„Imagine“ – John Winston Ono Lennon wäre heute 80 geworden…


„Yesterday / All my troubles seemed so far away / Now it looks as though they’re here to stay / Oh, I believe in yesterday…“

In Danny Boyles zwar manchmal etwas plakativer, jedoch dennoch dank sanfter Nostalgie wunderbar unterhaltsamer Musikkomödie „Yesterday“ gibt es eine wunderbare Gänsehaut-Szene, in der ein 78-jähriger John Lennon auftritt. Möglich macht’s die Grundidee des 2019 erschienenen Films, schließlich spielt dieser in einer (Parallel)Welt, in der es die größte Band aller Zeiten, die Beatles, nie gegeben hat. Und Lennon? Der hat ein einfaches Leben als Seemann geführt und genießt nun seine Tage in einer kleinen Hütte am Meer.

Gekonnt – und oft genug gewitzt – stellt Boyles Film die Frage „Was wäre wenn?“. Für die Zuschauer ergibt sich der offensichtliche Reiz daraus, dass sie nunmal wissen, was war, was in dieser unserer Musikwelt passierte. Dass John Lennon am 8. Dezember 1980 von Mark David Chapman erschossen wurde – mit gerade einmal 40 Jahren. Und am heutigen 9. Oktober 2020 stolze 80 Jahre alt geworden wäre.

Doch hätte man sich – ähnlich wie der schottische Regisseur Danny Boyle („Trainspotting“, „Slumdoy Millionäre“) – Lennon wirklich als einfachen, bescheidenen englischen Seemann vorstellen können? Den Lennon, dessen zweiter Vorname „Winston“ lautet – nach dem in England als Lichtgestalt verehrten ehemaligen Premierminister Winston Churchill? Wohl kaum, wohl kaum…

Denn zeitlebens war Lennon ein Getriebener. Ein wandelnder Widerspruch. Ein Sinnsuchender, der ausbrechen wollte aus der kleinbürgerlich-britischen Enge, aus der er entstammte. Der von Selbstzweifeln geplagt nach immer neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchte. Er war Rebell, Querdenker und Provokateur. Er war Teenie-Idol und Avantgarde-Künstler. In einer Bombennacht 1940 geboren, wurde er später zum Friedensaktivisten, unterstützte jedoch gleichzeitig auch die nordirische Untergrundarmee IRA. Er war auf den Bühnen der Welt zu Hause (die er nie so ganz mochte) und lebte jahrelang als Großstadt-Eremit. Er war gleichsam nachdenklicher Griesgram und ironischer Spaßmacher. 

Schon in der Schule im heimischen Liverpool gab John Winston Lennon oftmals den Klassenclown. Er schrieb sich an der Kunsthochschule ein, fühlte sich jedoch fehl am Platz und seinen Kommilitonen unterlegen. Also gründete er – angefixt von Elvis Presley und dem Rock’n’Roll – mit den Quarrymen seine eigene Band. Zufällig lernte er bald darauf auf einer Party einen gewissen Paul McCartney kennen. Im Rückblick wissen wir: Es war der Beginn der bahnbrechendsten Songwriting-Partnerschaft der Popgeschichte (ein dickes „Sorry“ an Mick Jagger und Keith Richards, aber an diesem Fakt lässt sich nunmal nicht rütteln).

Natürlich ist allein schon Lennons ewiges popmusikalisches Vermächtnis übermächtig. ʺHelp!ʺ, ʺAll You Need Is Love”, „A Hard Day’s Night”, ʺStrawberry Fields Forever”, „Come Together”… – die Liste der von ihm initiierten und komponierten Superhits ist bereits zu Beatles-Zeiten lang.

Doch als sich Lennon mit den Beatles auf dem künstlerischen Höhepunkt befand, verließ er die Gruppe – aus Langeweile, wie er in einem Fernsehinterview einige Jahre später erklärte (über das Wie und Wann und Warum lässt sich freilich auch 50 Jahre danach noch trefflich spekulieren).

Denn zu diesem Zeitpunkt strickte der Rastlose, der meist ein wenig Unberechenbare und Unstete längst wieder an einem anderen John Lennon. Mit seiner neuen Partnerin, der Fluxus-Künstlerin Yoko Ono, nahm er nach dem Ende der Beatles im Jahr 1970 experimentelle Solo-Alben auf. Produzierte Filme. Und veranstaltete Happenings wie die legendären „Bed-ins for Peace„.

Doch bald wurde es ruhiger um Lennon. Sicher, da war die großartig-utopische Friedenshymne „Imagine„. Mit „Instant Karma! (We All Shine On)„, „Working Class Hero“ oder „Jealous Guy“ landete er noch so einige Hits mehr. Doch die musikalische Entwicklung ging immer mehr über ihn hinweg. Der Punk wütete und gröhlte, Disco zappelte und stampfte – einer wie Lennon wirkte da ein wenig wie aus der Zeit gefallen.

