Die Angst, das alte depressive Arschloch


K1600_Depression

…entnommen von Torsten Sträter:

 

Obwohl diese Zeilen „nur“ in irgendeinem gottverdammten Blog (der zufällig meiner ist, und in den seit 2012 viel Zeit, Gedankenarbeit, Schweiß, Herzblut, Liebe und Mühe geflossen ist), irgendwo versteckt im digitalen Dickicht, erscheinen, sind es wohl die, über die ich mir im Vorfeld die meisten und härtesten Gedanken gemacht habe. Denn all das hat wohl nur am Rande mit Musik zu tun. Dafür jedoch: verdammt nochmal mit mir! (Okay, fair enough – hat, speziell bei mir, nicht schlußendlich ALLES mit Musik zu tun?)

Monatelang habe ich gehadert, habe ich gezweifelt, ob ich darüber schreiben sollte. Wenn nein: Warum nicht? Wen belüge ich in diesem Fall? Die Welt da draußen? Alle, die mir nahe stehen? Gar mich selbst? Falls ja: Welche Worte sollte ich wählen? Was passt, trifft den Nagel auf den Kopf? Was wird dem gerecht, was ich fühle, wie ich mich fühle? Gehe ich damit zu weit? Verdammt, wie weit geht zu weit?

Ach, wisst ihr was? Scheiß der Hund drauf, einfach raus damit! Here. We. Go!

Depressive Angststörung.

Wer sich jetzt fragt, wieso der Esel, der sonst doch um keinen noch so langen Schachtelsatz, der Hitlers „Mein Kampf“ zumindest semantisch alle Ehre machen würde, verlegen ist, nun keinen einfachen Satz zustande bekommt, dem sei Folgendes gesagt: So lange ich mir hierüber auch das Haupthirn zermartert habe (und das waren so einige Monate) – ein passendes Satzkonstrukt habe ich nicht gefunden. Denn es standen nur folgende Kandidaten zur Auswahl:

„Ich leide unter einer depressiven Angststörung.“

Leide ich denn wirklich? Nein, denn an gefühlten 200 von 365 Tagen geht es mir wie dir, oder dem Typen, den du in der Straßenbahn gerade den Sitzplatz weggeschnappt hast (ich hab’s gesehen, also tu nicht so scheinheilig perfekt). Und doch stimmt etwas mit mir nicht – zumindest zu einem gewissen Maße. Klar, wer mir auf der Straße oder im Supermarkt entgegen kommen würde, würde all das kaum bemerken. Auch ich selbst habe bis weit in meine Dreißiger gebraucht, um dieser „alten Pottsau Angst“ auf die Schliche gekommen. Geholfen hat mir dabei das mutige Verhalten von Nicholas Müller, also dem Typen, der bis 2014 Sänger der deutschen Alternative-Punk-Band Jupiter Jones war, die Gruppe jedoch nach zwölf Jahren verließ, und mit seinem Ausstieg auch seiner Angststörung, „die ich nun beinahe ein Jahrzehnt mit mir herumschleppte, endlich am Kragen zu packen und ihr mal ordentlich den Marsch zu blasen“. „Oh, ein depressiver Musiker – so sensibel, so normal… Der soll sich mal nicht so anstellen! Andere haben schließlich echte, richtige Probleme!“, mag jetzt sicher mach eine(r) denken… Erwischt? Macht euch nichts draus, IHR SEID VIELE.

Und es ist ja auch wirklich so. „Depressionen sind der zweithäufigste Grund, warum jemand auf der Arbeit fehlt. Seit dem Jahr 2000 sind die Fehltage wegen Depressionen um fast 70 Prozent gestiegen.“ („Depressionsatlas“ der Techniker Krankenkasse, Januar 2015) Mehr als drei Millionen Menschen „leiden“ (da haben wir’s wieder) in Deutschland unter Depressionen. Und damit ist eben nicht das „Scheiße-drauf-sein“, was man mal an einen *hust* „schlechten Tag“ haben kann, wenn der favorisierte Fussballverein mal wieder in der Nachspielzeit das entscheidende Gegentor zur Niederlage kassiert hat, die Freundin ihre sprichwörtlichen „Tage“ und miese Laune schiebt oder der Chef mal wieder viel zu viel Arbeit auf den Schreibtisch gepackt hat, um sich selbst dann ins verlängerte Wochenende zu verabschieden, gemeint. Auch muss eine Depression nicht automatisch bedeuten, sich mit Pillen voll zu stopfen, um „irgendwie funktionieren“ zu können und am Abend Sicht gleich vom Hochhaus oder vor den nächsten Zug zu springen. Nein, die „Volkskrankheit Nummer eins“ kann so viele Gesichter, so viele Nuancen haben, wie es in diesem Land Nasen gibt.

