Fragt man einen Meteorologen, so wird dieser wohl antworten, dass der Juni 2003 der heißeste sechste Kalendermonat seit 1901 war. Ich selbst erinnere mich vor allem an diesen Monat, weil ich damals zum ersten Mal „De-Loused In The Comatorium„, das Debütalbum von The Mars Volta, in meinen Händen halten durfte (ja, ich erinnere mich selbst daran, wann und wo ich es gekauft habe!). Heute, fast zehn Jahre später (Zehn Jahre? ZEHN Jahre?!?), liegt mir dieses Album noch immer sehr am Herzen. Ich würde sogar so weit gehen, es in seinem Facettenreichtum, seiner Tiefe, seiner Schwere, seiner Verspieltheit also das „The Wall“ meiner Generation zu bezeichnen. Denn egal, welch‘ monströsen Open der Bandrumpf um den virtuosen, höchst eigenen Gitarristen Omar Rodriguez-López und den Gesangsderwisch Cedric Bixler-Zavala danach noch veröffentlichte – und bei den nachfolgenden fünf Alben war Einiges an klanglicher Anstrengung dabei -, ihr 60-minütiges „Opus Magnum“, welches sich konzeptionell um eine Figur namens Cerpin Taxt und dessen Erlebnisse im durch eine Morphium-Überdosis verursachten Koma dreht (die traurige Inspiration dazu lieferte der Tod des aus El Paso, Texas stammenden Künstlers Julio Venegas, einem Freund Bixler-Zavalas, im Jahr 1996), konnten sie danach nicht mehr übertreffen. Dafür erforschten sie weiter einen Klangkosmus, dem das anfänglich noch überschaubar zusammengezurrte Rockmusikgestell schon bald zu eng wurde, dehnten ihn in Richtung Progressive Rock, Punk, Elektronik, Latin, Jazz oder Post-Hardcore aus, nahmen um sich herum in regelmäßigen Abständen einen munteren Austausch der Mitmusiker vor (Wikipedia zählt ganze 21 Musiker, die bisher bei und für The Mars Volta gespielt haben!) – und entfernten sich selbst immer mehr voneinander. Klar kommt so etwas selbst „in den besten Familien“ vor. Und dennoch ist es schade, dass diese beiden musikalischen Querdenker, die zuvor – und bereits seit Anfang der Neunziger – bei den legendären Post-Hardcore-Rockern von At the Drive-In für Furore und frenetisch wirbelnde Moshpits gesorgt hatten, nun nicht mehr sind, denn Bixler-Zavala gab heute mit einer Menge Bitterkeit zwischen den Zeilen das Aus für The Mars Volta via Twitter gekannt:
„Soll ich mich benehmen wie eine neumodische Hausfrau und einfach dabei zuschauen, wie mein Partner mit anderen Bands vögelt? Wir schulden es den Fans zu touren (…) Ich kann hier nicht rumsitzen und länger so tun, als wäre nichts. Ich bin nicht mehr Mitglied von Mars Volta.“
Natürlich kann man den Grund für den Split bei Rodriguez-López‘ vielen Nebenbetätigungsfeldern und -projekten suchen – der Mann hat zwischen 2004 und 2013 immerhin rund 30 (!) Soloalben veröffentlicht (von Kollaboration man ganz zu schweigen), und mit Bosnian Rainbows immerhin ein veritables und vielversprechendes neues Bandprojekt in den Startlöchern. Eventuell lag es jedoch auch ein wenig daran, dass Sänger Cedric Bixler-Zavala selbst in letzter Zeit mehr Energie in seine Zugehörigkeit zur L. Ron Hubbard-Sekte Scientology investierte denn in die Musik…
Tausend potentielle Gründe, die noch auf ein Statement des Gitarristen warten und immer auf’s Gleiche hinaus laufen: The Mars Volta sind nun, wie bereits ihre Vorgängerband At the Drive-In (die für die letztjährige Festivalsaison und einige wenige Konzerte ein kurzes Live-Comeback feierten) Musikgeschichte. Schade, denn beim 2012 erschienenen sechsten Album „Noctourniquet“ zeigte die zum Qualitätsmesser umfunktionierte „Pommesgabel“ nach einigen mittelprächtigen Veröffentlichungen wieder überzeugt gen Himmel. Immerhin wird „De-Loused In The Comatorium“ als ewig turmhohes Vermächtnis bleiben. Viele Bands lösen sich nach weitaus weniger Erreichtem auf…
Wenn ich heute noch manchmal „De-Loused…“ durch die Ohrmuscheln rauschen lassen, bin ich wieder in diesem Sommer im Jahr 2003, fühle die Hitze, die Aufregung der Post-Abitur-und-Schul-Zeit, all die Verlockungen des Neuen, des Ungewohnten, des Ungehörten. Alles ist so vertraut, und neu zugleich. Alles ist Ruhe. Alles ist Euphorie…
Davon, dass The Mars Volta zu beinahe jeder Zeit ihres Bestehens eine gleichzeitig fantastische und kompromisslose Live-Band waren, durfte ich mich glücklicherweise selbst überzeugen (allen anderen sei etwa das 2005 erschienene Live-Album „Scabdates“ empfohlen). Diese 2003 mitgeschnittene Live-Version von „Cicatriz Esp“, dem wohl besten Song von „De-Loused…“, bringt diesen Fakt annähernd rüber:
Aber auch danach legten The Mars Volta keinesfalls minderwertige Songs vor, wie diese Beispiele…
…oder die „Abbey Road Session“ zeigen:
P.S.: Die Wulffs, die Van Der Vaarts, die Mars Voltas – der Januar scheint auch in diesem Jahr für viele Langzeitbeziehungen ein guter Monat zu sein, um mit unliebsam gewordenen „Altlasten“ zu brechen. Dieser Tradition folgt, wie’s ausschaut, auch Islands bekannteste Band Sigur Rós, die die Trennung von Keyboarder Kjartan Sveinsson, welcher immerhin seit 1998 zur enigmatischen Erfolgskollektiv gehörte, heute „semi-offiziell“ bekannt gaben und fortan als Trio weitermachen werden.
Rock and Roll.