Doch anstatt daran zu verzweifeln, zog sich John Lennon schließlich vollständig ins Private zurück. Fast fünf Jahre lang lebte er mit Yoko und dem gemeinsamen, 1975 geborenen Sohn Sean ein Leben als Hausmann in New York City. Erst 1980 meldete er sich mit einem neuen Album zurück. Als die tödlichen Schüsse fielen, war „Double Fantasy“ gerade drei Wochen auf dem Markt.

Inzwischen ist John Lennon genauso lange tot wie er gelebt hat. Doch sein Einfluss auf nachfolgende Musikergenerationen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn der beschränkt sich nicht allein auf die Tatsache, dass Lennon mit den Beatles quasi die Blaupause für alles geschaffen hat, was wir heute „Popmusik“ nennen.

Und: Es war bezeichnenderweise Lennon, der zum ersten Mal in einem Popsong seine eigene Unzulänglichkeit thematisierte, seine Selbstzweifel und seinen Schmerz in den Fokus stellte. „I’m A Loser“ sang er 1964 – in einer Zeit, in der Popsongs bitteschön von Liebe, Herzschmerz und unbeschwerten Sommertagen zu handeln hatten. John Lennon, der bei seiner Tante Mary aufwuchs, seine Mutter Julia im Alter von 18 Jahren durch einen Autounfall verlor und zu seinem Vater, einem Matrosen, kaum je Kontakt hatte, sei sein ganzes Leben auf der Suche nach Hilfe gewesen, sagte Paul McCartney 2015 in einem Interview mit dem „Rolling Stone„. Einer seiner größten Hits – „Help!“ – bringt diese Tatsache auf den Punkt, eines seiner berührenden Lieder widmete er offenkundig seiner Mutter: „Half of what I say is meaningless / But I say it just to reach you, Julia“.

Lennons Witwe Yoko Ono pflegt den musikalischen Nachlass ihres Mannes bis heute (und just heute erscheint mit „Gimme Some Truth.“ eine neue Retrospektive seiner bekanntesten Solo-Songs, deren größter Anreiz wohl in der klanglichen Neubearbeitung liegt). 1983 stellte sie das letzte geplante Lennon-Album „Milk And Honey“ fertig. Bereits 1981 hatte sie mit „Season Of Glass“ ihr erfolgreichstes eigenes Album veröffentlicht. Auf dem Cover war die blutverschmierte Brille Lennons zu sehen. Nicht wenige Beatles-Fans, die in ihr vorher auch den wahren Grund für die Trennung der „Fab Four“ ausgemacht zu haben glaubten, warfen Ono daraufhin vor, den Mord an ihrem Mann für ihre eigene Zwecke zu missbrauchen.

Dass das Lennon-Erbe auch schwer wiegen kann, zeigt sich bei seinen Söhnen, die ihren berühmten Vater schon allein rein optisch kaum verleugnen können. Beide starteten Musikkarrieren mit zwar überzeugendem, aber dennoch vergleichsweise überschaubarem Erfolg. Julian Lennon, der aus Sohns erster Ehe mit seiner Ex-Frau Cynthia stammt (und übrigens im Evergreen „Hey Jude“ besungen wird), hatte in den Achtzigerjahren einige mittelgroße Hits, der bekannteste wohl „Too Late For Goodbyes“. Sean Lennon wiederum probierte sich in unterschiedlichsten Genres aus, ohne die ganz großen kommerziellen Erfolge zu feiern. Dabei kollaborierte er unter anderem mit Größen wie Thurston Moore, John Zorn, Ryan Adams, Soulfly, Rufus Wainwright oder Lana Del Rey. 2006 formte er mit Les Claypool, dem Bassisten der Funk-Rock-Legende Primus, das bis heute aktive Duo The Claypool Lennon Delirium.

John Lennons Geschichte wird also weitergeschrieben, sicher noch viele Jahre. Seine Songs selbst werden ohnehin Generationen überdauern, sind längst im kulturellen Erbe der Menschheit verwachsen. Vielleicht ist das Paralleluniversum aus dem Film „Yesterday“ also doch keine völlig undenkbare Vision. Der unbekannte Lennon aus dem Film erzählt, dass er ein rundum glückliches Leben geführt habe. Und dass es die Liebe ist, die für ihn immer die wichtigste Rolle gespielt hat. Frei nach dem Motto: „All You Need Is Love“.

You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one…

Happy Birthday zum Achtzigsten, John Lennon. ✌️

Rock and Roll.

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