
Fotos: Facebook / Nils Lucas
Es scheint wohl kaum übertrieben, von den Pollinas als die talentierteste Schweizer Musikerfamilie zu schreiben: Zu einen wäre da Pippo Pollina, ein vor allem in der Eidgenossen-Republik (und im italienischen Sprachraum) bekannter Liedermacher, den man in Deutschland wohl am ehesten über seine Zusammenarbeit mit Konstantin Wecker kennen könnte. Zu anderen freilich Julian „Faber“ Pollina, der auch hierzulande mit seinem noch immer fulminanten 2017er Erstlingswerk „Sei ein Faber im Wind“ (damals ANEWFRIENDs „Album des Jahres„) sowie mit dem zwar etwas anders gelagerten, jedoch kaum weniger überzeugenden diesjährigen Nachfolger „I Fucking Love My Life“ und seinem ungewöhnlich bissigen Folkrockpop für Furore sorgt. Da könnte man glatt vergessen, dass seine Schwester Madlaina mit ihrem Duo Steiner & Madlaina ebenso tolle Musik macht. Und das wäre wahrlich schade…
Kennengelernt haben sich Nora Steiner und Madlaina Pollina auf dem Pausenhof eines Züricher Gymnasiums, wohnten weniger später auch in einer WG zusammen. Mittlerweile werden die beiden als eine der vielversprechendsten Zukunftshoffnungen der Schweizer Musiklandschaft gehandelt – nicht nur der Schweizer, möchte man schnell hinzufügen… Waren ihre 2015 beziehungsweise 2017 veröffentlichten EPs „Ready To Climb“ und „Speak“ zumeist noch sparsam und zurückhaltend instrumentiert (was wohl auch einem damals noch recht überschaubarem Budget geschuldet sein dürfte), wagen Steiner & Madlaina auf ihrem von Alex Sprave (Mando Diao, We Invented Paris, Me + Marie) produzierten, im vergangenen Jahr erschienenem Debütalbum „Cheers
“ den Schritt zu üppigeren Arrangements, die Folk-Pop, Chanson und Rock auf durchaus ungewöhnliche Art und Weise vereinen.
Fünf deutschsprachige, vier englischsprachige und ein in schweizerdeutsch gesungener Titel haben es auf „Cheers“ geschafft, während ihrer Live-Auftritte (in Deutschland spielte das Duo bereits im Vorprogramm von Faber sowie jüngst von Die Höchste Eisenbahn) konfrontieren die beiden das Publikum auch schon mal mit italienischen und griechischen Texten – Multikulti als kultureller Modus Operandi, quasi. Die ersten drei in deutscher Sprache gesungenen Songs versprühen zusätzlich noch eine große Sehnsucht mit melancholischem Unterton, wie man ihn aus französischen Chansons (oder eben den Stücken von Madlainas Bruder) kennt. All das kann einen durchaus trügerisch euphorischen Charakter annehmen, wie man etwa im Refrain von „Wenn du mir glaubst“ hört, oder leicht einen balkan’esken Touch bekommen, wie im Liebesgeschichte-ohne-Anfang-Eröffnungsstück „Ich werd nie gehen“ (auch hier wieder eine kaum überhörbare Parallele zu Faber). In „Prost Hawaii“ indes trifft Vintage-Swing-Schlager-Pop der Siebziger auf Sechzigerjahre-Jingle-Jangle-Surferrock-Charme. „Hold“, der erste englischsprachige Titel, schleicht sich als stimmungsvoller Western-Soundtrack in düsterer-geheimnisvoller Manier an, irgendwann klagt noch eine bluesige Gitarre, zu der Nora Steiner und Madlaina Pollina barmend im Chor singen. Gänsehautmoment? Einer von vielen! „Riot“ hingegen, welches in anderem Arrangement bereits auf der „Speak EP“ zu hören war, gestaltet sich sehr perkussiv und dramatisch, „Das schöne Leben“ mag an seiner Oberfläche zwar als ein zum Tanzen einladender Schunkler erscheinen, ist textlich aber eine nachdenklich-kluge, fast schon schmerzhaft ironische Abrechnung mit der jugendlichen Übeflusskonsumgesellschaft. „Reckless Love“ ist eine anmutig-zarte Dream-Folk-Pop-Nummer und die bewegende Trennungsballade „Groß geträumt“ eskaliert – Highlight! Highlight! – gar in einem fulminanten Rockgitarrensolo. Überbordend und opulent ist dann das Arrangement im Refrain von „Wait For It“, bevor das abschließende, Schwyzerdütsche „Herz vorus id Wand“ den weltfreien Folk-Pop von Zaz evoziert.
