Archiv der Kategorie: Klassiker des Tages

Mad Seasons „Above“ – 28. Geburtstag des wohl spontansten Supergroup-Albums der Grunge-Geschichte


(gefunden bei Facebook)

Hier zu sehen: Ein Foto von Krista Kay, welches Layne Staley und seine damalige Freundin Demri Lara Parrott zeigt. Nicht wenige Freunde des gepflegten Neunziger-Alternative-Rocks werden schnell merken, dass selbiger Schnappschuss als Inspiration für das Cover des einzigen Albums von Mad Season, „Above„, diente, bei dem Staley die Fotografie in eine in grobem Schwarz-weiß gehaltene Illustration verwandelte. Lange Zeit wurde außerdem gemunkelt, dass Demri auch das Mädchen auf dem Cover des 1992 erschienenen Alice In Chains-Erfolgsalbums „Dirt“ war – schlussendlich eine Ente, denn dort ist das Model und die Schauspielerin Mariah O’Brien zu sehen…

Doch werfen wir, dem 28. Jahrestag entsprechend, einen Blick zurück auf „Above„.

Foto via etsy

Die am 14. März 1995 – knapp ein Jahr nach dem Tod von Nirvana-Frontmann Kurt Cobain – erschienene Platte kann man, ganz ohne sich allzu weit aus dem tönenden Fenster zu lehnen, neben Temple Of The Dogs im April 1991 veröffentlichten selbstbetitelten Langspieler als den zweiten „außerplanmäßigen Grunge-Meilenstein“ bezeichnen, schließlich stecken dahinter Mad Season, eine Art Supergroup des damals äußerst populären Seattle-Sounds mit Mitgliedern von Alice In Chains, Pearl Jam und den Screaming Trees. Dass das Album ihre einzige Veröffentlichung bleiben sollte? Hat nicht wenige tragische Gründe, trägt jedoch auch heute noch zur mystischen Aura der zehn Stücke bei.

Rückblickend betrachtet trägt es natürlich massig bittere Schicksalsironie mit sich, dass das Projekt Mad Season seinen Ursprung ausgerechnet in einer Entzugsklinik findet, in der sich 1994 Pearl Jam-Gitarrist Mike McCready und Bassist John Baker Saunders (später The Walkabouts) treffen. Allem Rockstar-Klischee zum Trotz lässt sich sich allerdings damals noch nicht absehen, dass sowohl Saunders als auch der für Mad Season als Frontmann rekrutierte Alice In Chains-Sänger Layne Staley an einer Überdosis dahinscheiden werden. Ganz im Gegenteil: Damals hofft Mike McCready noch insgeheim, dass der Umgang mit den nunmehr nüchternen Mitmusikern seinen Freund Layne ebenfalls dazu anstiftet würde, den Drogen zu entsagen. Von Screaming Trees-Schlagzeuger Barrett Martin komplettiert begibt sich die Supergroup im Winter 1994 an die Arbeit – und kommt recht schnell voran. Innerhalb von nur sieben Tagen steht die instrumentale Grundierung für eine Platte, während Staley lediglich ein paar weitere Tage für seine Texte und Gesangsmelodien benötigt. In den renommierten Bad Animals-Studios in Seattle entsteht mit „Above“ binnen kurzer Zeit somit das wohlmöglich spontanste Supergroup-Album der Grunge-Geschichte. 

Mad Season: Barrett Martin, Layne Staley, John Baker Saunders und Mike McCready (v.l.) – Foto: Promo/Columbia

Musikalisch lässt sich die stilistische Ausrichtung von Band und Album zumindest zum Teil vom Sound der drei Stammbands ableiten. Während McCready sein von Pearl Jam bekanntes Faible für straighten Siebziger-Rock einbringen kann und Screaming Trees-Trommler Martin für psychedelisch angehauchte Rhythmen sorgt, kann (und will) Staleys gleichsam peingeprägtes wie sonores Organ seine Alice In Chains-Herkunft nicht verleugnen. Dabei gelingt es dem Sänger jedoch, sich stimmlich aufgrund des überwiegend ruhigen und weniger aufbrausenden Materials noch elegischer und somnambuler im molligen Elend von Black Sabbath-Blues, Roots, Classic Rock und sogar Jazz zu suhlen. 

Auf dem Opener „Wake Up“ macht indes Bassist John Baker Saunders die Vorhut: Seine tänzelnde Tieftonfolge bildet ohne Zweifel die einleitende Basis für einen schlafwandlerischen Song, der sich mit „Riders On The Storm“ von den Doors die perlende Marimba-Grundstimmung teilt. Dagegen klingt das anschließende „X-Ray Mind“ mit Tribal-Rhythmen, Hendrix-Gitarren und Staleys markantem, mehrspurigem Gesang schon wieder eher wie ein Stück aus dem Neunziger-Grunge-Lehrbuch. Die erste Single-Auskopplung hingegen, das finsteren Folk und Americana-Klänge anschlagende „River Of Deceit“, spiegelt fast etwas von der todtraurigen Hymnik von Temple Of The Dog wider, mit welcher insbesondere Chris Cornell von Soundgarden seinem Freund, dem 1990 verstorbenen Sänger Andrew Wood von Mother Love Bone, gedachte.

Für den vergleichsweise flotten Midtempo-Rocker „I’m Above“ (samt charakteristischem Pearl Jam–Riff) gesellt sich zudem noch der in der Seattle-Szene recht umtriebige Screaming Trees-Sänger Mark Lanegan mit seinem unverkennbaren Bariton zu Staley ans Mikro. Es bleibt nicht Lanegans einziger Einsatz, denn auch dem zwischen Nick Cave und Tom Waits pendelnden und zusätzlich mit einem samtenen Film-Noir-Saxophon veredelten „Long Gone Day“ drückt Lanegan an etwas späterer Stelle ebenfalls stimmlich seinen unverkennbaren Stempel auf. 

Während der zuerst fiebrig brodelnde und dann langsam eruptierende Instrumental-Jam von „November Hotel“ Stimmung und Motive von „Wake Up“ wieder aufgreift, lugt beim ätherischen Finale „All Alone“ gar hypnotische Hippie-Lagerfeuerstimmung ums musikalische Eck. Das ursprünglich zehn Songs umfassende Debüt wird für die Band nach seiner Veröffentlichung am 14. März 1995 jedenfalls zu einem moderaten Hit und bringt es immerhin auf Goldstatus. Doch wie es bei solchen Projekten oftmals der Fall ist, verhindern vor allem die Verpflichtungen der einzelnen Akteure mit ihren Hauptbands, dass aus ein paar Liveshows im selben Jahr noch viel mehr wird. 

