Sigur Rós – Kveikur (2013)
-erschienen bei XL/Beggars/Indigo-
Mal ehrlich: Was kommt einem zuerst in den Sinn, sobald das schöne Stichwort „Island“ fällt? Wunderschöne Natur inmitten von Vulkanen, Geysiren und Arschkälte? Check. Reykjavik, Fischfang und Bankenpleite? Check. Trolle, Elfen und Feen? Check. Björk, Emiliana „Jungle Drum“ Torrini? Ja, sicher – check! Immerhin halten sich nur eben jene Klischees länger, denen auch eine Bestätigung gegenübersteht – und auch die Isländer scheren sich freilich einen feuchten Wal darum, etwas davon zu widerlegen. Immerhin profitiert der Tourismus von all diesen plakativen Bildern und Mythen. Und der Festigung einer eigenen Identität mag’s auch zuträglich sein… Halldór Laxness, der isländische Literaturnobelpreisträger, brachte die Faszination Islands einst gekonnt auf den Punkt: „Island zwingt Sie, sich auf sich selbst zu besinnen. Und Sie müssen mit sich allein sein können.“ Doch die Insel unweit des nördlichen Polarkreises hat in der Tat in puncto Kultur einiges mehr zu bieten. Zum Beispiel eine seit vielen Jahren florierende und höchst eigene Musikszene – abseits der gedankenlos an die Wand der Kreativität geklatschte – man bitte meine Wortwahl zu entschuldigen – „Kunstscheiße“ einer Björk Guðmundsdóttir. Zum Beispiel das „Iceland Airwaves“ Festival, welches seit 1999 jährlich im Oktober in einem Hangar am Flughafen Reykjavík stattfindet und in der Vergangenheit, neben nationalen Künstlern, auch internationalen Größen wie Roger Waters, Bloc Party, den Kaiser Chiefs, den Flaming Lips, Fatboy Slim oder TV On The Radio eine Bühne bot. Und, last but not least, dürfte die wohl erfolgreichste und bekannteste Formation dieses Eilands mit der lachhaften Bevölkerungs“dichte“ von gerade einmal 3 Einwohnern pro km² jedem Musikfreund ein Begriff sein: Sigur Rós.
Dass die Band ebenso typisch isländisch ist wie Walfang, heiße Quellen und Holzhäuschen inmitten weiter Flächen, dürfte wohl kaum einer bestreiten. Immerhin kultivieren Frontmann und Stimme Jónsi Birgisson (auch Gitarrist) und seine Mitmusiker Georg Hólm (Bass) und Orri Páll Dýrason (Schlagzeug) bereits seit Gründung der Band vor beinahe zwanzig Jahren einen höchst eigen- wie einzigartigen Stil, den zu umschreiben wohl der Zappa’schen Vergleich vom „Schreiben über Musik“ und dem „Tanzen zu Architektur“ verdammt nahe käme. Die Musiker selbst geben sich gleichsam normal, bodenständig und unnahbar, die Musikvideos und songbegleitenden Visualisierungen sind kleine große Kunstwerke innerhalb von klanglichen Kunstwerken, die textliche Bedeutung der Stücke selbst lässt sich für jeden der isländischen Sprache unkundigen Ausländer seit jeher nur erahnen (wobei die Anekdote, welche sich 1998 im Zuge der Veröffentlichung des zweiten Albums „Ágætis Byrjun“ zugetragen haben soll, als ein englischsprachiger Journalist, zur Vorbereitung auf ein nahendes Interview mit der Band, die neuen Texte zur Übersetzung an einen befreundeten Isländer übergab – unwissend, dass Jónsi zu diesem Zeitpunkt in der von ihm erdachte Fantasiesprache „Hopeländisch“ sang – noch immer nicht in Gold aufzuwiegen scheint…). Um zu verstehen, was genau die Faszination der im vergangenen Jahr zum Dreiergespann geschrumpften Band (der multiinstrumentale Keyboarder Kjartan Sveinsson verließ nach 14 gemeinsamen Jahren Sigur Rós, um sich neuen Projekten zuzuwenden) ausmacht, muss man also zwangsläufig eines tun: zuhören. Denn bei allen umschreibenden Worten, die ich hier über die Isländer verlieren könnte, bleibt am Ende doch jenes Kopfkino, das wohl nur bei wenigen weiteren Bands weltweit derart automatisiert die Synapsen und Windungen der Gefühlsregionen des Hörers anwirft, außen vor.