„Ich habe eine depressive Angststörung.“

Habe ich das? Oder hat sie vielmehr mich? Nun, solange ich zurückdenken kann, ist sie ein Teil von mir. Denn so war ich schon immer: zurückhaltend, meist introvertiert, abwartend. Ich war schon als Kind nicht der Dreikäsehoch, der zuerst aufs Klettergerüst gestürmt ist, um als Erster die Spitze zu besetzen. Ich war nie derjenige in der Schule, der die meisten Freunde hatte und immer im Mittelpunkt stehen wollte. Ich war irgendwo dazwischen – kein Einzelgänger wie die, denen man am nächsten Tag einen Amoklauf mit gezückter Schrotflinte hätte andichten können. Aber auch nicht der, der am Ende des Schuljahres seinen Namen unter jedes Jahrbuch kritzeln musste. Ich hatte ein paar Freunde, blieb jedoch auch gern für mich. Am Ende meiner Schulzeit konnte ich den panzernden Schutzschild, den ich mir über die Jahre zugelegt hatte, zu meinem Vorteil nutzen, denn die Unsicherheit, die mir nach außen mal als „Coolness“, mal als „Arroganz“ ausgelegt wurde, kam bei den Mädchen freilich gut an…

Das hat sich auch bis heute kaum geändert. Auf Arbeit bin ich der Kollege, der selten um einen Spaß verlegen ist – meist gut gelaunt, meist selbstsicher. Auf der anderen Seite bleibe ich Veranstaltungen wie Firmenweihnachtsfeiern meist fern, oder gelte als erster Kandidat für einen „polnischen Abgang“. Warum? Nun, es gibt wenige Dinge, die ich mehr hasse als Smalltalk. Da kommt wohl wieder meine Unsicherheit ins Spiel. Ich stehe jemandem gegenüber, den ich nur oberflächlich kenne, und weiß einfach nicht, worüber es sich zu reden lohnt: Das Wetter? Die werte Familie? Den Job? Sport? Politik? Also lasse ich’s. Und schweige. Kennt wohl jede(r)… Unangenehme Situation, oder? Eben.

„Ich bin an einer depressiven Angststörung erkrankt.“

Ist ja auch Quatsch, denn obwohl Depressionen mittlerweile auch offiziell als Krankheit anerkannt sind, sind sie andererseits nicht wie ein Schnupfen oder eine Platzwunde. Beides mag zwar lästig und unangenehm sein, aber am Ende des Tages hat man doch die Gewissheit, dass sich die Rotznase oder die blutende Wunde bald wieder erledigt haben dürfte. Mit Depressionen und Angststörungen ist das eine ganz andere Geschichte…

Obwohl ich erst durch Nicholas Müllers „Coming Out“ mit der „alten Pottsau Angst“ das sprichwörtlich „Klick!“ machende Licht gesehen habe (später, 2015, hat der Mann, den ich für seinen Mut und seine Offenheit noch immer sehr bewundere, mit seiner neuen, aktuellen Band Von Brücken und dem ersten Album „Weit weg von fertig“ viele tolle Songs über die Thematik geschrieben und wird im Oktober, mit „Ich bin mal eben wieder tot: Wie ich lernte, mit Angst zu leben“, sein erstes Buch über den Kampf mit der Angst veröffentlichen, auf das ich mich sehr freue), waren all diese Gefühle immer da: die Zurückhaltung. Das Nachdenkliche, Introspektive. Die zermarternden Gedanken. Die Angst vor Schritten. Angst vor Veränderungen. Ich brauche Routinen. (Wer mag, darf’s, der Einfachheit halber, gern als eine „milde Form des ‚Rain Man‘-Autismus“ auffassen… passt für mich.) Alles andere macht mir Angst, bringt mich zum Schwitzen und mein Herz manchmal gar zum Rasen: Große Menschenmengen. (Ich fühle mich in der Anonymität von Großstädten wohl, bin jedoch lieber für mich.) Große Veränderungen (Umzüge, Jobwechsel etc. pp.). Unsicherheiten, sowohl was die Zukunft als auch was etwa Finanzielles betrifft. Anders als etwa Nicholas Müller, der sich zeitweise von einer subtilen Todesangst verfolgt fühlt(e), habe ich jedoch keine Angst vor dem Tod. Wie war das noch? So viele Nasen, so viele Formen der Depression…