Für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt, gibt es zwar 1997 noch einmal den losen Versuch, die Band – diesmal mit Mark Lanegan als Hauptsänger und unter dem Namen Disinformation – zu reaktivieren. Doch auch diese Bemühungen verlaufen alsbald im Sande. Der unerwartete Tod von Bassist John Baker Saunders an einer Heroin-Überdosis im Januar 1999 bedeutet für Mad Season dann das erste offizielle Aus. Staleys ebenfalls drogenbedingter Tod im April 2002 (tragischerweise exakt acht Jahre nach dem Tod von Cobain, die ganze traurige Geschichte findet man hier) besiegelt das Ende des Bandprojektes schließlich unwiederbringlich. 

Obwohl: Nein, nicht ganz unwiederbringlich: So widmen sich die verbliebenen Bandfreunde 2013 einer um Liveaufnahmen und neues Studiomaterial erweiterten Box-Set-Neuauflage von „Above“. Jene wartet, neben einem Mitschnitt des lange Zeit als Bootleg kursierenden Konzerts im The Moore in Seattle im April 1995, auch mit drei von Lanegan neu eingesungenen Stücken auf, die ursprünglich aus Sessions für einen geplanten „Above“-Nachfolger stammen und sich qualitativ keineswegs hinter dem originären Material verstecken müssen. Dazu gehört etwa das von R.E.M.-Gitarrist Peter Buck mitverfasste „Black Book Of Fear„. Ob mit oder ohne diese Dreingaben: „Above“ ist und bleibt nicht nur ein extrem formidable gealtertes Grunge-Album, sondern auch eines der zeitlosesten Zeugnisse der künstlerischen Qualitäten des Seattle-Sounds. Und hat durch Mark Lanegans plötzlichen Tod im Februar 2022 leider noch einmal ein paar weitere – und auch dieses Mal zweifellos unerwünschte – traurig-tragischen Nebelschwaden dazu erhalten.

Rock and Roll.

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Klassiker des Tages: Television – „Marquee Moon“


An kaum einer anderen Stadt lassen sich die Entwicklungen und Umbrüche der Musik des 20. Jahrhunderts so genau verfolgen wie in New York City. Sei es Harlems Jazz-Szene der 1920er Jahre, die Duke Ellington und den Cotton Club hervorbringt, oder Charlie Parkers Aufstieg zum Dauergast der Clubs in Midtown Manhattan. Es lässt sich nicht über die Geburt von Hip Hop sprechen (respektive schreiben), ohne DJ Kool Hercs Partys in der West Bronx zu erwähnen. Im Westen Manhattans prägt das Greenwich Village in den Sechzigern das Folk Revival mit Bob Dylan und Joan Baez ebenso wie das East Village den Anti-Folk rund um die Moldy Peaches Anfang des neuen Jahrtausends.

Die Namen der Cafés und Clubs, aber auch die Häuserschluchten und Hinterhöfe präg(t)en die Gesichter dieser Szenen. Sie sind gleichermaßen Requisiten wie Akteure in der popkulturellen Erinnerungsarbeit. Im Falle New York Citys, das in seinen vergleichsweise jungen 600 Jahren Stadtgeschichte nicht eben wenig Historisches erlebt hat, lässt sich so Musikgeschichte auf geografischer Ebene erkunden, wenngleich die Verbindung von Orten und Musik eher ungeplant verläuft und mitunter ganz profane Gründe haben kann.

Ende der Sechzigerjahre steigen die Mieten im East Village, das zu dieser Zeit stark von der Kunst- und Musikszene rund um Andy Warhols Factory geprägt wird. Das Problem ist heute kein anderes: Gentrifizierung, denn nach Leerstand kommt Kunst und nach Kunst der schnöde Mammon. Aber gerade diese Szene zwischen The Velvet Undergrounds Heroin-Chic und dem grellen Drag des nach New York schwappenden Glam Rock übt eine verständlicherweise große Faszination auf die US-amerikanische Jugend aus.

So landen um 1970 herum zwei Privatschüler aus Delaware im Big Apple – genauer gesagt in der Bowery im verrufenen Südosten Manhattans. Hier sind die Mieten so günstig wie die Kriminalitätsrate hoch ist. Es gibt genügend Freiräume für junge Dichter wie Richard Lester Meyers und Thomas Miller, die sich bald Richard Hell und Tom Verlaine rufen lassen. Zusammen starten sie 1972 das Musikprojekt The Neon Boys, aus dem ein Jahr später das von Gitarrist Richard Lloyd und Schlagzeuger Billy Ficca komplettierte Quartett Television hervorgeht.

Als eine der ersten Bands finden Television den Weg ins CBGBs. Ebenfalls in der Bowery gelegen, wird der gerade gegründete Club schnell zum Epizentrum einer neuen Szene, an deren Speerspitze Television neben Blondie, der Patti Smith Group und den Ramones stehen. Aus verschiedenen Richtungen finden diese Bands zum rohen Sound des Punk Rock, der die zweite Hälfte der Siebziger dominiert.

Television lassen sich dabei vor allem von den 13th Floor Elevators, Lou Reed oder dem Jazz-Saxofonisten Albert Ayler inspirieren. Bereits 1974, drei Jahre vor der Veröffentlichung ihres Debüts, entstehen die meisten Songs in einer Demo-Session mit Roxy Music-Mitbegründer Brian Eno. Tom Verlaine missfällt jedoch der kühle Sound der Aufnahmen, daher lehnt der Band-Kopf viele Angebote von Labels ab, die ihm nicht die Oberhand in der Produktion zusichern.

Auch innerhalb der Band kommt es schnell zu Reibereien, driften die Pole Hell und Verlaine auseinander. Letzterer fokussiert sich immer stärker auf einen professionellen Sound, während Bassist Richard Hell auf und abseits der Bühne einen wilden, unkontrollierten Stil pflegt. Mit struppigen Haaren und Sicherheitsnadeln in Hose und Lederjacke soll er Malcolm McLaren, dem legendären Musikmanager hinter den Sex Pistols, als Vorbild für die britische Version der Szene gedient haben. Letztlich kommt es 1975 zum Bruch zwischen den Jugendfreunden, Hell verlässt die Band und gründet bereits eine Woche später mit New York Dolls-Gitarrist Johnny Thunders die Band The Heartbreakers. Er wird von Ex-Blondie-Bassist Fred Smith ersetzt.

