Island ist schon erstaunlich. Da hat der Inselstaat im Norden Europas gerade einmal soviel Einwohner wie – Obacht! – das beschauliche Bielefeld (nämlich knapp 330.000) und macht seit jeher doch so oft von sich reden.
Klar dürfte sich das Land aktuell am meisten durch seine erfolgreiche – und erstaunlich souveräne – Qualifikation für die Fussball-Europameisterschaft in Frankreich im kommenden Jahr ins Spiel und auf die Titelseiten der Nachrichtenmagazine gespielt haben – immerhin stach man in seiner Gruppe die bemitleidenswerte niederländische „Elftal“ aus. Nicht schlecht für ein Land, in dem – um noch einmal kurz beim Sport zu bleiben – Boxen erst seit 2002 wieder offiziell erlaubt ist (zuvor war es seit 1956 „zum Schutze der Gesundheit“ verboten).
Ansonsten? Klar, von Island aus platzte 2007 eine globale Bankenblase, deren Nachwehen sich bis heute noch von Buenos Aires bis hin nach Tokyo ziehen. Und zum Mythos von Geysiren, singenden Steinen und Elfen tragen die Walfleisch trocknenden Wollpulli-Isländer heutzutage in etwa ebenso sehr bei wie der Bundesdeutsche zum Ruf des Ausländer hassenden, schuhplattlernden PEGIDA-Gängers in Lederhosen. Irgendwelche Klischees hat ja im Grunde jede Nation.
Viel mehr hat sich Island jedoch in den letzten Jahrzehnten im Kultur- und Musikbetrieb einen hervorragenden internationalen Ruf erspielt. Auch da fallen bei den meisten zuerst die Namen der zwei, drei üblichen Verdächtigen: Björk, klar – die 49-jährige Musikerin steht – mittlerweile zum nationalen Heiligtum gereift – wie kaum eine andere Isländerin für jenen unangepassten nordischen Charme, mit dem immer und immer wieder Neues entsteht und Verflechtungen durch alle künstlerischen Bereiche – von Musik über Film bis hin zu höchst abstrakter „L’art pour l’art“ – gezogen werden. Oder Sigur Rós. Die Band um Frontmann Jónsi – mit der androgyn-entrückten Stimme eines Engels gesegnet – hat sich längst ihr eigenes (postrockendes) Genre erschaffen, das sie seit beinahe zwanzig Jahren und sieben Alben zurecht weltweit erfolgreich und einsam auf weiter Flur dastehen lässt. Oder eventuell noch Pop-Singer/Songwriterin Emilíana Torrini oder die Folker von Monsters Of Men. Island-Aficinatos dürften noch Agent Fresco, múm oder Múgison ins Feld werfen, oder eben das seit 1999 stetig wachsende, jährlich in der Hauptstadt Reykjavík stattfindende Festival „Iceland Airwaves“ anführen. Und dann noch einmal erwähnen, dass all diese Künstler aus einem Land kommen, dessen Bevölkerungszahl sich gerade einmal mit einer deutschen Großstadt im Regierungsbezirk Detmold im Nordosten Nordrhein-Westfalens messen kann. Dazu passt auch, dass Hannes Halldórsson, seines Zeichens Nationaltorwart der isländischen Fussballnationalmannschaft, den Großteil seiner fussballfreien Zeit als nicht eben unerfolgreicher Film- und Musikvideoregisseur (zum Beispiel zeichnete er sich in jüngster Vergangenheit für den Musikclip zu einem der isländischen Beiträge zum „European Song Contest“ verantwortlich) verbringt. In einem Land wie Island kennt eben übers Eck so ziemlich jeder jeden, bewegt sich eben alles in kleineren Bahnen…
Ob Davíð Arnar Sigurðsson, Guðmundur Hólm, Rúnar Steinn Rúnarsson, Þórður Páll Pálsson und Hafsteinn Þráinsson es indessen auch bereits mit dem runden Leder versucht haben, ist leider nicht überliefert. Vielmehr haben auch die fünf von Lockerbie, wie viele ihrer Landsleute (und nicht nur die), in frühen Jahren Sigur Rós für sich entdeckt und Jónsi und Co. schon alsbald später als Inspiration zur Gründung einer eigenen Band genommen. Gesagt, getan – Lockerbie waren geboren (der Bandname selbst bezieht sich zwar zu gleichen Teilen auf den Bombenanschlag im schottischen Lockerbie im Jahr 1988 sowie auf ein Gedicht eines ehemaligen Bandmitglieds, trotzdem ist die Band keineswegs politisch). Bald schon ließen Sänger Pórður Páll Pálson und seine Mitstreiter die Welt mit dem 2011 erschienenen Debüt „Ólgusjór“ erste Songs hören, die vielerorts – auch und vor allem außerhalb ihrer Heimat – auf offene Ohren stießen. Verspielter Postrock, gepaart mit Indiepop und vielen kleinen Experimenten – Spieluhren, Xylophone, Streicher etc. pp. Dazu Pálsons Kopfstimme, die Texte auf Isländisch – man kam kaum drum herum, Lockerbie als „Sigur Rós‘ kleinere Brüder“ zu bezeichnen.
Seitdem sind gut vier Jahre ins Land gegangen. Ganze zweieinhalb davon haben Lockerbie mit den Arbeiten am Nachfolger zu „Ólgusjór“ verbracht. Umso erstaunlicher, dass sie „Kafari“ (was übersetzt „Taucher“ bedeutet) nun einfach so, für lau einen warmen Dank und Umme auf ihrer Homepage verschenken. Doch selbst der geschenkteste Gaul ist nichts wert, wenn der Inhalt mau ist. Kann „Kafari“ also überzeugen? Nun, Freunde von Sigur Rós und Co. dürften auch beim Zweitwerk von Lockerbie gern mal ein, zwei Ohren riskieren, denn auch 2015 liegt das, was die in Hafnarfjörður/Reykjavík da in ihren zehn neuen Stücken anbietet, klanglich nah beim musikalischen Output der großen Vorbilder. Poppige Melodien treffen auf postrockige Instrumentalelemente treffen auf vermehrte Elektronik treffen auf einen insgesamt erwachseneren Gesamtklang. Klar findet der findige Hörer hier viele vermeintliche „Island-Sound“-Klischees bestätigt. Ist ja auch nichts Schlechtes dran. Und wer Gefallen an „Kafari“ gefunden hat, der kann der Band via Crowdfunding helfen, die Vinylveröffentlichung auf die Beine zu stellen.
Und bevor mir jetzt noch jemand gezieltes Bashing einer Stadt in Nordostwestfalen unterstellt – hier mal eine kleine Liste berühmter Söhne und Töchter Bielefelds: Friedrich Wilhelm Murnau („Nosferatu“), Hannes Wader, Bernhard Schlink („Der Vorleser“), Hera „Superweib“ Lind, Ingolf Lück, Oliver Welke, Ralph Ruthe, Lena Gössling, Casper – hat ja schon fast isländische Qualitäten, dieses Bielefeld…
Hier gibt es „Kafari“ im Stream…
…und das Titelstück samt dazugehörigem Musikvideo, für das sich der französische Regisseur Timothée Lambrecq verantwortlich zeichnete:
Rock and Roll.