Und doch ist „Kveikur„, das dieser Tage erschienene siebente Studioalbum von Jónsi & Co. ANEWFRIENDs „Album der Woche“. Wie also über eine Platte schreiben, die sich scheinbar erneut jeglicher passender Wortwahl entzieht? Nun, beginnen wir am besten ein Jahr zuvor. Als Sigur Rós „Valtari
„, Album Nummer sechs, auf den Markt schmissen, durfte man als langjähriger Fanboy der Formation berechtigtermaßen enttäuscht aus der Musikwäsche schauen. Natürlich waren auch diese 55 Minuten mit allerhand Trademarks und Feingeist unterlegt – aber so viel Schönklang, so viel Ambiente, dass die acht Songs nicht einmal bei Großmutters sonntäglicher Kaffeetafel unangenehm aufgefallen wären? Immerhin lernte man Sigur Rós als eine Band kennen und lieben, die zwar Anmut in kursiver Blockschrift an jede Wand zu schreiben wusste, diese jedoch inmitten des Schaffensprozesses auch zu gern mit einem hämisch wissenden Grinsen und Vorschlaghämmern bewaffnet bearbeitete – die Zuckerbrot-und-Peitschen-Band des groß angelegten Post Rock, quasi. Dafür hatten sie sich mit den fraglos meisterlichen Alben „Ágætis Byrjun
„, „( )
“ und „Takk…
“ zwischen 1998 und 2005 in eine eigene Liga gespielt, die es ihnen erlaubte, große Kunst in ihrer eigenen Nische zu schaffen, und ihnen fortan auch zaghafte popmusikalische Vorstöße wie das in den Londoner Abbey Road Studios aufgenommene, 2008 erschienene Werk „Með suð í eyrum við spilum endalaust
“ ermöglichte. Mit der abendfüllenden Dokumentation „Heima
“ setzen Sigur Rós – unter Zuhilfenahme des Regisseurs Dean DeBlois – sich selbst, ihrer Musik und ihrer Heimat ein ebenso klischeebeladenes wie monumental rauschhaftes filmisches Denkmal. Frontmann Jónsi tobte sich für anderweitige musikalische Interessen derweil zusätzlich beim gemeinsamen Kunstprojekt Jónsi & Alex, welchem noch sein Lebensgefährte Alex Somers angehört, auf seinem 2010 veröffentlichten Solodebüt „Go
“ sowie dem Soundtrack zu Cameron Crowes letzten Kinofilm „Wir kaufen einen Zoo“ aus. Alles gut also – Friede, Freude, Walfischfleisch? Nun, einzig „Valtari“ ließ vermuten, dass Sigur Rós in all den Jahren der Biss – sprich: die Eier – abhanden gekommen waren…
Umso erstaunter – im ausdrücklich positivsten Wortsinn – dürfte man reagiert haben, als vor einigen Wochen „Brennisteinn“, der erste Albumvorbote, welcher nun auch „Kveikur“ eröffnet, mitsamt dem dazugehörigen Musikvideo das Licht des weltweiten Netzes erblickte. Knarzende Bassschläge und mannigfaltige Gitarren brechen sich durch dröhnende Warnsirenen ihre Bahn, während Jónsi dem Song in der ihm schönsten entrückten Art seine Stimme leiht. Eine wahre Katharsis, eine knapp achtminütige Explosion im Kleinen! Hoppladihopp, sie sind zurück! Doch glücklicherweise belässt es das Trio nicht dabei und schafft es, innerhalb der 48 Minuten eine dermaßen dichte Atmosphäre aufzubauen, in der die neuen neun Stücke – vielleicht sogar erstmals seit dem bereits 15 Jahre zurückliegenden Meisterwerk „Ágætis byrjun“ – vor allem als eines funktionieren: als großes Ganzes, im Gesamtverbund. Denn egal, ob die Band Industrial- (das Titelstück „Kveikur“) oder Elektronik-Bezüge („Yfirborð“) in ihren