Anfang 1977 bringt schließlich Elektra Records das Television-Debüt „Marquee Moon“ heraus. Im „goldenen Jahr des Punk“ wirkt das Album gleichsam deplatziert und doch voll am wilden Puls der Zeit. Ein Widerspruch? Mitnichten, denn „Marquee Moon“ skizziert wie kein anderes Album das New York der frühen Siebziger: Städtisches Elend und der Hedonismus einer jungen, drogenbefeuerten Szene bieten die Grundstruktur der Platte, direkt verkörpert von Verlaines einzigartiger, an Lou Reed erinnernder Stimme. Sie ergießt sich in einem kränklichen Nölen über die Songs, seltener schwingt sie dann in ein fast schon selbstgefälliges Lallen um.

Dagegen steht die untypische Versiertheit der Musiker. Wechselseitig ergänzen sich beide Gitarren, indem sie nacheinander in die Leerstellen der Rhythmen kriechen und die Tonleitern auf und ab klettern, ohne dabei die Eingängigkeit ihrer Melodien aus den Augen zu verlieren. Tom Verlaine und Richard Lloyd fügen sich an den Gitarren ganz nach Jazz-Manier ein oder setzen Kontrapunkte zum Rest der Band. Ebenso lässt sich die Neigung zum Jazz in Billy Ficcas leichthändigem Schlagzeugspiel finden.

Aller Versiertheit zum Trotz landen Television dabei keineswegs in der Improvisations-Sackgasse, auch nicht im zehnminütigen Titelsong des Albums. Wie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ein „Rolling Stone“-Kritiker anmerkt, flirten sie nur mit der Formlosigkeit, während sich die eingängigen Riffs in den Hinterkopf meißeln.

Auf textlicher Ebene führt „Marquee Moon“ auf eine Reise durch ebenjene hedonistische Szene und ihre großstädtische Moloch-Bühne. Verlaines assoziative Lyrik orientiert sich an Rimbaud und Ginsberg, atmet aber gleichzeitig den Muff der dreckigen Straßen. Das Album lässt sich voll und ganz als existenzialistischer Trip durch das nächtliche New York lesen. Den überschwänglichen Riffs des Openers „See No Evil“ dichtet Verlaine die Zeilen „Cuz what I want / I want now / It’s a lot more / Than ‘anyhow‘“ an. In Verbindung mit dem psychedelischen Garage-Sound des Songs baut sich eine Art Freitagabend-Hymne auf, welche im Slogan „Pull down the future with the one you love“ mündet.

„Venus“ erzählt von einem Drogentrip, der den glitzernden Broadway auf surreale Weise verzerrt. Verlaines Alter Ego stolpert herum, verkleidet sich mit seinem Freund Richie (Hell) als Polizist und fällt der armlosen antiken Statue Venus von Milo in die Arme. Kopfüber im Blues getränkte Paranoia begegnet einem in „Friction“, das in jene dunkle Gassen führt, die den Heroin-Opfern gehören: „It’s just a little bit back from the main road / Where the silence spreads and men dig holes.“

Höhepunkt des Albums wie auch des Drogentrips ist zweifellos der Titeltrack „Marquee Moon“. Stoisch wühlen sich Gitarrenriff und Basslauf über zehn Minuten lang durch den Song, während Verlaine ihn von allen Seiten mit Soli garniert und Ficcas Schlagzeug diesem Dekor wie einbetoniert entgegensteht. Verlaines Erzähler hingegen steht still, als der Trip abschwächt und sich existenzielle Ängste vor Leben und Tod einstellen.

Folgerichtigerweise prägen „Elevation“ und „Prove It“ die zweite Hälfte mit einer Art rotziger Verzweiflung. Das lyrische Ich schläft am Ufer des East River ein und wacht schließlich, von den Wellen geweckt, dort auf. Trotz des musikalischen Optimismus‘, den auch „Guiding Light“ verströmt, sind in „Prove It“ die grellbunten Klamotten der letzten Nacht im Tageslicht nur noch grau: „Now the rose / It slows / You in such colorless clothes / Fantastic! You lose your sense of human„.

Schließlich legt sich ein zerrissener Vorhang über das surreale Schauspiel der Nacht. „Torn Curtain“ stellt weniger einen Epilog als vielmehr einen Trauermarsch dar. Seltsam eingängig kriecht das fast siebenminütige Stück entlang, während Verlaines Gitarre jaulend gegen die vorbeiziehenden Jahre ankämpft. „Tears…rolling back the years / Years … flowing by like tears.“ Nächte und Drogentrips wiederholen sich, aber das miese Gefühl bleibt bestehen.

Die Selbstbeschreibung einer Szene endet mit einem pessimistischen Urteil – und doch feiert „Marquee Moon“ sich selbst. Perspektivlosigkeit wandelt sich zu Hedonismus, Glücksgefühl zu Horrortrip. Television besingen ein halbes Jahrzehnt in der Bowery, im CBGBs, in verfallenen Häusern und dunklen Gassen. Ihr Debüt-Langspieler kondensiert all das in eine bunte Nacht und einen grauen Morgen in New York City.

Tom Verlaines Assoziationen zu Orten und Gefühlen einer Szene bleiben über die Jahre bestehen. Sie lassen sich in seinen Songs zurückverfolgen wie die Musikgeschichte anhand des Stadtplans von New York City. Das kann nicht einmal eine schicke Herrenboutique im alten CBGBs-Gebäude ändern. Denn mittlerweile ist die Bowery längst gentrifiziert worden. Aber in den Fotos von Robert Mapplethorpe und Chris Stein, den frühen Filmen von Jim Jarmusch und Amos Poe oder eben in „Marquee Moon“ und dem im selben Jahr von Richard Hell veröffentlichten Album „Blank Generation“ stechen diese Assoziationen einer Szene weiter deutlich hervor.

Wenngleich Televisions Debütalbum vor allem in Großbritannien auf Resonanz bei Publikum und Kritikern stößt, bleibt es seinerzeit ein kommerzieller Misserfolg. Dennoch gilt das Werk heute als Klassiker der Rockmusik und ist in zahlreichen Bestenlisten auf vorderen Rängen vertreten, etwa belegt es Platz 107 der 500 besten Alben aller Zeiten des „Rolling Stone“. Im April 1978 folgt „Adventure„, das trotz guter Kritiken nicht aus dem Schatten des wegweisenden Vorgängers heraus kommt. Kurz darauf löst sich die Band aufgrund musikalischer Differenzen und Richard Lloyds vermeintlicher Drogensucht auf. Die Mitglieder verfolgen Solokarrieren, wobei sowohl Verlaine als auch Lloyd Soloalben veröffentlichen. 1992, 14 Jahre nach ihrer Trennung, nimmt die Band noch einmal ein neues, simpel „Television“ betiteltes Album auf, welches zwar erneut weitgehend wohlwollend bewertet wird, kommerziell jedoch wenig Erfolg hat, und geht ab 2001 wieder regelmäßig auf Tournee. Am 23. Januar 2023 stirbt Tom Verlaine nach kurzer Krankheit im Alter von 73 Jahren in Manhattan. Damit dürften Television wohl endgültig (Rock-)Geschichte sein, ihr Einfluss, welcher sich bei kaum weniger bekannten Musikheroen wie The Police oder U2 ebenso hörbar bemerkbar macht wie bei jüngeren Gitarrenrockbands wie etwa den Strokes, bleibt unumstritten groß.

