Song des Tages: Luwten – „Standstill“


Ein bisschen ironisch mutet es schon an, dass Luwten ihr im April erschienenes zweites Album ausgerechnet „Draft“ genannt hat, schließlich bedeutet der Künstlername der im niederländischen Amsterdam beheimateten Musikerin Tessa Douwstra wörtlich „Ort ohne Wind“. 

Dennoch ergibt der Titel Sinn, denn es ging Luwten, die ihr selbstbetiteltes 2017er Debütwerk beinahe buchstäblich in einem solchen stillen Vacuum – ganz allein mit sich selbst und ihren Gedanken – aufnahm, darum, ein bisschen mehr Luft, ein bisschen mehr Input von draußen zuzulassen. „Wie viel Alleinsein kommt daher, dass es hilft?“, fragte sich die Künstlerin. „Wieviel kommt daher, dass man Angst hat? Hilft Alleinsein dabei, authentisch zu sein? Oder ist Authentizität etwas, nach dem man auch mit anderen suchen könnte oder gar sollte? Mir ist aufgefallen, dass ich viel über Denken versus Fühlen und Alleinsein versus Zusammensein schreibe. Ich liebe die Idee von Musik als Selbsterfahrung. Für die Macherin wie für die Zuhörer*innen.“ Zudem erforscht Douwstra die Ideen von Handlungsfähigkeit, Kontrolle und Freiheit, die im verwirrenden, von Pandemien und Restriktionen bestimmten Klima der letzten zwei Jahre zunehmend an Bedeutung gewinnen. 

Soundmäßig hat sich Tessa „Luwten“ Douwstra für die elf neuen Songs Inspiration aus sehr verschiedenen Richtungen geholt. So beruft sie sich musikalisch für ihre Pop-Entwürfe auf Komponisten wie Steve Reich und Künstler wie Ólafur Eliasson, während sie sich für ihren Gesang wiederum von Neosoul-Künstler*innen wie Solange, D’Angelo oder Frank Ocean beeinflussen ließ.

„Abstrakt Pop“ nennt die Niederländerin ihren aus dieser Melange heraus entstandenen, recht eigenen Stilmix. Das überrascht ein wenig, denn insbesondere auf der emotionalen Ebene – die ja ein nicht unwesentlicher Bestandteil jedes ernstgemeinten Musikprojektes sein sollte – wird Douwstra im Grunde sehr konkret. Auch sind die zwar sparsamen Arrangements ihrer halborganisch organisierten Stücke keineswegs so artifiziell, wie es das Attribut „abstrakt“ vermuten ließe. Popmusik gibt es tatsächlich auch – aber nicht als abstraktes Konzept, sondern stets eingebettet in eine erzählerisch ausgerichtete Songstruktur, die Luwten zwischen den Zeilen und Tönen als Songwriterin im Pop-Pelz im Stile einer Leslie Feist entlarvt. Und: jener Pop-Aspekt manifestiert sich vor allem durch ihre ungebundene stilistische Offenheit. Seien es Art Pop, Krautrock, alternativer R’n’B, Folk Pop oder New Wave – nie geht es um den eigentlich zitierten Stil, und schon gar nicht um die im heimischen Studio kunstvoll verwobenen Bestandteile aus Live-Instrumenten, Samples, programmierten Beats, getweakten Field-Recordings oder elektronischen Elementen, sondern immer um den Song und die Gedanken, die Tessa Douwstra hier – meist durch innere Dialogen und dezidiert lakonisch – präsentiert. „Luwten“ mag zwar der niederländische Begriff sein, der einen windstillen Ort bezeichnet und für die selbstgewählte Isolation steht, die sich die Musikerin in kreativer Hinsicht auferlegt hat. „Draft“ ist nun jedoch jene Art von frischem Luftzug, den sie zulässt, um sich allmählich der Welt gegenüber zu öffnen und Einflüsse von außen zuzulassen. Kurzum: Austarierte kommerzielle Popmusik tönt heutzutage deutlich seelenloser und abstrakter daher als das, was Luwten selbst als „abstrakt“ bezeichnet, denn hier gerät vieles vor allem verdammt einnehmend.

Noch toller als die Studio-Versionen geraten im Falle von Luwten die Live Sessions, in welchen sie und ihre Band die Songs in deutlich seelenvollerem organischem Gewand präsentieren:

Rock and Roll.

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