Song des Tages: Pony Bradshaw – „10×10“ (Live Session)


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Auf seinem im vergangenen Juni erschienenen Debütalbum „Sudden Opera“ liefert der 39-jährige James „Pony“ Bradshaw so einige überzeugende Argumente für den etwas späteren Start mit der Kunst. Mit seinen fast vierzig Lenzen hatte der Musiker aus dem US-amerikanischen Chatsworth, Georgia Zeit, um erwachsen zu werden. Zeit, um zu leben. Zeit, alles zu vermasseln, von vorn anzufangen und (s)eine eigene Stimme zu finden. Der Titel des Albums mag insofern eine zwar recht janusköpfige, irgendwie jedoch auch treffende Beschreibung sein: sein Klang trifft den Hörer zunächst abrupt, dann jedoch stetig, wieder und wieder – wie eine Flut launischer Streicher, donnernd-abgründiger Enden und dramatischer Töne, und angeführt von Bradshaws Gitarre und  markdurchdringendem Soulgesang, der sehnsüchtig, tröstlich und fragend zugleich wirkt (und an mancher Stelle   Thrice-Frontmann Dustin Kensrue stimmlich recht nahe stehen mag).

v600_PONY_BRADSHAW_Sudden_Opera_COVER_RGB„Ich bin ein großer Fragensteller, ganz sicher“, meint Bradshaw. „Flannery O’Connor sagte, sie wisse nicht, was sie glaubt, bis sie es schreibt. So kann man sein eigenes Glaubenssystem finden, und jeder kann sehen, wie man es durcharbeitet. Das Schreiben erzählt mir etwas über mich selbst.“ Er hält inne. „Es hilft sehr.“

Pony – geboren als James Bradshaw – ist schon als Kind viel herumgekommen. Der in Mississippi geborene Militärbursche hat sein Leben – gefühlt – in den gesamten US of A verbracht. Heute hat er sich in Georgia niedergelassen, und mehr als irgendwo sonst fühlt er sich nun dort zu Hause. Nachdem ihn die Air Force bereits mit 21 Jahren vor die Tür setzte, ließ er sich ziellos treiben, bis die Musik, die er mehr als ein Jahrzehnt später fand, zu seinem wahren Anker wurde.

Und damit lag er wohl auch ganz richtig, schließlich hatten ihn renommierte Radiosender wie NPR oder Amazon Music bereits vor ein paar Jahren „as one to watch“ auf dem Radar. Doch anstatt die unerwartete Aufmerksamkeit zum fixen Kickstart zu nutzen, ließ Bradshaw sich Zeit um die Kunst, die er erst vor kurzem für sich entdeckt hatte, genau zu fassen, zu formulieren. „Sudden Opera“, für das Bradshaw alle Songs selbst schrieb, bevor er sich vom zehnfachen Grammy-Preisträger Gary Paczosa (Alison Krauss, Dolly Parton), Grammy-Preisträgerin Shani Gandhi (Parker Millsap) und Jedd Hughes (Emmylou Harris & Rodney Crowell) im Studio helfen ließ, ist das lohnende Ergebnis.

Van Gogh“ beginnt die Platte mit der dem Titel gebührenden Prahlerei und einem ordentlichen Maß Schmerz. „Es ist teils Traum, teils Fiktion“, sagt er. Bradshaw setzt lebhafte Imagination und rätselhafte Wortspiele zusammen, um eine Stimmung mehrdeutiger Sehnsucht zu erzeugen, die sich mit unverblümter Selbstwahrnehmung vermischt – eine Stimmung, die sich das ganze Album hindurch fortsetzt. Unterbrochen von einem spärlichen E-Gitarren-Groove brodelt „Jehovah„: “We go together like cocaine and time / Why don’t you go on and let it die?”