Rock and Roll.

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Klassiker des Tages: Meat Loaf – „Bat Out Of Hell“


Schon mit seinem Debüt gelingt Meat Loaf, der im Januar im Alter von 74 Jahren verstarb, eine unfassbare Sensation: „Bat Out Of Hell„, welches dieser Tage sein 45. Jubiläum feierte, wird aus dem Nichts zu einem der erfolgreichsten Alben aller Zeiten. So weit, so bekannt. Dennoch lohnt ein Blick auf die durchaus interessante Geschichte hinter dem Klassiker…

Alles beginnt mit Peter Pan. Denn eigentlich hat Komponist Jim Steinman vor, eine futuristische Variante des Kinderbuchklassikers auf die Bühne zu bringen. Schon 1974 schreibt er die Songs dazu, führt die Rock-Oper 1977 auch auf. Da haben er und sein Kumpel Marvin Lee „Meat Loaf“ Aday aber längst eine andere Idee: Weil ihnen drei der Songs als außergewöhnlich auffallen, entschließen sie sich dazu, ein ganzes Album darum zu stricken. Steinman schreibt die Songs, Meat Loaf singt sie ein. So weit, so gut, schließlich haben tausendundein Geschichten davor auf ganz ähnliche Weise begonnen, tausendundzwei Geschichten nahmen seither ebenjenen Anfang. Doch diese hier ist anders – und bringt eines der erfolgreichsten Alben aller Zeiten hervor: „Bat Out Of Hell„, die vom ROCK beseelte Fledermaus direkt aus dem Höllenschlund, von welchem bis heute mehr als 43 Millionen Exemplare davon verkauft wurden.

Wie so etwas passieren kann, ist ja nie so ganz genau zu erklären. Bei manchen Platten dieser Größenordnung stecken lange und erfolgreiche Karrieren dahinter (siehe Eagles), bei anderen wiederum gigantische Marketing-Kampagnen (siehe Michael Jackson). Aber bei dieser hier? Eigentlich weder noch. Meat Loaf kennen damals ein paar wenige Eingeweihte als talentierten Darsteller aus Musicals wie „Hair“ oder „Rocky Horror Picture Show“, Steinman schreibt Songs für Theater und Bühne. Zwei Menschen aus der Theaterwelt, die plötzlich die beinharte, etablierte Welt des Rock’n’Roll auf den Kopf stellen? Im Grunde unerhört!

Und lange Zeit sieht es, zugegebenermaßen, auch nicht danach aus. Das Jahr 1975 wird überwiegend für Aufnahmen verwendet, danach verbringen die beiden zwei geschlagene Jahre damit, eine Plattenfirma für die Songs zu finden. Niemand will sie, niemand nimmt sie ernst, niemand sieht in dem Theaterschauspieler, der eben nicht das enigmatische Antlitz eines Jim Morrison vorzuweisen hat, einen probaten Rockstar. „Die Songs sind viel zu theatralisch und aus diesem ‚Meat Loaf‘ wirst du nie eine Berühmtheit machen“, hieß es von zahlreichen Seiten. Es ist quälend, enervierend, die beiden stehen ständig kurz vorm formvollendeten Resignieren.

Am Ende ist es Steven Van Zandt, der Gitarrist von Bruce Springsteens E Street Band, der die beiden zu Cleveland International Records bringt. Kohle gibt es keine, Produzent Todd Rundgren muss das Album gar binnen einer Nacht mixen – man merkt: auch bei dieser Plattenfirma will man nicht so recht an die Idee, das Werk und seine Songs glauben. Als das Album schließlich am 21. Oktober 1977 erscheint, nimmt zunächst niemand groß Notiz davon und es scheint, als würden all die ablehnenden Stimmen Recht behalten. Dann, ganze sechs Monate nach Veröffentlichung, strahlt die BBC einen Live-Clip von Meat Loaf und Jim Steinman aus. Und von England aus geraten Dinge ins Rollen, die fortan kaum mehr aufgehalten werden können, denn noch heute verkauft sich „Bat Out Of Hell“ immer noch etwa 200.000 Mal pro Jahr.

Und Meat Loaf? Der geht durch die Decke, wird – entgegen aller Unkenrufe – zum veritablen Rockstar. Und das mit einem aufgeblasenen, theatralischen Rock-Leviathan voller Pomp und Pathos, mit einem Hang zur melodramatischen Überlänge und -größe – und zum Auftritt im alsbald ikonischen Rüschenhemd. Kaum verwunderlich, dass dieses Gesamtpaket bei der – vor allem damals, in den Siebzigern, noch – verdammt hochnäsigen Presse nicht eben gut ankommt. Führende Blätter zerpflücken das Album mit spöttischer Leichtigkeit in der Luft, der „Rolling Stone“ betreibt Fat-Shaming, indem er eine Live-Kritik mit „Fat Out Of Hell“ betitelt. Nicht eben charmant, wenngleich damals keine Seltenheit (im Zweifel frage man mal bei Led Zeppelin nach).

Was vielen bis heute jedoch nicht ganz bewusst ist: Auch wenn Meat Loaf und Jim Steinman, der im April 2021 im Alter von 73 Jahren verstarb, „Bat Out Of Hell“ keineswegs als reine Parodie konzipiert haben, so sind die Songs in ihrer bewussten Überzeichnung tatsächlich überwiegend als augenzwinkernde Humoreske gemeint. Wohlmöglich kommt hier einmal mehr die Musical-Erfahrung des kreativen Duos zum Tragen, schließlich sind in diesem Genre derbe Klischees, hanebüchene Plattitüden und Tropen nicht eben unüblich – und finden so ihren Weg auf eine der erfolgreichsten Rock-Platten aller Zeiten, garniert mit jeder Menge doppelbödiger Texten. Daher mag man es allen Kritikern, die ob dieser überbordenden Melange überfordert sind, nachsehen, ebenso wie allen, die die Doppelbödigkeit des Albums zunächst nicht wahrnehmen – ganz im Gegensatz zu etwa Todd Rungren, der sich nur basierend auf dem Humorfaktor dazu entschließt, das Werk zu produzieren.