Und da euch allen wohl gerade dieses Vorurteil unter den Nägeln brennt: Ja, auch ich denke oft genug an Selbstmord, kenne diesen „Auswegsgedanken“, seit ich 12 oder 13 Jahre alt bin, bedenke Möglichkeiten, Mittel und Wege. Einfach, damit all diese Mühsal ein Ende hat. Einfach, weil der Kopf und alles andere auch, nicht mehr will und gleich zu platzen droht. Damit dieser Druck in meiner Brust, in meinem Herz (beides ist kein bloßes Pathos, sondern tatsächlich vorhanden) leichter zu ertragen ist. Press replay. Erase and rewind. Da bin ich einfach nur ehrlich. Andererseits: Ich liebe dieses janusköpfige Leben mit all seinen Herausforderungen und Verheißungen. Und: Ich liebe die Musik. Die Vorfreude auf Neues hat mich, seit ich denken, hören und fühlen kann, im Hier und Jetzt gehalten. Jawollja: Ich habe nun bereits fast 34 Jahresrunden mit den Arschlöchern Depression und Angst geschafft – wer sagt denn, dass es nicht noch 34 weitere werden? Klar, Gewissheit kann mir keiner geben, und auch ich kann das nicht. Bleibt also nur, dieses Leben anzunehmen und das Beste draus zu machen – das Ende kommt noch früh genug. Oder?

Und auch den Spöttern, die jetzt kommen und meinen: „Der hat’s doch gut! Hat ein Haus, (s)eine kleine Familie, einen Job, ein Einkommen (auch wenn das gerade ausreicht, um ‚über die Runden zu kommen‘)… Der lebt in einem der sichersten Ländern der Welt und beschwert sich noch immer? First World Arschloch.“ Ich kann’s euch nicht verdenken, denn selbst ich habe ab und an diese Gedanken: Was berechtigt mich, mich gerade so elend zu fühlen, während anderswo auf der Welt Menschen hungern, im Krieg sterben und um ihre nackte Existenz und/oder ihre Familie bangen müssen? Andererseits habe ich mir all das auch nie ausgesucht. Ich bin, wie ich bin. Ich bin der, der ich bin. Lauft an einem dieser miesen Tage, an denen ich morgens kaum aus dem Bett komme und abends heulend zusammen gekauert wieder darin liege, ohne dass ich einschlafen kann, ein Mal für ein paar Kilometer in meinen Schuhen! Es ist doch so: All jene, die weder Depressionen noch Angstzustände kennen (ich möchte hier explizit nicht von „kranken“ und „gesunden Menschen“ schreiben, denn „krank“ fühle ich mich selbst nicht), werden es kaum verstehen (können). Nicht einmal meine eigene Freundin, der ich immerhin zuerst von all dem erzählt habe, versteht mich (oder will es nicht)! Keine Angst, ich nehme es keinem krumm…