Wie bei vielen anderen Americana-, Southern Rock- und Blues-Musikern auch ist die Platte voller Lieder, die religiöse Bilder aufgreifen und wild durcheinander würfeln. „Shame“ widmet sich allen voreilig-glühenden Falsche-Finger-Zeigern, während „Ain’t No Eden“ das irdische Leben in seiner oft genug qualvollen Gegenwart akzeptiert und obendrein die Idee der paradiesischen Versprechung ablehnt. Mit tanzenden Händen in der Luft, einer Orgel und ordentlich Backbeat gibt sich „Didn’t It Rain“ dem Unbekannten hin. „Weißt du, ich habe das Gefühl, dass wir alle manchmal agnostisch sein sollten“, so Bradshaw. „Keine überzeugten Christen, keine überzeugten Atheisten – da bin ich mir sicher. Es gibt Dinge, die man nicht wissen kann. Es mag eine schöne Erleichterung sein, an etwas zu glauben und das Gefühl zu haben, dass man danach irgendwo hingeht. Ich kann das verstehen. Aber ich kann es einfach nicht unterschreiben.“

Getragen von einem Gospel-Chor im Background, ist „Sippi Sand“ das wohl autobiographischste Lied des Albums, in dem der US-Musiker aus seiner Familiengeschichte erzählt. Durch die elektrischen Gitarren von „Charlatan“ scheint Tom Petty auf seine Heartbreakers hinab zu lächeln, während der Song selbst vermeintlich spirituelle Südstaaten-Schlangenölverkäufer niederringt. „Bad Teeth“ überzeugt als grüblerischer Shuffle, und das verträumte „Loretta“ erforscht das Verlangen, die Auswirkungen und die Flucht in und mit einer anderen Person. Fast schon ergreifende Streicher treiben das turbulente „Gaslight Heart“ voran, während „Josephine“ das Album eindringlich zu Ende bringt.

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Das Album-Highlight jedoch dürfte das tolle „10×10“ sein: auch dieses Stück setzt auf klagende Streicher und Piano, um die Bühne für einen Mann zu bereiten, der sich nach Ruhe seht. Der Song mag bewegend sein – sein Titel selbst ist jedoch relativ zu verstehen: „Ich möchte nicht, dass jemand im Gefängnis denkt, ich würde es romantisieren, aber ich war ein paar Mal selbst im Knast, und es war irgendwie friedlich“, so Bradshaw. „Das liegt daran, dass ich nicht verurteilt wurde – ich war nur über Nacht dort. Aber als ich das schrieb, dachte ich, dass einem das Leben manchmal bedrückend erscheinen mag und man einfach nur eine Pause will. Also steck‘ mich übers Wochenende einfach in eine kleine Zelle und lass‘ mich vor all dem Rauschen entkommen.“

James „Pony“ Bradshaw gibt freimütig zu, dass er heutzutage mehr Romane und Gedichte liest als dass er Musik hört, obwohl ihn Helden wie Townes Van Zandt und Guy Clark auch heute noch inspirieren und so freilich immer noch eine große Rolle für ihn spielen. Aktuell jedoch beschäftigen ihn vor allem die französischen Autoren, Dichter und Maler des 19. Jahrhunderts, allen voran Flaubert. Er interessiert sich für den kreativen Prozess, der das Gehirn dazu bringt, Inspirationen zu erkennen, bevor alles seinen Lauf nimmt. Zur Musik selbst und regelmäßigen Live-Auftritten (er selbst spielte in der Vergangenheit etwa als Support für Social Distortion) hat Bradshaw keine wirklich dezidierte Meinung: „Ich frage mich jeden Tag, warum ich darin gut sein will“, sagt er. „Es ist schwer. Ich ringe mit dem Ego und dieser ganzen Sache. Aber ich weiß einfach, dass das Schreiben, Singen und Spielen mich glücklich macht, also mache ich es weiter.“

 

Besondern eindringlich geraten die Album-Highlights „Bad Teeth“, „10×10“ und „Didn’t It Rain“ in ihren jeweiligen reduzierten Live-Session-Varianten:

 

Rock and Roll.

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