Heute, beinahe ein halbes Jahrhundert später, macht genau das „Bat Out Of Hell“, dem Meat Loaf und Jim Steinman 1993 und 2006 noch zwei weitere Teile folgen lassen, aus: Es ist eine wagnerianische Rock-Oper von ausladender Üppigkeit und übertriebener Fülle, herrlich anachronistisch und so zielgenau an allen Trends vorbei, dass es eine schiere Freude ist. Geschrieben in einer heruntergekommenen WG in New York City, aufgenommen mit kaum einem Dollar in der speckigen Tasche – und genau deswegen eine dieser unglaublichen Antiheldenstorys, die der Rock’n’Roll nunmal braucht. „Bat Out Of Hell ist echter als 95 Prozent aller Alben“, sagte Meat Loaf einmal. Dem gibt es im Grunde nichts hinzuzufügen.

Apropos Rock’n’Roll: Der erste große Höhenflug endet für Meat Loaf allerdings schnell in einem fast tödlichen Desaster, denn eine stets sehr wirkungsvolle – und im Rock-Zirkus hinlänglich beliebte – Mischung aus extensivem Touren, Alkohol und Drogen raubt ihm noch vor Ende des Jahrzehnts seine Stimme. Die Musik, die Entstehung, der Lifestyle: Alles eben ein wenig exzessiver, wilder und ungewöhnlicher als bei vielen anderen.

Rock and Roll.

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Song des Tages: The Smiths – „The Queen Is Dead“


Foto: IAN TILTON/CAMERA PRESS/REDUX

70 Jahre und 214 Tage – und damit länger als jeder britische Monarch vor ihr – hatte sie den Thron inne und die Krone auf ihrem Haupt. Während dieser Zeit sah sie Staatsoberhäupter kommen und gehen (unter anderem allein 14 britische Premierminister), erlebte Kriege und Krisen. Sie empfing zahlreiche Staatsgäste und Künstler*innen, wie etwa seinerzeit die Beatles, im Buckingham Palace, war als Monarchin jedoch nie gänzlich weltfremd, sondern lobte zum Beispiel – um beim Pop zu bleiben – Bob Geldof für „Live Aid“ und sein soziales Engagement. Am gestrigen 8. September 2022 ist Königin Elisabeth II. mit 96 Jahren auf ihrem Landsitz im schottischen Balmoral Castle gestorben. Aufgrund ihres hohen Alters zwar erwartbar, aber dennoch ein Moment der Zeitgeschichte, schließlich hat jede(r) von uns bislang nur diese eine britische Regentin erlebt.

Dass die Queen abseits aller Sympathiewerte unter ihren „Untertanen“ durchaus polarisierte und speziell in der britischen Popwelt nicht alle Fans eines im Grunde überaus gestrigen Konzeptes wie dem der Erbmonarchie waren, beweisen Dutzende von berühmt-berüchtigten Songs, welche die Königin zum Inhalt haben: natürlich das ebenso spöttisch-nihilistische wie immergrüne „God Save The Queen“ der Sex Pistols (seinerzeit wegen „eklatanter Geschmacklosigkeit“ von der BBC boykottiert), Primal Screams „Insect Royalty“ (welches andeutet, dass in Großbritannien blaues Blut mehr zählt als Leistung), „Repeat“ von den Manic Street Preachers (bei welchem die selbsterklärten Kommunisten um James Dean Bradfield auf ihrem 1992er Debütalbum „Generation Terrorists“ zu deutlichem Punk-Vibe eine klare Ansage machten: „Repeat after me: ‘Fuck queen and country!’”) oder „Storm The Palace“ von Catatonia (Cerys Matthews und ihre walisische Alternative-Rock-meets-Britpop-Truppe hatten in diesem Song recht genaue Vorstellungen, was sich aus dem Buckingham Palace sonst noch so machen ließe, und was die Leute, die dort leben, stattdessen tun sollten: „Storm the palace, storm the palace / Turn it into a bar, make ‚em work at Spar“). Meinetwegen ließe sich auch das knappe „Her Majesty“ der Beatles, welches damals das „Abbey Road“-Medley abschloss, in diese Liste einreihen, wenngleich die Queen dort zu beschwingter Melodie deutlich besser rüberkam: „Her Majesty is a pretty nice girl / But she doesn’t have a lot to say“.

Das wohlmöglich hämischste – und am direktesten titulierte – Lied in dieser frei erweiterbaren Auflistung stammt von Steven Patrick Morrissey und seiner Ex-Band The Smiths: „The Queen Is Dead“, anno 1986 der Opener des dritten – und wohlmöglich besten – Albums der Band aus dem britischen Manchester. Schon damals bewies vor allem der Smiths-Frontmann, dass er mit seinen überaus polemischen Ansichten nicht hinterm Berg halten wollte und sich im Laufe der Jahre zu einem dandy’esken Wutbürger, zum engstirnigen, vollumfänglichen Arschloch mausern sollte – wenngleich es auch andere Meinungen geben mag. Der Titel des Songs (welchen ABAY 2016 für ein eigenes Stück voll bitterer Enttäuschung über den Brexit aufgriffen) ist – allen fehlenden Sympathien für Morrissey zum Trotz – heute dennoch Programm, denn mit dem Tod der bisherigen Monarchin ändert sich nicht nur der Titel der britischen Nationalhymne zu „God Save The King“, es geht mit dem zweiten „elisabethanischen Zeitalter“ auch eine aus vielerlei Gründen bemerkenswerte Epoche zu Ende…

„Oh, take me back to dear old Blighty
Put me on the train for London Town
Take me anywhere
Drop me anywhere
In Liverpool, Leeds or Birmingham
But I don’t care
I should like to see…

I don’t bless them

Farewell to this land’s cheerless marshes
Hemmed in like a boar between archers
Her very Lowness with her head in a sling
I’m truly sorry but it sounds like a wonderful thing
I say, ‚Charles don’t you ever crave
To appear on the front of the Daily Mail
Dressed in your mother’s bridal veil?‘
(Oh, oh-oh, oh)

And so I checked all the registered historical facts
And I was shocked into shame to discover
How I’m the 18th pale descendant
Of some old queen or other
Oh has the world changed, or have I changed?
Oh has the world changed, or have I changed?
Some nine year old tough who peddles drugs
I swear to God, I swear I never even knew what drugs were
(Oh, oh-oh, oh)

So I broke into the Palace
With a sponge and a rusty spanner
She said, ‚Eh, I know you, and you cannot sing‘
I said, ‚That’s nothing, you should hear me play piano‘
We can go for a walk where it’s quiet and dry
And talk about precious things
But when you are tied to your mother’s apron
No-one talks about castration
(Oh, oh-oh)

We can go for a walk where it’s quiet and dry
And talk about precious things
Like love and law and poverty, oh, oh
(These are the things that kill me)
We can go for a walk where it’s quiet and dry
And talk about precious things
But the rain that flattens my hair, oh
(These are the things that kill me)
All their lies about makeup and long hair, are still there

Past the pub that saps your body
And the church who’ll snatch your money
The Queen is dead, boys
And it’s so lonely on a limb
Pass the pub that wrecks your body
And the church, all they want is your money
The Queen is dead, boys
And it’s so lonely on a limb

Life is very long, when you’re lonely…“

Rock and Roll.

