mit der Angst bekommen, mindestens jedoch gespannt sein: Würden Morello und seine ganz eigene, unverkennbare Art des Gitarrenspiels Springsteens Songs einen ähnlich fiesen „Wah Wah“-Effekt verleihen wie noch zu seligen Rage Against The Machine-Zeiten, ihnen gar die Luft abschneiden? Nun, das komplette Gegenteil ist der Fall! Oder, anders ausgedrückt: Die Stücke, an denen Morello beteiligt ist, zählen zu den wohl gelungensten auf „High Hopes“…
Den Anfang macht die Neuaufnahme des Tielsongs, welcher Fans als Havalinas-Cover bereits von der 1995 veröffentlichten „Blood Brothers EP“ bekannt sein dürfte. „Give me love, give me peace / Don’t you know these days you pay for everything? Got high hopes“ – zu Max Weinbergs ausgefuchst vorwärts drängendem Schlagzeug, Morellos furchenden Gitarren und jubilierenden Bläsersätzen gelingt der Einstieg. Auch das Gaunerlied „Harry’s Place“, ein Überrest der mehr als zehn Jahre zurückliegenden „The Rising“-Sessions, legt sich stoisch in die Gehörgänge und bietet ein wohl letztes Mal das unnachahmliche Saxophon des 2011 verstorbenen E Street Band-Gründungsmitglieds Clarence „Big Man“ Clemons auf. Dass die live längst zu Favoriten und Klassikern avancierten „American Skin (41 Shots)“ und „The Ghost Of Tom Joad“ ebenfalls aufhorchen lassen, darf vor allem auf Tom Morellos Habenseite notiert werden. Ersteres Stück feierte als bewegende Breitwandballade, in welcher Springsteen die Ermordung des Farbigen Amadou Diallo durch New Yorker Polizisten im Jahr 1999 thematisiert, vor 13 Jahren auf dem Livealbum „Live in New York City“ seine Premiere, zweiteres schlägt mit Outlaw-Gesinnung und Robin Hood-Mentalität in eine ähnliche Kerbe, macht jedoch in seiner Neuinterpretation eine wahre Einhundertachtziggradkehrtwende durch. Denn anders als der 1995 auf dem gleichnamigen Album veröffentlichte Evergreen kommt „The Ghost Of Tom Joad“ im Jahr 2014 nicht als einsame Lagerfeuererzählung eines Lonesome Cowboy um die Ecke, sondern als lärmende Siebeneinhalbminutenwalze, die mit ihren keifenden Gitarren noch am ehesten an die dreizehn Jahre zurück liegende Coverversion von Rage Against The Machine erinnert – kein Wunder, schließlich war Tom Morello auch da nicht ganz unbeteiligt… Auch andere Songs gelingen: „Down In The Hole“ trägt mit Orgel und Banjo den schleppenden, mit etwas Irish Folk angereicherten Balladengeist von „I’m On Fire“ aus den achtziger Jahren fort, „Frankie Fell In Love“ macht Spaß wie einst zu Zeiten von „The River“. Was sich Springsteen jedoch beim Dudelsack-Erweckungsstück „This Is Your Sword“, dem leider recht egalen The Saints-Cover „Just Like Fire Would“, dem im Studiogewand einfach zu gewollt agierenden Gospelrocker „Heaven’s Wall“ („Raise your hand, raise your hand, raise your hand / And together we’ll walk into Canaan land“) oder der verkappten Filmmusik „Hunter Of Invisible Game“ gedacht hat, wird wohl nur er so genau wissen… Zum Glück reißt das großartige „The Wall“, das der „Boss“ 1998 nach einem Besuch des Monuments für die im Vietnamkrieg getöteten Soldaten in Washington, D. C. schrieb, das Ruder noch einmal herum. Mehr noch: Der Song rührt zu Akustikgitarre und dem Akkordeon des vor fünf Jahren verstorbenen E Street-Bandkumpans Danny Federici als samtweiches Requiem für Walter Cichon, einen Rocker von der Jersey-Küste, der nie aus dem Vietnamkrieg zurück kehrte, wahrlich zu Tränen. Wäre „Dream Baby Dream“, Springsteens Studioversion eines Songs der Protopunker Suicide gelungen, so hätte es auch nach dem großen „The Wall“ einen angemessenen Schlusspunkt setzten können. Leider verliert die 2014er Variante den internen Vergleich gegen Springsteens Schlusslied vieler Konzerte seiner 2005er Solotournee, bei welchem er dem Stück ein Vielfaches mehr an Intensität verlieh. Schade.
Insgesamt ist Bruce Springsteen und Band auch mit „High Hopes“ ein solides Album gelungen, das bestenfalls viele Qualitäten des Rockmusikers – vom pathetisch Mitreißenden bis hin zum Wachrüttler und Mahner – auf sich vereint, jedoch auch – und dies wohl mehr denn je – die Grenzen Springsteens im klinischen Studiooutfit aufweist (der fehlende Bühnenboden zur energiegeladenen freien Entfaltung der Stücke, wie weiter oben erwähnt). Natürlich hatte er auch diesmal mit Ron Aniello ein erfahrenes Produzentenass im Ärmel seines hautengen Denim-Arbeiterklassehemdes. Doch angesichts der sich geradezu aufdrängenden Ahnung, sich mit eben jenen Regelschiebern (da darf auch gern Brendan O’Brien hinzugezählt werden) in eine kreativen Sackgasse manövriert zu haben, wird wohl schon bald der Ruf nach etwas mehr Mut zum Wagnis lauter werden. Denn auch – oder gerade? – Bruce Springsteen, dieser sympathisch rockende Kontrollfreak, emsige Arbeiter und E Street-Bandleader, weiß, dass sein Alterswerk wohl gleich um die Ecke warten kann, während sich die Zeit keine Freunde macht. Immerhin: das Feuer, es brennt noch. Hohe Funken sprüht „High Hopes“ jedoch nur mit Anstrichen. Oder wie es sueddeutsche.de formuliert: „Es ist das Ding, das ihm auf halber Strecke hinten vom Truck gefallen ist.“
(Übrigens: Der Erstausgabe von „High Hopes“ liegt für einen geringen Aufpreis eine Bonus DVD mit dem Mitschnitt der Live-Aufführung des kompletten „Born In The U.S.A.“-Albums im Rahmen der Springsteen-Show beim letztjährigen „Hard Rock Calling“-Open-Air in London bei… Zugreifen lohnt sich also.)
Hier gibt’s mit „High Hopes“…
…und „Dream Baby Dream“ die Musikvideos zum Eröffnungs- und Abschlussstück des neuen Springsteen-Albums als Musikvideos…
…sowie eine Live-Version von „The Ghost Of Tom Joad“, für welche sich der „Boss“ ebenfalls die saitenschwingende Hilfe von Tom Morello auf die Bühne holte:
Und alle jene, die’s ganz genau wissen möchten, bekommen während dieses etwa einstündigen aktuellen Interviewmitschnitts des Senders „Sirius XM Radio“ eventuell die ein oder andere Frage beantwortet:
Rock and Roll.