Klangkosmos einwebt, mit melancholischer Euphorie gen Firmament zu entschwinden versucht („Ísjaki“) oder zu triballastigem Schlagzeugrhythmen einfach alle Zweifler im Marsch überrennt (das Doppel aus „Rafstraumur“ und „Bláþráður“) – schon lange fiel es nicht mehr so leicht, der isländischen Band hoffnungslos zu verfallen. Freilich dürfte ein Album wie „Takk…“ die im Zweifel eingängigeren Einzelsongs besitzen, dürfte „( )“ mystischer erscheinen, dürfte „Með suð í eyrum við spilum endalaust“ höher und hoffnungsvoller gen Himmel weisen. Jedoch bindet „Kveikur“ alles festgezurrt zusammen, was Sigur Rós im besten Sinne ausmachen mag: das Opulente, das Mystische, das Umarmende, das Zupackende – im direkten Infight mit kleinen, beherzten Nackenschlägen und fiesen dampfwalzengleichen Tritten in die Magengegend. Und zwar immer dann, wenn man drauf und dran sein möchte, der Band ihre eigene postrock’sche Spährigkeit zur Last zu legen. Und wem all das noch nicht reichen sollte, darf im sanften Piano-und-Streicher-Abschluss „Var“ gern noch ein paar Herzen beim Zerbrechen zuhören…
Mit „Kveikur“ melden sich Birgisson, Hólm und Dýrason zurück zu alten Stärken, kehren dem Dream-Pop-Ambiente des Vorgängers den Rücken und wenden sich den Shoegazing- und Post Rock-Stärken früherer Alben zu, kultivieren ihre Ausnahmestellung aus Islands liebste Sonderlinge und machen sich so wohl selbst das größte Geschenk. Und obwohl man erneut – anhand der Übersetzungen der Songtitel „Kveikur“ („Docht“), „Brennisteinn“ („Schwefel“), „Yfirborð“ („Oberfläche“), „Stomur“ (Sturm“) oder „Bláþráður“ („dünner Faden“) – allenfalls erahnen kann, wovon dieses Männchen aus dem hohen Norden da tatsächlich singt, kann genau das einem genau das doch herzlich egal sein. „Kveikur“ ist wie eine Wanderung durch ebenso eisige wie majestätische Berglandschaften, nur um bei Nacht und Sternenhimmel im wohlig warmen Geysir zu baden. „Kveikur“ reißt Elfen heimtückisch die kleinen Flügelchen aus, schlägt Harpunenpfeile durch Trollherzen und hängt die Kadarver zum Ausbluten in die Sonne direkt vor der einsamen Blockhütte. „Kveikur“ ist wie ein Spaziergang durchs arschkalte Reykjavík, immer mit dem Wissen, dass der schönste Sonnentag des Jahres in den nächsten Minuten beginnt. „Kveikur“ ist Freude, Euphorie, Empathie, Pathos, Zartheit, Intensität und Melancholie – ein in sich verankertes Höllenspektakel, ein manisch schöner Tanz mit den Engeln. „Kveikur“ ist der Tanz zur Architektur vor den heiligen Hallen des Kopfkinos. Und ich? Habe versucht, Klischee Klischee bleiben zu lassen und über Musik zu schreiben… Dabei gilt bei „Kveikur“ mehr denn je: einfach zuhören!
Für all jene, die’s auf ANEWFRIEND verpasst haben sollten, gibt’s hier noch einmal „Brennisteinn“ in Bild und Ton:
Und da Sigur Rós zwar eine durchaus virtuose Studioband sind, in jedem Fall jedoch auch ein hervorragendes Liveerlebnis, sei jedem hier der feine, 2011 erschienene Konzertfilm „Inni“ ans Herz gelegt, der im Paket einen 75-minütigen Auftritt im Londoner Alexandra Palace in Bild (der in Schwarz-weiß gehaltene Konzertfilm auf Blue-ray/DVD ) und Ton (eine CD liegt bei) enthält:
Rock and Roll.