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Kate Bushs „Running Up That Hill“ – Dank „Stranger Things“ ein viraler Charthit


Die Macher der Netflix-SciFi-Mystery-Serie „Stranger Things“ haben einem der Achtziger-Pophits von Kate Bush unlängst zu neuem Glanz verholfen. Und andersherum. Viele sehen darin eine reine Marketingmasche. Doch selbst wenn – es gibt allerlei gute Gründe, warum ein Song wie „Running Up That Hill“ noch immer funktioniert…

Fest steht: Die Achtziger sind zurück – und das nicht nur wegen dem in jenem Jahrzehnt angesiedelten Streaming-Serien-Hit. Teenager tragen wieder Batik-Shirts und Pastell-Töne. Leider – qualitativ war jene Dekade bekanntlich nicht die beste – wird das Revival auch in der Musik deutlich: Zu den beliebtesten Liedern auf TikTok gehört unter anderem gerade ein Cover von Madonnas „Like A Prayer“ (vorher ging ein Hype-Raunen um den 1977er-Fleetwood Mac-Hit „Dreams“ durch die digitale Plattform). Hinter dem überraschenden Neu-Erfolg von „Running Up That Hill“ bleibt jedoch selbst der Ciccone-Evergreen zurück, denn Kate Bushs Song aus dem Jahr 1985 wurde durch die neue Staffel von „Stranger Things“ nicht nur wieder in die Charts katapultiert, er ist heute sogar weitaus erfolgreicher als damals.

So schaffte es die ursprünglich auf Bushs fünftem Album „Hounds Of Love“ erschienene Nummer nun zum ersten Mal in die Top 5 der US-Charts, erklomm danach erstmals die Spitze der UK-Charts und führte auch die Single-Spitzenränge in Australien, Norwegen, Österreich oder der Schweiz an – schnell erreichte Streaming-Quoten machen so etwas heutzutage eben im Nu möglich. Dennoch ist der Erfolg in vielfacher Hinsicht bahnbrechend, schließlich liegen stolze 44 Jahre zwischen Kate Bushs erster UK-No. 1, „Wuthering Heights“ im Jahr 1978, und nun eben „Running Up That Hill“ 2022. „Dem Lied wurde neues Leben eingehaucht“, schrieb die britische Musikerin als Reaktion auf die unverhofften Erfolge, die ihr als alleinige Songschreiberin und Produzentin des Stücks mehr als zwei Millionen US-Dollar in die Kassen spülten, auf ihrer Website – und meint damit wohlmöglich auch ein bisschen sich selbst. „Ich bin überwältigt von dem Ausmaß an Zuneigung und Unterstützung, die der Song erfährt.“ Dies alles passiere „sehr schnell, als würde es von einer Art Urgewalt vorangetrieben“. Dabei ist der Kult um die mittlerweile 63-jährige Musik-Ikone, deren jüngstes Album „50 Words For Snow“ 2011 erschien, auch sonst ungebrochen. So treffen sich australische Fans etwa im Juli im „klassischen“ Kate-Bush-Outfit – rotes Kleid, roter Gürtel –, um zu ihrem Song „Wuthering Heights“ zu tanzen. Anno 2013 kamen zu einem ähnlichen Flashmob-Event 300 Leute, in diesem Jahr werden’s wohl ungleich mehr werden.

Interessant daran ist außerdem weniger, dass die Achtzigerjahre-Ästhetik mit all ihren verquer-grellbunten Alleinstellungsmerkmalen noch so gut funktioniert, als warum das Musikjournalisten in Zusammenhang mit einer Netflix-Serie so (ver)ärgert. Kristoffer Cornils etwa erregt sich im „Deutschlandfunk“ über zynisches Cross-Marketing und dass die Musikauswahl immer mehr Marketingzwecken angepasst werde. Während „Cicero“ gar ein „Armutszeugnis für den Zeitgeist“ ausstellt, sieht auch der „Spiegel“ den Song in der Serie „verramscht“. Das Stück selbst sei zwar „große Kunst“, füge der Ästhetik der Serie aber nichts hinzu, sondern reihe sich einfach in die seit vier Staffeln bestens bekannte Achtzigerjahre-Kulisse ein, schreibt Oliver Kaever: ein reines „Marketingtool auf einem riesigen Berg von Merchandise“.

Fakt ist, dass wir uns – auch abseits von Filmen und Serien – längst an Produktplatzierungen gewöhnt haben – egal, ob bestimmte Cornflakes-Packungen, Saftsorten oder Bierflaschen werbeschleichend im Bild herumstehen, der Hauptdarsteller rein zufällig und bestens ausgeleuchtet ins neueste Modell eines großen Autoherstellers steigt oder Influencer sich zu Beginn ihrer Videos ganz offen bei ihren Sponsoren bedanken. Doch mit Musik ist es – oder war es zumindest – anders, Musik ist persönlich. In „Running Up That Hill“ etwa geht es um eine Trennung, die von Bush schmerzlich-schön beschrieben wird: „Gibt es so viel Hass für jene, die wir lieben? Sag mir, wir zählen beide, oder nicht?“ Zeilen, die zu den ohrwurmigen Keyboard-Tönen bestenfalls direkt ins gefühlige Mark treffen und sich durch das Schlagzeug direkt ins Herz trommeln. Zeilen, die vielleicht anstrebende Musikjournalisten einmal bewegt haben, als sie Teenager waren und der Song gerade rauskam – damals, vor satten 37 Lenzen.