Vielmehr liegt das Problem in unserer Gesellschaft verankert: Jede(r), der/die, und sei es auch nur ein klitzekleines Stückweit, von all den „Normen“, all den ausgesprochenen und unausgesprochenen „Regeln“ abweicht und – im Übrigen absolut menschliche –  Schwäche zulässt, wird für „krank“ und „unnormal“ erklärt und wie ein Aussätziger ausgegrenzt. (Was uns leider nur zu arroganten, uns selbst überschätzenden, destruktiven Tieren macht, denn im Tierreich sieht’s kaum anders aus.) In unserer ach so „modernen Leistungsgesellschaft“ gibt es nur eine goldene Devise: Funktionieren! Besser! Schneller! Weiter! Wer – aus welchem Grund auch immer – bei diesem perfiden Spiel nicht mehr mitmacht, der ist raus. Meist final, jedoch zumindest zeitweise. „Hier, nimm deine Pillen – morgen wird’s schon wieder gehen!“ Du darfst dir keine Schwäche erlauben, sollst brav deine Runden drehen und gefälligst die Regeln befolgen. Dass „Mensch zu sein“ auch heißt, nicht 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr immer aufs Eiserndste „funktionieren“ zu können, bleibt da als ungelesene Fußnote viel zu oft auf der Strecke.

Was will ich also mit all diesen Worten bezwecken? Zunächst einmal das, was ich nicht möchte: Mitleid, den ich bin kein Opfer. Häme, aus einem völlig unangebrachten Gefühl der „Stärke“ oder „Überlegenheit“ heraus. Unverständnis, um dieses heikle Thema ja nicht zu nah an sich selbst heran zu lassen. Oberflächlichkeit, um ja weiterhin (s)einem tagtäglichen Trott hinterher gehen zu können. Ich möchte, dass man mich versteht, und eventuell darüber nachdenkt, warum ich bin, wie ich bin. Warum ich so reagiere, wie ich eben reagiere. Die meisten hier werden mich zwar nicht (persönlich) kennen – und doch: AUCH ICH BIN VIELE. Und selbst, wenn ihr mich nicht kennt, dann habt ihr sicherlich den einen oder die andere in eurem Familien- oder Freundeskreis, dem es wohl genauso oder zumindest ähnlich geht wie mir. Und auch diese Person ist, übrigens ebenso wenig wie ihr selbst, eine Machine, die immer, gut geölt und geschmiert, „funktionieren“ muss. Erlaubt euch selbst und diesen Menschen Schwächen. Denkt darüber nach, was es heißt, „Mensch zu sein“. Zeigt Verständnis, zeigt Mitgefühl. Ob ihr am Ende des Tages jeden Gedanken, jedes Wort und jede Entscheidung des anderen zu einhundert Prozent nachvollziehen könnt, ist gar nicht die Frage. Aber man sollte es zumindest versuchen

Und auch wenn ich mit diesen Zeilen nicht das gleiche öffentliche Podium wie Nicholas Müller habe, so wäre das größte Kompliment für mich, den einen oder die andere unter euch zum Nachdenken gebracht zu haben. Zur Ehrlichkeit zu sich selbst gehört immer auch, dies nach Außen hin zu zeigen – koste es, was es wolle.

Ein kleiner Nachtrag an all jene, die mich persönlich kennen: Mit meiner Entscheidung, zu all dem hier in digitaler Form Stellung zu beziehen (die ich ganz bewusst und nach monatelanger Überlegung getroffen habe), will ich euch keineswegs vor den Kopf stoßen. Es ist nur einfach der Weg, den ich für mich gehen möchte, um all die Gedanken, welche mir – mal mehr, mal weniger bewusst – bereits mein gesamtes Leben auf der Brust lagen, auch ein Stückweit vom Herzen zu bekommen.

Das kam von Herzen, in Liebe und mit jeder Menge:

Rock and Roll.

Getaggt mit , , , , , , , , , , , , , , , ,

4 Gedanken zu „Die Angst, das alte depressive Arschloch

  1. Beste Freundin sagt:

    Reaktion kommt per Post, mein lieber! Ich denk an dich!

  2. […] dunkle Seite. Ying und Yang. Gut und böse. Dass ich beide Seiten kenne, habe ich unlängst hier geschrieben… Wir alle sollten uns ein kleines Stückweit zur Aufgabe machen, ebenjenen zu helfen, deren […]

  3. […] Jones- und -Von Brücken-Frontmann Nicholas Müller (den ich seit Jahr und Tag schätze und der an anderer, recht persönlicher Stelle bereits Erwähnung fand) einmal mehr nahezu Unaussprechliches und in […]

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