Steiner & Madlaina überzeugen auf „Cheers“ nicht nur mit ihrem abwechslungsreichen musikalischen Programm, sondern auch und vor allem durch ihre eindringlichen Texte, welche sich kunstvoll zwischen düster und optimistisch, rebellisch und feinfühlig, tiefgründig und trotzdem leicht bewegen und die von Anfang und Abschied, vom Loslassen und Festhalten erzählen. Es geht um Beziehungen, mal als Spiel, mal als Stellungskrieg – und immer gerät der jukeboxene Ritt durch Sprachen, Genres und Kontraste angenehm unromantisch. Neben den gleichsam unüberhörbaren wie wohl unvermeidlichen Einflüssen von Madlainas Bruder Julian „Faber“ Pollina (der den beiden Mittzwanzigerinnen auch ab und zu Musiker seiner Band „leiht“) klingen so – auch das erscheint logisch – auch andere All-Female-Duos wie First Aid Kit oder vor allem BOY an. In ihren besten Momenten tauschen Steiner & Madlaina Fallstricke wie Beliebigkeit und Befindlichkeit gegen durchaus sarkastische Zeitgeist-Spitzen fernab jeder Studentenbude ein. Das Ergebnis ist ein einnehmend nostalgisch-melancholischer Sound, der vor allem den Pollinas wohl im Blut zu liegen scheint. Darauf trinke ich. Cheers!
„Was bringt mich zum Weinen
Wenn wir beide streiten
Belanglosigkeiten
Bist es du, bin es ich
Oder die Ahnung
Für immer gibt es nicht
Wie lange können wir’s ertragen
Dass wir noch mehr erwarten
Als was wir zusammen wagten
Hast du auch so viele Fragen
Warum konnte ich’s dir nie sagen
Dieses rücksichtsvolle Schweigen
Um nur Zuneigung zu zeigen
Erst hat es was gebracht und uns dann
Kaputt gemacht
Die ganze Zeit
Bis zum letzten Streit
Bis zum letzten Glas
Das du aus Wut zerbrachst
Mit der Suche geboren
Hast du dein Ziel verloren
Während meins von Weitem winkt
Dein Selbstvertrauen sinkt
Bis dahin gut
Nichts zu bereuen
Wir hatten Mut
Um groß zu träumen, uns groß geträumt
Bald bin ich einmal mehr
Nur eine die ich war
Und die allein ins Leben kam
Ich weiß nicht mehr, wie viel was wiegt
Wenn die äußere Entfernung
Nach innen zieht
Wie oft fanden wir zurück
Wie viel hat dir noch gefallen
Bist du zu oft gegangen
Hast du auch so viele Fragen
Warum konnte ich’s dir nie sagen
Dieses rücksichtsvolle Schweigen
Um nur Zuneigung zu zeigen
Erst hat es was gebracht und uns dann
Die ganze Zeit
Bis zum letzten Streit
Bis zum letzten Glas
Das du aus Wut zerbrachst
Mit der Suche geboren
Hast du dein Ziel verloren
Während meins von Weitem winkt
Dein Selbstvertrauen sinkt
Bis dahin gut
Nichts zu bereuen
Wir hatten Mut
Um groß zu träumen, uns groß geträumt
Uns groß geträumt…“
Rock and Roll.
[…] mehr… […]
[…] Knapp 150 Konzerte in den letzten Jahren, auf Bühnen vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das ist eine ganze Menge. Denn: Diese Zahl bedeutet noch viel mehr Tage auf Tour als „nur“ jene 150. Etliche Tage und Nächte in Tourbussen auf Autobahnen, von Show zu Show zu Show – mal als Vorband (etwa von Element Of Crime), mal als Headliner, mal auf Festivals. Zeit zum Schreiben von neuen Songs? Lediglich immer mal so zwischendurch, irgendwo in den Leerzeiten zwischen Soundcheck, Auftritt und Abfahrt. Das Aufnehmen der Songs aber, das erfordert bekanntlich etwas mehr Zeit. Dafür konnten die beiden Schweizerinnen Nora Steiner und Madlaina Pollina dann das ungeplant konzertfreie Jahr 2020 nutzen. Und brachten aus dem Studio „Wünsch mir Glück“ mit, ihr zweites Album und den Nachfolger zum viel beachteten 2018er Debütlangspieler „Cheers„. […]