Denn der größte Aufreger scheint zu sein, dass auch hier das angestrebte Cross-Marketing der „Stranger Things“-Macher bestens funktioniert (was ja wiederum kein vollumfänglich neues Prinzip ist). Kate Bush, die ein Fan des soeben mit Staffel vier (wohlmöglich) zuende gegangenen Netflix-Serien-Hits sein soll, freute sich öffentlich nicht nur über den Erfolg ihrer Kunst, sondern auch auf den finalen zweiten Teil der vierten Staffel. Was ist daran so ärgerlich? Vielleicht, dass der Streaming-Milliardenkonzern Netflix, in Verkörperung der Serien-Macher Matt und Ross Duffer, ein Kunstwerk auf seine Funktionalität als schlichtes Marketingmittel beschränkt. Das Lied greift nicht länger nach unserer Seele, sondern nun – oh Schande, oh Kapitalismus! – nach unserem Geldbeutel! Ganz ähnlich erging es übrigens unlängst Nirvanas „Something In The Way“, als das Stück der US-Grunge-Heroen in der neuesten Fledermaus-Irgendwie-Antisuperhelden-Verfilmung „The Batman“ Verwendung fand. Ob sich Kurt Cobain 28 Jahre nach seinem Ableben deshalb mißmutig tobend im Grabe gewälzt hat? Dürfte immerhin anzunehmen sein…

Aber tut das Stück das wirklich, nach unserem schnöden Mammon greifen? Schließlich spielt „Stranger Things“ nunmal in den Achtzigern und „Running Up That Hill“ ist ein ikonischer Popsong dieser Zeit. Zudem passt selbst der Songtext, in welchem es um Trotz im Angesicht der Verzweiflung geht, in die Handlung: „Es tut mir nicht weh… Ich werde die Straße hochlaufen, den Hügel hochlaufen, das Gebäude hochlaufen. Wenn ich nur könnte…“. (Achtung Spoiler: In der Serie hört Max Mayfield, das starke, unabhängige Skater-Mädchen mit dem aggressiven Stiefbruder, immer wieder diesen Song, während sie sich durch die Unterwelt kämpft.) Und wie anziehend der Song ist, zeigten in der mehr oder minder jüngeren Vergangenheit Coverversionen von Placebo (im typischen Alternative-Rock-Outfit), der Elastic Band (im Disco-Fummel) oder Georgia (im kontemporären Pop-Outfit). Ja, es berührt die Jugend auch heute noch, wenngleich mithilfe anderer, neuzeitlicher Inspirationsquellen. Das Lied ist eben ein Klassiker. Und das Grundprinzip von Klassikern ist doch stets, dass sie verdammt zeitlos sind – 37 Jahre, „Stranger Things“, Netflix und die unsäglichen Achtziger hin oder her.

Und falls irgendjemand zum runden Abschluss noch einen interessanten Fun Fact haben mag: Dieses kleine Revival-Hoch passiert Kate Bush mit „Running Up That Hill“ in der Tat keineswegs zum ersten Mal. Nachdem ein Remix des Songs bei der Abschlusszeremonie der Olympischen Spiele 2012 in London verwendet worden war, kletterte die Britin schon einmal wieder zurück in die Charts – wenn man so mag wohl nur ein weiterer Beweis dafür, wie zeitlos das Stück durch die Jahre wandelt…

Und was passiert, wenn 1.600 Fremde ein paar Drinks nehmen und dann lernen, „Running Up That Hill“ in dreistimmiger Harmonie zu singen? Nun, dreht gern die Lautstärke auf, nehmt euch was Kühles für die Kehle und findet es heraus, denn die kreativen Köpfe des australischen Kneipenchor-Pojektes Pub Choir haben genau das ausprobiert:

Rock and Roll.

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Song des Tages: Zella Day – „Seven Nation Army“


Es gibt Gitarrenriffs, die jeder mitsingen kann. Im Schlaf. Erst recht in bierseliger Laune. Welche Musiker dahinter stehen und wie der entsprechende Song eigentlich heißt, ist den meisten dabei sogar oft verdammt egal. „Smoke On The Water“ von Deep Purple etwa, „Paranoid“ von Black Sabbath sicherlich, „Back In Black“ von AC/DC wohlmöglich, „Smells Like Teen Spirit“ von Nirvana ohne jeden Zweifel – und eben „Seven Nation Army“ von The White Stripes. Letzterer mittlerweile vor allem dank seiner Verbindung zum tumben Volksunterhaltungssport Fußball. Doch nicht so schnell, alles auf Anfang…

Januar 2002, The White Stripes waren gerade auf Tour in Australien. Der Soundcheck vor ihrer Show in Melbourne wurde unerwartet zu einem entscheidenen Moment in der Karriere des Duos. Jack White spielte zum ersten Mal die berühmten sieben Noten des Riffs von „Seven Nation Army“. Der Gitarrist und Bandkopf zeigte es Ben Swank, seines Zeichens Crew-Mitglied und Angestellter bei seiner Plattenfirma Third Man Records, der lediglich ein knappes „It’s OK“ darauf erwiderte. Ganz in Ordnung, Chef, aber irgendwie auch nichts Besonderes…

Nun, so kann man sich irren.

Jack White hoffte zu Beginn der 2000er, in der Zukunft einmal den Titelsong zu einem James-Bond-Film schreiben zu dürfen. Aus diesem Grund fasste er zunächst den Entschluss, das Gitarren-Thema aus Melbourne für ebenjenen Zweck aufzubewahren – eine Idee, die er schnell wieder über den Haufen warf, denn zu unwahrscheinlich erschien ihm dieses Szenario. Und dieses Mal war er es selbst, der sich irrte, schließlich durfte White etwas später tatsächlich den ersehnten Bond-Titelsong schreiben – und wohlmöglich ist das 2008 mit Alicia Keys veröffentlichte „Another Way To Die“ (für den Film „Ein Quantum Trost“) der vielleicht beste Bond-Titeltrack der jüngeren Geschichte…

Aber zurück zum eigentlichen Thema.

Also wurde daraus dann doch ein Song für The White Stripes und nicht für den Spezialagenten seiner Majestät im Vereinten Königreich. Zumindest geografisch rückten Jack und Meg White dabei nicht allzu weit von 007 ab, denn „Elephant“, das vierte, 2003 erschienene Album des Duos aus Detroit, Michigan, wurde in den Toe Rag Studios in London aufgenommen. Und „Seven Nation Army“ wurde von den beiden zum Opener des Albums erkoren.

Auch das Dahinter ist im Grunde recht schnell abgehandelt. So liegt etwa der Name des Liedes bis heute darin begründet, dass Jack White die Wörter „Salvation Army“, zu deutsch Heilsarmee, als Kind nicht richtig aussprach. Kurzerhand machte er „Seven Nation Army“ daraus. Ursprünglich nur als Arbeitstitel gedacht, avancierten die Wörter schließlich zum tatsächlichen Namen des Liedes, welcher sich inhaltlich mit Kleinstadt-Gossip auseinandersetzt. Jack Whites eigene Erfahrungen, insbesondere im Zusammenhang mit seiner Berühmtheit, bilden das Fundament des Textes.

