Wie versprochen nun ANEWFRIENDs „Album des Jahres“, welches zwar bereits 2011 erschien und auch im letzten Jahr einen der vorderen Plätze in meinen Jahresbestenlisten belegte, jedoch erst in diesem Jahr so richtig „gezündet“ hat…
La Dispute – Wildlife (2011)
-erschienen bei No Sleep/Cargo-
Die Jugend ist eine aufregende, jedoch keinesfalls eine einfache Zeit. Dinge passieren – mit einem selbst, im eigenen Umfeld und auf der Welt – die man einfach nicht versteht. Wieso halten Lehrer wie Eltern einem scheinbar ständig Moralpredigten über die Wichtigkeit von Zeugnissen, Leistungen und gutem Benehmen, wenn doch ein aufregendes Leben fern von Schulbänken und Universitätshallen ein vielversprechenderes Licht wirft? Wieso ticken unscheinbare Menschen offensichtlich grundlos von einer Sekunde auf die andere aus und laufen blutig Amok? Wieso sterben Freunde, die noch nicht einmal ihren zwanzigsten Geburtstag feiern durften? Tausend Fragen, nicht genügend Antworten, endlos lange Sommer, und irgendwo am Horizont die dumpfe Vorahnung vom grauen Rattenrennen der Erwachsenenwelt…
Auch Jordan Dreyer macht sich so seine Gedanken über das Leben und das eigene Umfeld. Unser Glück: seit 2004 vertont er diese Gedanken, die scheinbar schneller von Hirn und Mund in seine Notizbücher wandern, als dass irgendjemand, geschweige denn er selbst, alles erfassen würde oder könnte, mit seiner Band La Dispute. Die aus Brad Vander Lugt, Chad Sterenberg, Kevin Whittemore und Adam Vass bestehende Instrumentalfraktion liefert den musikalischen Unterbau, welcher für sich allein genommen bereits interessant genug wäre, und der „Sänger“ Dreyer schleudert der stetig wachsenden Hörerschaft Zeile um Zeile, Geschichte um Geschichte entgegen. Und die haben es auf La Disputes 2011 erschienenen Zweitwerk „Wildlife“ durchaus in sich: eingefasst werden die einzelnen Geschichten in die Stücke „a Departure“, „a Letter“, „a Poem“ und „a Broken Jar“, welche Dreyers nicht selten tragischen Alltagsbeobachtungen immer wieder mit vermutlich persönlichen Bezügen in die Parade fahren. Anders könnte man all die tragischen Schicksale, die sich wohl in der Heimatstadt der Band, Grand Rapids/Michigan, ereigneten, jedoch in ihrer dramatischen Allgemeingültigkeit überall hätten passieren können, auch nicht aushalten. Da wäre das Krebsschicksal eines siebenjährigen Kindes in „I See Everything“, welches die Eltern anhand von kurzen Tagebucheinträgen dokumentieren, familiärer Mord und Totschlag in „Edward Benz, 27 Times“, der ebenso dramatische wie hollywoodreife blutige Amoklauf eines jungen Mannes in „King Park“. Und dazwischen: tristes Einheitsgrau, wenig Liebe, wenig Hoffnung, noch weniger Perspektiven. Dreyer zweifelt, bangt, schreibt gar von ewig schrumpfenden Herzen („all our bruised bodies and the whole heart shrinks“). Dreyer beobachtet, analysiert blitzschnell, hinterfragt, urteilt jedoch selten – das überlässt er den Ohren und Köpfen seiner Hörer. Denn viel Sinn macht es tatsächlich nicht, wenn Unbeteiligte in Tragödien hineingerissen werden, wenn Kinder Krankenhausflure besser kennen als Spielplätze, wenn guten Menschen weniger Liebe zuteil wird als schlechten. Dass der Hörer nach 58 – zumindest lyrisch – wahnwitzig harten Minuten „Wildlife“ nicht erschrocken zur Seite legt, sondern den Finger schlagartig in Richtung der Repeat-Taste bewegt, liegt auch an den beiden letzten Songs, „all our bruised bodies…“ und „You and I in Unison“: der Sänger versichert allen, die ähnlich fühlen wie er: ihr seid nicht allein. „Tell me what your worst fears are. I bet they look a lot like mine. / Tell me what you think about when you can’t fall asleep at night. / Tell me that you’re struggling. Tell me that you’re scared. No, Tell me that you’re terrified of life. / Tell me that it’s difficult to not think of death sometimes. / Tell me how you lost. / Tell me how he left. Tell me how she left. / Tell me how you lost everything that you had. / Tell me that it isn’t ever coming back. / Tell me about God. Tell me about love. / Tell me that it’s all of the above. / Say you think of everything in fear. / I bet you’re not the only one does.“
