Rocky Votolato – Wild Roots (2022)
-erschienen bei Thirty Something/FUGA-
Sieben lange Jahre sind vergangen seit „Hospital Handshakes„, dem achten Studioalbum von Singer/Songwriter Rocky Votolato. Zur Finanzierung des neunten startete der gebürtige Texaner im Herbst 2021 eine Kickstarter-Kampagne, welche im November erfolgreich endete. Diesmal hatte er ein mehr oder minder fixes Konzept im Kopf, wollte jedem Mitglied seiner Familie einen Song widmen – genau fünfzehn an der Zahl, weil es auf der Ranch, auf welcher der Musiker einst aufwuchs, ebensoviele Pferde gab. So weit, so harmonisch – bis eine private Tragödie jäh alle Planungen zerstörte. Sein 22-jähriges Kind Kienan (ich verwende hier bewusst nicht die Bezeichnung „Sohn“, da sich Kienan für eine nonbinäre Identität entschied) wurde Anfang Dezember bei einem Autounfall schwer verletzt und verstarb nur wenige Stunden später. Für Rocky, seine Frau April, Tochter Autumn und den Rest der Familie folgte eine Zeit der tiefen Trauer, begleitet von kognitiven Schwierigkeiten und Gedächtnisverlust. Wer sich in der glücklichen Situation befindet, von den Bergen, welche es nach einem solchen Schicksalsschlag aus dem Weg hin zurück zum Alltag und zum Weitermachen mit dem Ding namens Leben zu räumen gilt, nur eine entfernte theoretische Ahnung zu haben, der wird es Rocky Votolato und seiner Familie dennoch hoch anrechnen, dass sie an alldem weder zerbrach noch in allumfassenden Pessimismus verfiel. Und das bereits in Grundzügen fertige Konzeptalbum? Wurde so nicht nur zum Rückspiegel auf die Familienhistorie, sondern auch zur vertonten Trauerbegleitung.

Wer’s gehässig meinen würde, der könnte behaupten, dass sich die Songs des Leisetreter-Barden aus Seattle, Washington ja ohnehin seit Jahr und Tag nach tränengetränkter Trauerweiden-Musik anhören… Falsch wäre das zwar nicht wirklich, etwas unrecht würde man Votolato und seinem seit 1999 entstandenen Solo-Repertoire aber dennoch tun. Andererseits ist der 45-jährige US-Klampfer im Kreis der Singer/Songwriter mit Punk-Rock- und Emo-Indie-Rock-Hintergrund der Mann für die ruhigen, feinfühligen Töne. Für „Wild Roots“ hat er seine ohnehin nicht mit allzu viel Krachgärtnerei auftretenden Songs weiter entkernt, sodass sie fast ausschließlich aus seiner Stimme und der Gitarre sowie der zurückhaltenden Begleitung durch Geige oder Klavier bestehen. Das wird den persönlichen Themen gerecht, sorgt aber auch dafür, dass es Songs wie „Bella Rose“ (seiner Nichte Bella gewidmet) oder „The Wildest Horses“ (für seine Tochter Autumn) etwas an musikalischer Spannung fehlt. Sobald Votolato dem reduzierten Sound jedoch weitere Elemente zufügt, gewinnen die Stücke merklich. Beim harmonischen „Southpaw“ (für seinen Neffen Peren) begleitet ihn die Musikerin Abby Gundersen, ihres Zeichens die Schwester von Singer/Songwriter Noah Gundersen, mit sanftem Background-Gesang, „The Great Pontificator“ (Stiefvater Spero gewidmet) profitiert von dem zurückhaltenden Einsatz eines Schlagzeugs.
Rocky Votolato schwelgt während der knapp 48 Minuten dieses vertonten Familienalbums in Erinnerungen an gemeinsame Momente mit der Person, für die er den jeweiligen Song geschrieben hat. Namen nennt Votolato in den Texten zwar nicht, dennoch lässt sich aus und zwischen den Zeilen oft herleiten, wer der Adressat ist. Bei „Texas Scorpion (The Outlaw Blues)“ etwa spricht er seinen leiblichen Vater an, der Mitglied in einer texanischen Motorradgang war und den Votolatos Mutter mit den Kindern früh verließ: „I know you did your best, with what you were giving / So don’t be too hard on yourself now, all is forgiven.“ Das Alter lässt im Rückblick nicht nur Milde, sondern auch Vergebung zu.

„Little Black Diamond“ wiederum handelt von einem Spaziergang mit seiner Nichte Carissa, bei dem die beiden einen kleinen Stein aufsammelten, welchen Votolato jahrelang bei sich trug. Diese kleinen, persönlichen Anekdoten sind aufrichtig und schaffen eine intime, tatsächlich zu Herzen gehende Atmosphäre. Auch seine Mutter („Archangels Of Tornados“), seine Brüder Sonny und Cody („23 Stitches“ und „Breakwater“ – mit Cody spielte Rocky übrigens anno dazumal bei Waxwing), seine Schwester Brandi („Glory (Broken Dove)“), seine Nichte Jaida („Evergreen“), seine Frau April („x1998x“), Hund Saint („Little Lupine“) und Rocky selbst („There Is A Light“, geschrieben von Votolatos deutschem Musiker-Buddy Marcel Gein, der übrigens auch einige E-Gitarren zum Album beisteuerte) werden mit Songs bedacht. Den emotionalen Höhepunkt des Albums bildet jedoch fraglos „Becoming Human“, welches an sein ebenso jung wie tragisch verstorbenes Kind Kienan gerichtet ist. Votolato wurde mit Anfang Zwanzig Vater, und so erklärt er seinem Kind, welche Schwierigkeiten er damals hatte und warum er es beim Aufwachsen nicht so begleiten konnte, wie er es gewollt hätte. Wie Rocky Votolato in diesem Interview wissen lässt (ein weiteres findet man bei Interesse hier), konnte Kienan diese Liebeserklärung seines Vaters vor seinem Tod hören – so tragisch sich die Worte des Songs nun in die Votolato’sche Familienhistorie einfügen mögen, so tröstlich mag dieser Gedanken erscheinen. Und auch wenn Rocky Votolato mit „Wild Roots“ natürlich wieder kein formatradiotaugliches Hit-und-weg-Album zusammengetragen hat, so hört man dieser sympathischen Sammlung voll persönlicher Geschichten gern zu.
Rock and Roll.