Und das Klangliche? Nun, einem wichtigen Motto blieben The White Stripes auch auf „Elephant“ treu: keine Bass-Gitarren, Ladies und Bluesmänner! Den Sound des ikonischen Riffs von „Seven Nation Army“ erschuf Jack White mithilfe einer halbakustischen E-Gitarre aus den 1950ern, das Ausgangssignal wurde durch ein Effekt-Pedal namens Whammy der Firma Digitech um eine Oktave herunter transponiert. Ausreichend Fachsimpelei?

Dennoch waren anfangs nicht alle Parteien von dem späteren Evergreen begeistert. Neben Ben Swank musste Jack White auch die Vertreter seiner Partner-Plattenfirmen XL und V2 davon überzeugen, dass „Seven Nation Army“ ein großartiger Song war. Großartig genug sogar, um ihn zur ersten Single-Auskopplung des neuen Albums zu machen. Im Gegensatz zum Band-Frontmann erschien „There’s No Room For You Here“ den Label-Mitarbeitern als geeignetere Wahl – doch White blieb stur und hatte schließlich Erfolg.

Im Oktober 2003 begann dann die „ganze Sache mit dem Fußball“. Der belgische Club FC Brügge spielte in der Champions-League-Gruppenphase auswärts gegen eines der damals besten Teams der Welt: den AC Mailand. Milan hatte im Mai desselben Jahres die UEFA Champions League gewonnen und ging daher als haushoher Favorit in das Match im heimischen San Siro.

Vor dem Spiel vertrieben sich die mitgereisten Fans aus Belgien die Zeit in einer Bar in der Mailänder Innenstadt. Zwischen den Unterhaltungen über die sichere Niederlage gegen den italienischen Giganten, dem feuchtfröhlichen Klirren von Biergläsern und dem nervösen Rücken von Stühlen ertönte plötzlich ein äußerst prägnantes Gitarren-Riff, das sich selbst die betrunkensten Brügge-Fans merken konnten. „Seven Nation Army“ von The White Stripes nahm seinen Lauf – gemeinsam mit dem kleinen Fußball-Wunder am selben Abend, denn in der 33. Minute erzielte Andrés Mendoza das Siegtor für Brügge. Und die in die italienische Modemetropole mitgereisten Fans? Flippten selbstredend aus. Voller Euphorie erinnerten sie sich an die eingängige Melodie, die sie am Mittag gehört hatten (wenngleich auch nicht an den dazugehörigen Text), und grölten ausgelassen ein lautes „Oh…oh-OH-oh oh OHH OHH!“. Verbunden mit der seligen Sieg-Erinnerung nahmen die Anhänger des FC Brügge das Lied mit zurück nach Belgien und etablierten es fortan im eigenen Stadion.

Ein paar Jahre darauf, im Februar 2006, spielte der FC Brügge erneut gegen ein italienisches Team, nun aber zu Hause gegen den AS Rom im kleinen Bruder der Champions League, dem UEFA Cup (welcher sich heute „UEFA Europa League“ schimpft). Zwar verlor Brügge jenes Spiel mit 1-2, doch dies tat der Popularität von „Seven Nation Army“ als Fußball-Song keinen Abbruch – ganz im Gegenteil: Nun fanden auch die Anhänger der Roma Gefallen an dem leicht memorablen Mitgröhl-Riff des Songs und machten ihn sich zu eigen.

Die italienische Fußball-Legende Francesco Totti (785 Spiele mit 307 Toren in 24 Jahren als Profi beim AS Rom) kommentierte das Geschehen auf den Rängen gegenüber einer niederländischen Zeitung mit den Worten: „Ich hatte den Song noch nie gehört, bevor wir in Brügge aufs Feld gelaufen sind. Seitdem kann ich den ‚PO-PO-PO-PO-PO-POO-POO-Song‘ nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Es hat sich fantastisch angehört und die Zuschauer mochten es sofort. Danach habe ich mir schnell ein Album der Band besorgt…“

Gemeinsam mit Totti und den Fans des AS Rom gelangte „Seven Nation Army“ wieder zurück nach Italien. Bei der Weltmeisterschaft im Sommer 2006 wurde das Lied so etwas wie die inoffizielle Hymne der Azzurri auf dem Weg zum Titel in Deutschland. Die Funktionäre der UEFA bemerkten den Trend und machten den White-Stripes-Song zur offiziellen Einlauf-Musik der Mannschaften während der Europameisterschaft 2008. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten es alle mitbekommen – ob sie nun wollten oder nicht. „Seven Nation Army“ verselbstständigte sich, fernab vom US-amerikanischen Detroit, und wurde zum Mannschaften wie Fanszenen übergreifenden, veritablen Fußball-Hit.

Jack White selbst freute sich über die Geschichte, die vor nunmehr zwanzig Jahren in Melbourne begann (und irgendwie auch die White Stripes überlebte, welche 2011 ihr Bandende bekannt gaben). Als er auf die Adaption seines Hits durch die italienischen Fußball-Fans angesprochen wurde, unter denen „Seven Nation Army“ als der „PO-PO-PO-PO-Song“ bekannt ist, sagte er: „Ich fühle mich geehrt, dass die Italiener den Song zu einem der ihren gemacht haben. Nichts ist schöner in der Musik als die Annahme einer Melodie durch Menschen, die ihr erlauben, den Pantheon der Folk-Musik zu betreten. Als Songwriter ist so etwas unmöglich zu planen. Besonders in modernen Zeiten. Ich liebe es, dass die meisten Leuten überhaupt nicht wissen, wo die Melodie herkommt, wenn sie sie singen. Das ist Folk-Musik.“

Manchmal nimmt ein Song eben ungewöhnliche Wege…

Womit wir nun auch bei der Künstlerin von ANEWFRIENDs heutigem „Song des Tages“ wären. Bereits 2012 nahm Zella Day eine Coverversion des White-Stripes-Klassikers auf. Dennoch sollte es nahezu eine weitere Dekade dauern, bis ebenjene Neuinterpretation durch die Verwendung in einem Werbespot eines namenhaften südkoreanischen Elektronikherstellers zu weitreichenderer Bekanntheit gelangte. Im Grunde zu Unrecht, denn die Version der mittlerweile 27-jährigen, aus Pinetop-Lakeside, Arizona stammenden und inzwischen – wie so ziemlich viele – in Los Angeles, Kalifornien beheimateten Indie-Pop-Musikerin kann sich als reduziert-schmissige Ballade durchaus hören lassen. Und das nun auch für all jene, die noch nie ein Fussballstadion von innen (oder im Fernsehen) gesehen haben…

Rock and Roll.

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