Es geht ein Ruck durch die Jugend, eine, die sich sehr wohl Gedanken um eine Zukunft fernab von „Generation No Future“ macht, die politische wie gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen ängstigen, die sich bewusst ist, welche Kraft die 99,9 Prozent haben. Und Dreyer verspricht zum Schluss: „Until I die I will sing our names in unison.“ Doch La Dispute sind keinesfalls eine Einzelerscheinung. Bereits seit einiger Zeit tun es ihnen Bands wie Pianos Become The Teeth, Touché Amoré, Defeater oder Make Do And Mend gleich – bleiche junge Männer, die harte, gitarrengetriebene Musik spielen und sich in den Texten Gedanken über das Leben und Erwachsenwerden machen. Traurige, wilde Augen, Hornbrillen, Grunge-Enzyklopädien und die kompletten Diskographien von Bands wie Fugazi oder At The Drive-In. Von der Musikpresse wurden diese Gruppen, die auch schon mal gern gemeinsam auf Tournee gehen, kurz wie knapp unter das Banner der „The Wave“-Bewegung gesteckt. Doch wo die anderen Bands fast durchgängig mit zwei Beinen fest im modernen Hardcore stehen, lassen La Dispute wie bereits auf dem 2008 erschienenen Vorgänger „Somewhere At The Bottom Of The River Between Vega And Altair“ auch kleinere Experimente zur Studiotür hinein, lassen Akustikgitarren zu, ebenso wie Rhythmus- und Perkussionswechsel, spielen lieber melodische Gitarrenlinien und schnelle Blues-Solos, anstatt beständig hart Riff um Riff in die Bänder zu hacken. Jordan Dreyer gestaltet dazu seine Wortsalven mal bedächtig langsam, mal so schnell und laut, dass man kaum hinterherkommt, und auch seine Stimme geht an ihre Grenzen.
Natürlich ist „Wildlife“ kein einfacher Tobak. Es ist ein Werk von großer Relevanz, eben weil diese Geschichten so bewegend, wahr und universell sind, eben weil sich Geschichten wie in „King Park“ leider immer und immer wieder wiederholen (man denke nur an das Massaker vom 14. Dezember im kleinen US-Städtchen Newtown), eben weil Dreyer ein so brillianter Beobachter und Songwriter ist, eben weil seine Bandkollegen das musikalische Drumherum so groß gestalten. „Wildlife“ ist eine wahre Tour der Force, ein betongrauer Roadtrip in 14 Akten, eines der besten Konzeptalben seit Langem. „Wildlife“ legt die salzigen Finger in eben jene Wunden, welche ohnehin bereits am meisten wehtuen. Und es ist trotzdem schön. Denn „Wildlife“ feiert das Leben, indem es zweimal hinsieht.
Hier kann man sich das Album in Gänze anhören (es ist wie alle anderen Veröffentlichungen der Band über deren Bandcamp-Seite abrufbar)…
…und hier einen während der „Audiotree Live Session“ aufgenommenen Mitschnitt des Songs „Edward Benz, 27 Times“ anschauen:
Rock and Roll.
[…] Intensitätskerze abfackeln kann wie auf dem 2011 erschienenen Post Hardcore-Meilenstein “Wildlife“… Zu wünschen wäre aus der Band aus Grand Rapids, Michigan in jedem […]
[…] kritischer aufgelegten Gehörgängen der Musikjournalie punkten konnten, so war es doch “Wildlife“, der zweite, 2011 erschiene La Dispute-Langspieler, welcher besonders überraschte. Und das […]
[…] und – vor allem – im 2011 veröffentlichten Screamo-Storytelling-Kleinod “Wildlife” häuslich einrichten konnten, dürfte auch der Umzug ins neue Band-Domizil alles andere als […]
[…] wir’s unter “im Eifer für die Musik”). Vorschnell? Nope, keineswegs. Denn “Wildlife“, eben jenes Album der fünf bleichen Schlakse von La Dispute, war zwar im Gros ähnlich […]
[…] “Wildlife“, La Disputes zweites, 2011 erschienenes Album, brauchte wahrlich keine Wiederholung, immerhin lieferte die Post Hardcore-Band aus Grand Rapids, Michigan bereits damals ihr Meisterwerk ab, in welchem sie die instrumental-brachialen Tour-de-Force-Rhythmen der Band mit der stellenweise brillanten und noch viel öfter erschütternden Alltagsbeobachtungslyrik von Sänger und Frontmann Jordan Dreyer zu einem wahnhaft faszinierenden einstündigen Albummonolithen verband. Der Nachfolger “Rooms Of The House” gibt sich da – sowohl musikalisch als auch textlich – weitaus differenzierter, stellenweise gar zurückgenommener und introspektiver. Dreyers Musik gewordene Geschichten scheinen wie zufällig zu Boden gefallene alte Familienfotografien, die nach langer Zeit wieder in die Hand genommen werden, und dann die ein oder andere biografische Wunde aufreißen. Und doch ist alles auf “Rooms Of The House” an seinem Platz. La Disputes drittes Album ist zwar anders als noch “Wildlife”, jedoch kaum weniger faszinierend. […]